Lichtungen erzählt die Geschichte von Lev und Kato. Beide sind in einem Dorf in Nord-Siebenbürgen aufgewachsen, in der Nähe von Bistritz. Kato ist seltsam und anders, lebt mit ihrem Vater in einem unaufgeräumten Haus, das in einem verwilderten Garten steht. Eine Mutter ist nicht da. Lev erlitt einen Unfall und kann die Beine nicht mehr bewegen, nicht mehr belasten, und als der Lehrer entscheidet, daß ihm, dem Bettlägerigen, jemand Tag für Tag die Hausaufgaben vorbeibringen solle, hofft Lev, es möge nicht die Seltsame sein. Aber natürlich ist sie es.
Ein paar Wochen später freut sich Lev auf nichts mehr als auf die täglichen Stunden mit Kato, und eines Nachts richtet er sich aus Angst um sie auf, steht wieder auf seinen Beinen, zittrig zwar, aber die Liebe vermochte es. Zig Jahre später, nach dem Systemsturz in Rumänien, wird Lev Kato in Zürich wiederfinden. Dort malt sie mit Kreide Gemälde auf die Straße und lebt davon. Aber dann brechen sie zusammen auf und fahren mit Katos Wohnmobil durch Frankreich, die Küste hinunter.
Von der Atmosphäre dieser Fahrt erzählt Wolff im ersten Kapitel ihres Romans, von der frühesten Kindheitserinnerung im letzten. Wolff erzählt rückläufig, von der Genesung im drittletzten, vom Unfall im vorletzten Kapitel. Man erfährt also immer erst später, was Voraussetzung und Anlaß für dies oder das hätten sein können, das gerade erzählt worden ist. Das ist erzählerisches Auslichten: Das Leben ist jetzt eben so. Warum es so geworden ist, das kann man nicht schlüssig berichten. Es lichtet sich etwas, wenn man einschlägige (auch dies ein Waldarbeiterwort) Erlebnisse erzählt, natürlich. Aber stringent wird ein Lebenslauf dadurch nicht.
Es gibt eine seltsamerweise auch unter uns fast vergessene Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte, die der Historiker Hellmut Diwald verfaßte und die 1978 erschien. Diwald erzählt gegenchronologisch. Seine Geschichte der Deutschen beginnt mit dem Kalten Krieg und klingt mit Heinrich I. aus. Erhellend sind Diwalds Gründe für dieses ungewöhnliche Vorgehen. Der wichtigste lautet: Indem man rückläufig erzähle, löse man den kausalen Zusammenhang zwischen früheren und späteren Ereignissen, räume also mit dem weitverbreiteten Vorurteil auf, daß aus einem bestimmten A stets dieses B und am Ende dieses Z entstehe, aus Luther also Bismarck, aus beiden dann Hitler, zwingend.
In Diwalds Geschichtserzählung und in Wolffs Roman gibt es keine Schuldzuweisungen und keine Folgerichtigkeit der Entwicklung. Es kam so, es hätte auch anders kommen können. Das nimmt Wolffs Roman alles Psychologische und Traumatische, nicht aber die Herkunft und das So-Sein: Natürlich sind Lev und Kato Kinder ihrer Heimat, zudem solche, die in einer besonders harten Variante des Kommunismus eingesperrt waren und denen man die Nachwendeunsicherheit anmerkt. Aber wie davon erzählt wird, das ist unpolitisch, das ist nicht pädagogisch, nicht therapeutisch, nicht rechtfertigend, es ist ohne Zielrichtung, die immer ein Fingerzeig wäre.
Rückwärts auslichten: Lev mit dem Fahrrad unterwegs durch Rumänien, mal bestohlen, mal aufgenommen, mal beschenkt, immer irgendwie auf der Suche nach Kato, die ihn soeben verließ, um mit einem Fahrradglobetrotter abzuhauen aus dem Dorf, kurz nach der Wende; Lev und Kato mit dem Auto zu Besuch bei halben Dissidenten, die einen Gasthof im Karpatenhang betreiben; Lev im Wald, mit den großen Brüdern als Waldarbeiter, die Sommermonate über, unter derben Männern; Lev mit Freunden im Fluß, Lev in der Schule, die er abbrechen wird; Lev mit dem Onkel auf Kur, verliebt, eifersüchtig; Lev gelähmt im Bett; Lev, ganz klein, an der Hand des Vaters, der wieder weg muß, in den Wald …
Man liest so einen Roman nicht, um zu erfahren, wie es in Siebenbürgen war, man liest ihn nicht, weil er lustig wäre oder furchtbar spannend oder unterhaltsam. Lichtungen hat die merkwürdige Schwere, die alle Erzählungen haben, deren Figuren herkunftsschwer sind, nicht beladen, nicht erdrückt, bloß auch nicht ohne Erinnerung, also nicht oberflächlich und gegenwartshappy, sondern mit dem Bedürfnis ausgestattet, tiefer zu wurzeln.
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Iris Wolff: Lichtungen. Roman, Stuttgart 2024. 256 S., 24 € – hier bestellen.
Maiordomus
Ist Iris Wolff allenfalls die Gattin oder sonstige Bezugsperson Ihres prima und übrigens geistig ganz unabhängigen und mutigen Uwe Wolff? Seine Beiträge im gedruckten Heft freuten mich sehr, bestätigen das weite und breite Niveau auf der Basis einer auf Grundsätzen fundierten Haltung.
Kositza: Nein!