Kallocain 1940: ein Roman prophezeit den Weltstaat

von Benjamin Kaiser -- Ob ins Extrem getriebene gesellschaftliche Zustände wie die heutige „Buntheit und Vielfalt“ sich tatsächlich dauerhaft konservieren lassen?

Das war und ist eine zen­tra­le Fra­ge, der die schwe­di­sche Schrift­stel­le­rin Karin Boye in ihrem 1940 ver­öf­fent­lich­ten Sci­ence-Fic­tion-Klas­si­ker Kal­lo­cain nach­ging, einem wich­ti­gen Vor­läu­fer­text zu Geor­ge Orwells 1984.

Haupt­fi­gur ist der Che­mi­ker Kall, ein gestan­de­ner Fami­li­en­va­ter, loya­ler Bür­ger des tota­li­tä­ren Welt­staa­tes und For­scher der Che­mie­stadt Nr. 4. Als Leser lau­schen wir stau­nend sei­nem inne­ren Mono­log, den er bestän­dig vor uns und sich selbst zen­siert, um nur ja nicht aus dem engen Kor­sett des gedank­lich Erlaub­ten auszubrechen.

Kall (das heißt im Schwe­di­schen so viel wie „kalt“ oder „gefühl­los“) ent­wi­ckelt nach lang­jäh­ri­ger For­schungs­ar­beit die Wahr­heits­dro­ge Kal­lo­cain, die jeden, dem sie inji­ziert wird, dazu zwingt, vor­be­halt­los all sei­ne Gedan­ken, Gefüh­le, ja sein gesam­tes Innen­le­ben zu offen­ba­ren. Als gel­tungs­süch­ti­ger Mensch brennt er nun dar­auf, sei­ne Erfin­dung zur Anwen­dung zu brin­gen und in den Dienst des Welt­staa­tes zu stel­len, so daß etwa höhe­re Staats­äm­ter nur nach einer Befra­gung unter Ein­fluß der Dro­ge ver­ge­ben wer­den kön­nen. Damit soll aus­ge­schlos­sen wer­den, daß Men­schen mit feh­len­der Loya­li­tät in höhe­re Ämter gelangen:

 „‚Ich hof­fe, daß es dem Staat zugu­te­kommt‘, sag­te ich. ‚Eine Dro­ge, die jeden Men­schen dazu ver­hilft, sei­ne Geheim­nis­se preis­zu­ge­ben, alles, was er bis­her aus Scham oder Angst in Stil­le für sich behal­ten hat.‘“

Ob die Erfin­dung einer sol­chen Dro­ge in einem Über­wa­chungs­staat auch nega­ti­ve Fol­gen haben könn­te, ist eine Fra­ge, die sich Kall zu kei­nem Zeit­punkt zu stel­len erlaubt. Er wird daher miß­trau­isch, als sein Vor­ge­setz­ter Ris­sen es wagt, die mög­li­chen Fol­gen einer sol­chen Erfin­dung mit einer spit­zen Bemer­kung anzudeuten:

„Du scheinst ja ein unge­wöhn­lich gutes Gewis­sen zu haben“, sprach Ris­sen tro­cken, „oder tust du nur so?“

Aus Kalls spär­li­chen Gesprä­chen mit sei­ner Frau Lin­da kön­nen wir erken­nen, daß auch sie deut­lich hell­sich­ti­ger ist als er und, auch wenn sie aus poli­ti­schen Grün­den meis­tens schweigt, sich des­sen bewußt ist, daß sich hin­ter der Mas­ke bra­ver Welt­staats­bür­ger nicht nur Ein­ver­ständ­nis mit der offi­zi­el­len Ideo­lo­gie verbirgt.

Das „Men­schen­ma­te­ri­al“ für die ers­te Ver­suchs­rei­he der Wahr­heits­dro­ge Kal­lo­cain stammt aus dem „Frei­wil­li­gen-Opfer-Dienst“, einer Grup­pie­rung inner­halb der Che­mie­stadt Nr. 4, der sich Bür­ger meist als Jugend­li­che nach dem Schau­en von Pro­pa­gan­da­fil­men anschlie­ßen und die sich fort­an als Ver­suchs­ka­nin­chen für wis­sen­schaft­li­che Expe­ri­men­te zur Ver­fü­gung stel­len. Sie leben nicht all­zu lan­ge, denn durch die medi­zi­ni­schen Ver­su­che, die an ihnen durch­ge­führt wer­den, tra­gen sie erheb­li­che gesund­heit­li­che Schä­den davon. Den­noch sind sie in ihrem äuße­ren Auf­tre­ten ideo­lo­gisch ganz dem Welt­staat verpflichtet.

Die ers­te Ver­suchs­per­son, an der die neue Dro­ge Kal­lo­cain getes­tet wird, ist Nr. 35. Er erscheint mit einem Arm in einer Schlin­ge im Labor und sieht nicht mehr son­der­lich gesund aus. Kall beschwert sich ent­spre­chend bei Ris­sen, er hät­te ger­ne fri­sche­res Mate­ri­al, doch die­ser erklärt ihm, es sei nie­mand mehr da: In letz­ter Zeit habe es so vie­le Expe­ri­men­te mit Gift­gas gegeben.

Unter dem Ein­fluß von Kal­lo­cain erklärt Nr. 35 zwar, er habe er sich noch nie so gut gefühlt, die Dro­ge wür­de ihn end­lich von allen inne­ren Zwän­gen befrei­en, aber es bricht auch alles ande­re her­vor: Die Angst, die Ver­zweif­lung und daß er als Ange­hö­ri­ger des „Frei­wil­li­gen-Opfer-Diens­tes“ kei­ne Frau fin­den kann. Fast schon ver­wun­dert notiert Ris­sen, daß Kall ernst­haft über die Offen­ba­run­gen von Nr. 35 ent­setzt ist, und muß inter­ve­nie­ren, damit Kall die poli­ti­sche Unbot­mä­ßig­keit, die Nr. 35 unter Ein­fluß der Wahr­heits­dro­ge äußert, nicht der Poli­zei meldet.

Wäh­rend die Fol­ge­inter­views wei­test­ge­hend ähn­lich ver­lau­fen und Ris­sen Mel­dun­gen durch Kall wei­ter­hin ver­hin­dern kann, kommt es schließ­lich zu einer fol­gen­schwe­ren Äuße­rung einer Ver­suchs­per­son. Nun setzt sich Kall durch und schal­tet doch die Poli­zei ein.

Unver­ständ­li­che Infor­ma­tio­nen sind durch­ge­drun­gen, eine der Ver­suchs­per­so­nen hat zuge­ge­ben, daß mys­te­riö­se Men­schen­grup­pen zusam­men­kom­men und bei ihren Tref­fen nur schwei­gen. Weder Kall noch die Poli­zei kön­nen sich einen Reim dar­auf machen: Men­schen, die ein­fach nur zusam­men­sit­zen und kein ein­zi­ges Wort mit­ein­an­der sprechen:

„Eine ande­re Per­son, eben­falls eine Frau, konn­te uns schließ­lich ein paar Namen nen­nen. Wir dach­ten daher, wir könn­ten sie wegen der Fra­ge, was für eine Orga­ni­sa­ti­on hin­ter all dem ste­cke, beson­ders unter Druck set­zen. Ihre Ant­wort war genau­so ver­wir­rend wie die der anderen.

‚Orga­ni­sa­ti­on?‘, frag­te sie. ‚Wir stre­ben kei­ne Orga­ni­sa­ti­on an. Was orga­nisch ist, muß nicht orga­ni­siert wer­den. Ihr baut von außen, wir wer­den von innen gebaut. Ihr habt mit euch selbst gebaut, als wärt ihr Stei­ne und zer­fallt von außen, nach innen. Wir sind von innen her­aus gebaut, wie Bäu­me, und zwi­schen uns wach­sen Brü­cken, die nicht aus toter Mate­rie und totem Zwang bestehen. Aus uns geht das Leben­di­ge her­vor. Durch euch dringt das Leb­lo­se ein.‘“

Am Ende ist es die Ehe­gat­tin des Prot­ago­nis­ten Kall, die erkennt, daß der tota­le Staat und die von ihm kon­ser­vier­te gesell­schaft­li­che Uto­pie nur äußer­lich unbe­sieg­bar, inner­lich jedoch jeder­zeit vom Ein­sturz bedroht sind, denn die Mas­se der Men­schen lehnt den tota­len Staat bewußt oder unbe­wußt ab.

Für Boye sind somit künst­lich geschaf­fe­ne, ins Extrem getrie­be­ne gesell­schaft­li­che Zustän­de – die sich nur noch mit­tels staat­li­cher Gewalt und Mani­pu­la­ti­on auf­recht­erhal­ten las­sen – eine wesent­li­che Ursa­che für das Ent­ste­hen tota­li­tä­rer Sys­te­me. Je extre­mer ein gesell­schaft­li­cher Zustand ist, je wei­ter er sich vom Natur­recht ent­fernt hat, des­to grö­ßer ist der Auf­wand, den der Staat betrei­ben muß, um die­sen Zustand „gesell­schaft­li­cher Uto­pie“ zu konservieren.

Auch das gegen­wär­ti­ge „bun­te und viel­fäl­ti­ge“ Uto­pia der Bun­des­re­pu­blik sieht sich trotz oder gera­de wegen sei­ner laut­stark pro­pa­gier­ten „frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung“ zuneh­mend die­sem Dilem­ma aus­ge­setzt. Das Pen­del ist nach jahr­zehn­te­lan­ger Vor­ar­beit ins kul­tur­mar­xis­ti­sche Extrem aus­ge­schla­gen; nun möch­te die Gesell­schaft in ihrer natür­li­chen Träg­heit in die ande­re Rich­tung zurück – und schon wird das Gegrö­le Besof­fe­ner zum Fall für den Staatsschutz.

Für die Kon­ser­vie­rung einer gesell­schaft­li­chen Uto­pie ist also auch die Len­kung der Gedan­ken und Gefüh­le erfor­der­lich. Ent­spre­chend preist Kall sei­ne Erfin­dung auf den ers­ten Sei­ten des Romans gegen­über der Haus­häl­te­rin der Fami­lie, die ihn gleich­zei­tig offi­zi­ell im Auf­trag des Welt­staa­tes aus­spio­niert, an:

 „Gedan­ken und Gefüh­len gebä­ren Wor­te und Taten. Wie könn­ten dem­nach Gedan­ken und Gefüh­le die pri­va­te Ange­le­gen­heit des Ein­zel­nen sein? … Wem gehö­ren also die Gedan­ken und Gefüh­le, wenn nicht dem Staat?“

Ähn­lich beschrieb auch Geor­ge Orwell die­ses Phä­no­men im Mai 1941 in sei­ner Sen­dung „Lite­ra­tur und Tota­li­ta­ris­mus“; näm­lich, daß

tota­li­tä­re Staa­ten stets dar­auf ziel­ten, mit allen Mit­teln die Gedan­ken und Gefüh­le ihrer Bewoh­ner min­des­tens genau­so durch­grei­fend zu kon­trol­lie­ren, wie ihre Handlungen.

Und so zeigt sich auch heu­te bei dem Ver­such, das umschwen­ken­de  Pen­del auf­zu­hal­ten, daß der Staat zuneh­mend nicht nur im Hin­blick auf die äuße­re Hal­tung, son­dern vor allem bezüg­lich der Gesin­nung wis­sen möch­te, ob der Bür­ger der zu kon­ser­vie­ren­den Uto­pie loy­al gegen­über­steht. Sym­pto­ma­tisch hier­für ist die Ver­wi­schung der Unter­schie­de zwi­schen Wor­ten und Taten durch sprach­li­che Kon­struk­te wie „Haß­re­de“, was vor deut­schen Gerich­ten die absur­de Situa­ti­on schuf, dass die fal­sche Mei­nung zur sprach­li­chen „Gewalt“ wur­de und immer öfter här­ter bestraft wird, als die tat­säch­li­che Gewalttat.

Daß Boye als eine der ers­ten beken­nen­den Les­ben des 20. Jahr­hun­derts einen Kult­sta­tus in der „Gen­der­for­schung“ genießt, soll­te übri­gens nicht von der Lek­tü­re ihres bedrü­ckend-genia­len Romans abhal­ten. Im Gegen­teil. Kal­lo­cain ent­stand nach Besu­chen in der Sowjet­uni­on und dem natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deutsch­land. Bei­de Erfah­run­gen waren für Kal­lo­cain entscheidend.

Wäh­rend Boye die Sowjet­uni­on als jun­ge Sozia­lis­tin besuch­te und zutiefst des­il­lu­sio­niert wie­der ver­ließ, müs­sen die Mas­sen­spek­ta­kel des Natio­nal­so­zia­lis­mus in Deutsch­land sie, die mit einer deut­schen Jüdin zusam­men­leb­te, auf eine ande­re Art fas­zi­niert haben. Ihre Bio­gra­phin Mar­git Abe­ni­us beschreibt den Besuch einer Goe­ring-Rede im Sportpalast:

„Scharp schau­te Karin dabei zu, wie sie mit aus­ge­streck­tem Arm kom­plett fas­zi­niert dastand und den Hit­ler­gruß machte.“

Spä­ter schrieb sie über die­se Erfah­rung, die erup­ti­ven poli­ti­schen Gefüh­le hät­ten „ner­vö­se Kri­sen in jun­gen Men­schen aus­ge­löst.“ Und ähn­lich wie das im Roman beschrie­be­ne Wach­sen von innen her­aus, bestritt Boye spä­ter, Kal­lo­cain „geschrie­ben“ zu haben, viel­mehr sei der Roman durch sie hin­durch geschrie­ben wor­den, sie habe sich bei der Nie­der­schrift als „Emp­fan­gen­de“ erlebt.

Kal­lo­cain steht gemäß der offi­zi­el­len Lite­ra­tur­wis­sen­schaft in der Rei­he der gro­ßen „post-christ­li­chen Sci­ence-Fic­tion-Roma­ne“ (Eri­ka Gott­lieb), der soge­nann­ten Dys­to­pien, in denen die christ­li­che Fra­ge ewi­ger Erlö­sung oder Ver­damm­nis zur welt­li­chen Fra­ge gewor­den ist. Ange­fan­gen mit dem 1924 das ers­te Mal in west­li­che Spra­chen über­setz­ten Roman Wir von Jew­ge­ni Sam­ja­tin, der die Uto­pie des real exis­tie­ren­den Kom­mu­nis­mus der Sowjet­uni­on ins Dys­to­pi­sche über­setz­te, gefolgt von Aldous Hux­leys Schö­ne neue Welt (1932) und Geor­ge Orwells 1984 (1949), weist Boyes Roman aber über all das hinaus.

Boye, die als eine der bedeu­tends­ten schwe­di­schen Schrift­stel­le­rin­nen gilt (immer­hin wur­de auf der Venus ein Kra­ter nach ihr benannt), erleb­te bereits als Schü­le­rin eine Wand­lung vom Bud­dhis­mus zum Chris­ten­tum. Damit hader­te sie aber auf­grund ihrer Homo­se­xua­li­tät ihr Leben lang, was zu inne­ren Kon­flik­ten führ­te, die sie in zahl­rei­chen Gedich­ten ver­ar­bei­te­te. An ihre Freun­din Agnes Fel­le­ni­us schrieb sie, gefan­gen in die­sem für sie unlös­ba­ren Konflikt:

„Ich glaub­te, die Welt in einem neu­en Licht zu sehen – im Zei­chen des Kreu­zes, des stell­ver­tre­ten­den Lei­dens. Got­tes Kreuz erstreckt sich durch alle Zeit­al­ter und jeden Raum. Und was ist die hei­li­ge Kom­mu­ni­on ande­res als eine Initia­ti­on ans Kreuz, die neue Ver­ei­ni­gung mit Gott: Man initi­iert sich selbst, um anschlie­ßend um Sei­net­wil­len einen Teil Sei­nes ewi­gen Lei­dens auf sich zu neh­men – um Got­tes Kampf in der Welt zu kämp­fen: Das ist mit gro­ßem Schmerz verbunden.“

Und nein, eine offen christ­li­che Bot­schaft kennt Kal­lo­cain nicht und doch ist da sub­ku­tan mehr, als der Ein­zel­ne vor die Wahl gestellt wird, ent­we­der sich anzu­pas­sen und jeg­li­ches Eigen­sein der gesell­schaft­li­chen Uto­pie zu opfern oder aber den Weg der Dis­si­denz zu gehen und dabei sein Leben zu las­sen: Es ist eben­falls von einer Initia­ti­on die Rede. Denn da in einem Staat, der selbst über die Ein­hal­tung des kor­rek­ten Den­kens wacht, die Innen­welt kein Flucht­ort mehr ist, bleibt dem Men­schen nur noch die geis­ti­ge Stil­le. Und es erin­nert an den mit­tel­al­ter­li­chen Mys­ti­ker Hein­rich von Seu­se, daß nur aus dem Gelas­sen­sein in der Stil­le eine neue Sicht auf die Welt ent­ste­hen kann, die alle Fes­seln sprengt.

Und so spre­chen die unter Ein­fluß der Dro­ge befrag­ten Welt­staats­bür­ger davon, daß ihnen aus der Erfah­rung der Stil­le her­aus eine Initi­ie­rung wie­der­füh­re, die sie die Din­ge anders sehen läßt und sie in einen geis­ti­gen Erkennt­nis­stand „erwa­chen“, der aus Sicht des Staa­tes irrever­si­bel ist:

 „‚Du hast von Initia­ti­on gespro­chen‘, ant­wor­te­te Ris­sen der Frau, ohne auf mich zu ach­ten. ‚Wie wer­den Men­schen initiiert?‘

‘Ich weiß nicht. Es geschieht ein­fach. Plötz­lich, und dann bist du es. Die ande­ren mer­ken es, die auch Eingeweihten.“

‚Also kann jeder daher­kom­men und sagen, er sei ein­ge­weiht? Es muß doch ein Ritu­al geben, eine Zere­mo­nie – gibt es kei­ne Ein­wei­hung in irgend­wel­che Geheimnisse?‘

‚Nein, nichts der­glei­chen. Das ist etwas, das du von selbst bemerkst, ver­stehst du? Denk dir das so: Ent­we­der man ist es oder man ist es nicht – und man­che Men­schen machen die­se Erfah­rung nie.‘

‚Aber wor­an merkt man es?‘

‚Nun, man merkt es in allem – beim Anblick eines Mes­sers und wenn man schläft, und wenn es einem mit hei­li­ger Klar­heit däm­mert – und vie­len ande­ren Dingen –‘“

– – –

Karin Boye: Kal­lo­cainhier bestel­len

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Kommentare (20)

Franz Bettinger

11. Juli 2024 21:14

Beim Heranziehen des Jahres 1984 begann eine Debatte darüber, welche Elemente des Buches sich als wahr herausgestellt hatten. Ein Artikel von David Goodman 1978 in 'The Futurist' nennt 137 Orwell-Prognosen, von denen 100 bis 1984 eingetroffen waren. In 2024 sind es weit mehr, so der beispiellose Einsatz von Überwachung und permanenter Krieg. Die Gender-Mode definiert Männer als Frauen, Frauen als Männer, Andersdenkende als Ketzer, Kritiker als Faschisten. Es ist bloß noch ein kleiner Schritt zu „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“, „Unwissen ist Stärke“. Da man das Buch heute nicht mehr ganz aus der Welt schaffen kann, deuten die Herrscher es um. Allerdings mit wenig Erfolg. 

Adler und Drache

12. Juli 2024 07:13

Erst Iain Banks, nun also das völlig vergessene Kallocain - ich staune!
Cool!
Was kommt als nächstes? Phil Dick?

Indigener

12. Juli 2024 10:40

Für denjenigen, der sich mit den bösartigen Geschwistern der Aufklärung beschäftigt hat, sind diese Narrative Ausschmückungen des bereits Bekannten.
 

Maiordomus

12. Juli 2024 16:14

@Bettinger. Sie sehen es richtig. Für mich war 1965 der Roman eine prägende Lektüre, projizierte jedoch den Inhalt noch zu stark auf den Sowjetkommunismus. Dabei zeigte diese in Prag 1968, dass sie es nicht konnten. Die wahre Realisierung des Romans erfolgte eigentlich erst nach 1989. Dabei wurde bereits klar, dass trotz oder gar wegen des permanenten Redens von Faschismus, was es in Deutschland gar nie gab, Umerziehung fast völlig ins Leere gegriffen hat. 

Majestyk

12. Juli 2024 18:43

Interessant. Zu den Inspirationsquellen für Orwell zählte auch James Burnham. Wenn man dessen Einfluß und den eines Leo Strauss bedenkt, weiß man warum der Zeitgeist an 1984 und auch an Gegenaufklärung erinnert.

brueckenbauer

12. Juli 2024 21:30

Wir hatten in der Schule nur "Animal Farm" - und als ich "1984" zuerst las, wurde mir klar, dass dieses Buch ja gar nicht von der Sowjetunion handelt, sondern von einem zukünftigen England, in dem die englischen Kommunisten - wie Orwell sie von der BBC her kannte - die Macht ergriffen haben.  Deshalb ist meine These auch, dass "Krieg ist Frieden, Frieden ist Krieg" auf Karl Barth zurückgeht bzw. auf das, was die BBC aus Barths Texten und Gesprächen machte (Barth wurde erst durch die BBC zum führenden Kriegstheologen der Alliierten)..

Laurenz

12. Juli 2024 21:32

BK hat leider nicht geschrieben, wie sich das Buch liest, ein Mangel, der bei EK-Besprechungen selten vorkommt. Die Deutschen Übersetzungen Orwells gingen so. Schon fatal, weil gute Sprache den Leser durch düstere Inhalte ziehen muß. 1984 las ich Anfang der 80er im Deutsch-Unterricht. Wer hat wirklich die Mio. Auflagen gelesen oder nur zuhause im Schrank stehen? Wir sind im SiN-Forum nicht in der Lage, solche Bücher an der Realität zu messen. Entscheidend ist hier die Realität der Untertanen. Die Kommentatoren hier sind nicht bereit, den linken Unfug, den sie hier schreiben, auch zu verantworten. Wenn manchem Kommentator hier die Argumente ausgehen, sich seine Lebenslügen offenbaren, wird die Packung Tempo ausgepackt & man verbittet sich Invektiven. Wenn es denn welche wären. Schreibe hier schon mit Samthandschuhen. Die Redaktion kann sich natürlich keine harten Konflikte erlauben, jeder Kunde zählt, was beweist, wie klein wir als Minderheit des NeuRechten Geisteslebens sind. Es beweist ebenso unseren Narzißmus, weil wir von uns wenigen auf andere schließen, ein völliges Fehlurteil. Gerade in Anbetracht dieser BK-Buchpräsentation dürfen wir uns zugute halten, daß unser Bedarf an Freiheit, allerdings nur exklusiv, über das materielle Sein hinausgeht. Aber im letzten HB-Artikel wurde offenbar, daß man die Realität der Massen weder wahrhaben noch sehen will. Ernüchternd, was unsere Debattenkultur angeht.

t.gygax

13. Juli 2024 07:08

@Brückenbauer
"Karl Barth-Kriegstheologe der Alliierten" .Zugespitzt formuliert,aber wahr.Barth als neutraler Schweizer war ein Deutschenhasser ,was ihn nicht hinderte, von den unterwürfig gemachten Deutschen Geld und Ehrungen anzunehmen .

Mitleser2

13. Juli 2024 08:32

@Laurenz: Was ist die "Realität der Massen"? Den Rubikon nicht überschreiten zu können? Zumindest Pol Pot, Mao und die Jakobiner haben es geschafft. Geht natürlich nicht mit "Demokratie". Andererseits hätte ich unter deren Resultaten nicht leben mögen. Bin da auch ratlos. Und in der aktuellen Politik läuft es auf CDU+BSW hinaus. Schöne Reinwaschung der SED.

Le Chasseur

13. Juli 2024 09:56

@Franz Bettinger
"Die Gender-Mode definiert Männer als Frauen, Frauen als Männer, Andersdenkende als Ketzer, Kritiker als Faschisten. Es ist bloß noch ein kleiner Schritt zu „Krieg ist Frieden“, „Freiheit ist Sklaverei“, „Unwissen ist Stärke“."
Also ich finde, wir haben diesen Punkt schon erreicht.

Franz Bettinger

13. Juli 2024 10:36

@Chasseur: Sie haben recht, "... und Armut ist Glück". Klaus Schwab: "Ihr werdet nichts besitzen und glücklich sein."

Laurenz

13. Juli 2024 11:00

@Mitleser2 @L. ... wie Sie am Beitrag von @Le Chasseur @Franz Bettinger festmachen können, bietet eine Parteien-Oligarchie, wie wir sie haben, keine Garantie für Freiheit, ja kaum Unterschied zum historischen DDR-Regime. Wir sind jetzt nur virtueller als seinerzeit. Wahlen mit 2+ Optionen haben den Vorteil Stimmungen ablesen zu können. Um gesunde politische Einschätzungen auf der SiN vornehmen zu können, müssen wir uns von unseren Befindlichkeiten mehr trennen & 200 - 2.000 Jahre alte Propaganda von uns abschütteln & uns den Fakten zuwenden. Die kulturelle Unterschiede, zB zur USA, sind zwar festzustellen, bleiben im Ergebnis aber meist belanglos. Im Freiheitsbegriff der Masse spielen Dissidenten keine Rolle. Anhand der Französischen Revolution, des II. Reichs, des III. Reichs, der DDR (Ostblock), des Maoistischen - & Deng'schen Chinas, des Zaristischen & Neuen Rußlands kann man den Freiheitsbegriff der Masse genau eingrenzen. Er besteht aus 3 Faktoren. 1. Reisefreiheit 2. Wohlstand 3. Privateigentum. Alle anderen Faktoren, zB Charisma, dienen nur der Verschleierung politischer Propaganda-Interessen. Um mich auf @RMH zu beziehen, besitzen die Bürger des Deng-Chinas, des Putin-Rußlands Reisefreiheit. Im Ausland dürfen sie all die Publikationen kaufen, die zuhause verboten sind. Die Geheimpolizei-Dienste dienen vor allem dazu, Opposition im Inneren, meist finanziert vom Ausland, platt zu machen. Wir haben hier keine 5 Mio. Chinesischen Asylanten (1/280 Chinas). Die Chinesen besuchen Neuschwanstein & fliegen freiwillig wieder heim.

Laurenz

13. Juli 2024 11:02

@Mitleser2 @L. (2) ... Die politischen Interferenzen & Divergenzen, denen wir ausgesetzt sind, basieren also nicht auf politischen Systemen, wie Quatsch-Termini, zB der Freie Westen, sondern auf dem Angriff gegen die 3 Freiheitsfaktoren, welche Staaten instabil machen. Solange Xi & Putin diese 3 Faktoren aufrecht erhalten können, bleiben Beide im Sattel. Die kultur-marxistische Herrschaft im Westen greift uns schon seit Jahrzehnten an. Migration, Green Deal, Gender-Kacke, Klaus Schwab, usw. dienen der Auflösung aller 3 Freiheitsfaktoren. Wir wissen aus dem Kalten Krieg, daß die Auflösung der Freiheit nicht territorial begrenzt funktioniert. Deswegen greift man durch Diplomatie & Krieg stabile Staaten an. Alle Kriege, auch die Weltkriege sind davon motiviert. Politische Opposition ist meist nur darauf aus, die bisherigen Regimes zu ersetzen. Daher bleibt der Kampf eines Volkes um Reisefreiheit, Wohlstand & Privateigentum immanent permanent. Deshalb können wir uns die Debatte um systemische Fragen meist sparen.

Maiordomus

13. Juli 2024 11:02

@Sprach oben von Faschismus, den es in Deutschland bekanntlich nie gab. Aber gestern demonstrierten in Berlin 600 Politanalphabeten, die im Ernst Herrn Sellner für eine Gefahr für die Demokratie halten, selber aber so brüllten wie Bücherverbrenner von 1933. Es demonstrierten also Leute, die im Ernst von nichts eine Ahnung hatten, z.T. Minderjährige, gegen einen Mann, der gewiss nicht zu den 5 Millionen gefährlichsten Einwohnern von Europa gehört. Letzteres nicht mal als Kompliment gemeint, weil der Einfluss sich wirklich in Grenzen hält und die alten Leutlein um ihn herum auch bemitleidenswert waren, der Unterschied zu SA-Horden war wirklich krass.  Es wäre indes besser, MS würde sich nach Wien zurückziehen und dort eine Basis mit einer wenigstens minmalen Wirkung aufbauen. Die Bedeutung von Lichtmesz schätze ich aber um Welten höher ein. Wir könnten uns vielleicht über "Shining" unterhalten, dessen Hauptdarstellerin Shelley Duvall dieser Tage verstorben ist, die Rolle ihres Lebens, hat nie mehr so was hingekriegt. Man stelle sich vor, Kubricks Sippenpartner Veit Harlan würde noch leben und er wollte in Berlin einen seiner Filme vorstellen! Da würde ich den Einsatz von 500 Polizisten nicht als unverhältnismässig einschätzen. 
Kubrick steht, auch als Kriegskritiker, eher rechts als links, weil sein Menschenbild realistisch ist wie das von kaum einem zweiten Filmemacher, mit nicht einem Hauch von Illusionen über die menschliche Natur, Basis einer vernünftigen Politik, siehe N. Machiavelli oder Shakespeare.  

Maiordomus

13. Juli 2024 11:35

@Laurenz. Sie haben auf die grosse Qualität von EK als Buchrezensentin hingewiesen. Genau diese Vermittlungsleistung, die Sie nennen, schafft sie regelmässig. Mir selber und anderen, eine Generation älter, steht für vergleichbare Aufgaben manchmal der  Bildungsballast im Wege. Das ist aber auch wieder nicht als indirekte Kritik an EK zu verstehen, die nämlich zumal die Didaktik sowohl für Jugendliche wie auch als "Erwachsenenbildnerin" vorbildlich handhabt und überdies, was im gegenteiligen Lager nicht der Fall ist, auch Qualität bei Büchern, mit denen man hier weltanschaulich nicht übereinstimmt, meistens vorurteilsfrei zu würdigen in  der Lage ist. 
PS. Zum Bildungsballast kann auch gehören, dass man wegen der Lektüre von sagen wir mal 400 unvergleichlich guten Werken der Weltliteratur nicht mehr in der Lage ist, Gegenwartsliteratur unter heutigen Bedingungen fair zu rezensieren. 

RMH

13. Juli 2024 12:59

"Was kommt als nächstes? Phil Dick?"
Der wurde aber in vielen Artikeln zumindest schon erwähnt, denn ohne SiN/ Sezession (gab es evtl. doch irgendwo einen Artikel oder eine Buchbesprechung? Kann mich nicht genau erinnern), wäre mir dieser Autor trotz der Verfilmungen, die ich gesehen habe, unbekannt geblieben. Ich sehe Dick nicht unbedingt in einer Linie mit den gesellschaftlich warnenden Dystopien wie Orwell, Huxley (bei dem gibt es ja den Streit, ob er wirklich warnen will oder einfach Insiderwissen weiter gibt), Bradbury etc. , was seine Bücher/Stories nicht weniger Lesenswert macht.
Zu Orwells 1984: Ich persönlich mochte 1984 nicht wegen der überstrapazierten Liebesgeschichte darin und Animal Farm schon gleich gar nicht, da ich es nicht mag, wenn Tiere Menschen darstellen sollen (ich ertrage Fabeln nur, weil sie meist recht kurz sind). Der aus meiner Sicht wirkliche "Knaller" im Œuvre von Orwell ist "Mein Katalonien", denn da wird mehr oder weniger gezeigt, dass Stalin die Faschisten gewinnen hat lassen, um eine bessere Ausgangsposition für den auch von ihm geplanten Krieg gegen Deutschland zu haben.

Liselotte

13. Juli 2024 13:31

Die Idee mit dem Erkennen qua In-die-Augen-Sehen finde ich interessant, und erinnert mich mit dem großen Beschweigen etwas an die Coronajahre. Wußte nicht, daß 1984 noch so viele "Brüder und Schwestern" hat.

anatol broder

13. Juli 2024 14:38

meister eckhart († 1328) erklärt die von karin boye beschriebene initiation in seiner predigt von der stadt der seele.

Le Chasseur

13. Juli 2024 14:53

@Franz Bettinger"Sie haben recht, "... und Armut ist Glück". Klaus Schwab: "Ihr werdet nichts besitzen und glücklich sein.""
Oder die planmäßige Vernichtung der Palästinenser wird als "legitime Selbstverteidigung Israels" bezeichnet.

herbstlicht

14. Juli 2024 17:11

1) »Kall«, Substantiv, bedeutet auch Ruf, Berufung, Einberufung.  Die Phrase "få ett kall" führt auch zu einem kath Vorposten im Norden; die Nonne berichtet von ihrer Berufung und dem Glück darin.
2) Werke Boyes wurden von Projekt Runeberg ins Web gestellt; auch Kallocain . 
3) Der Staat stellt allerdings nur noch die Laufburschen.  Im NS hatte der SD "Vertrauensleute" mit dem Auftrag, monatlicher Stimmungsberichte: "In Arbeiterkreisen (etc.) wird gesagt ...".  Ähnliche Information liefert heute einfach Statistik der Anfragen bei der Suchmaschine.  Dazu werden die meisten Zugriffe auf Webseiten an eine "Zentrale" gemeldet; habe mir einmal angeschaut, wohin überall Datenpakete gehen, wenn man im Firefox, mit aktiviertem JavaScript, auf SiN zugreift.