Rußland und wir

von Ivor Claire -- PDF der Druckfassung aus Sezession 118/ Februar 2024

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»Darf Ruß­land eine euro­päi­sche Macht im bis­he­ri­gen Sin­ne blei­ben, oder darf es das nicht, wenn unse­re Zukunft sicher sein soll?«

Der bal­ten­deut­sche Theo­lo­ge und ethi­sche Kul­tur­im­pe­ria­list Paul Rohr­bach, der die­se Fra­ge 1915 auf­warf, for­der­te ohne Umschwei­fe, ein für alle­mal »mit der Bedro­hung Deutsch­lands und der euro­päi­schen Kul­tur durch das öst­li­che Bar­ba­ren­tum« ein Ende zu machen. (1) »Ohne die Ukrai­na ist Ruß­land nicht Ruß­land, hat es kein Eisen, kei­ne Koh­le, kein Korn, kei­ne Häfen! Wenn einer Ruß­land nie­der­wer­fen will, wohin muß er mar­schie­ren? […] Alles gro­ße Leben in Ruß­land muß ver­sie­gen, wenn ein Feind die Ukrai­na packt«. (2)

Im »Gro­ßen Krieg« hoff­te Rohr­bach dar­auf, »daß Ruß­land sich aus­ein­an­der­neh­men läßt wie eine Apfel­si­ne«, und pro­pa­gier­te daher als Kriegs­ziel die »Zer­le­gung des rus­si­schen Kolos­ses in sei­ne natür­li­chen, geschicht­li­chen und eth­no­gra­phi­schen Bestand­tei­le«. (3) Frei­lich ging er damals von Deutsch­land als kon­ti­nen­ta­ler Groß­macht aus, die sich nach dem sieg­rei­chen Krieg durch einen Kor­don unab­hän­gi­ger Staa­ten wie Weiß­ruß­land, Ukrai­ne und Polen sowie ein deutsch beherrsch­tes Bal­ti­kum ost­wärts absi­chern und das auf die »Mos­ko­wi­ter« redu­zier­te Ruß­land nach Asi­en abdrän­gen sollte.

Ihm wider­sprach der in Ber­lin leh­ren­de säch­si­sche His­to­ri­ker Otto Hoetzsch, der Begrün­der der deut­schen Ost­eu­ro­pa­for­schung: Es sei »kein Zei­chen poli­ti­scher Rei­fe«, wenn schon kurz nach Kriegs­aus­bruch »hoch­ste­hen­de Män­ner unse­res Geis­tes­le­bens […] das rus­si­sche Reich auf­lös­ten, wie man Blät­ter einer Arti­scho­cke abpflückt«. (4) Er gelang­te zwar nach sorg­fäl­ti­ger Ana­ly­se der sozio­öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Ver­hält­nis­se des Zaren­reichs zum Befund, die­ses las­se sich mili­tä­risch durch­aus besie­gen, sei aber nicht zu unter­schät­zen, wes­halb man sich in der For­mu­lie­rung von Kriegs­zie­len zurück­hal­ten müsse.

Die Ent­wick­lung soll­te ihm recht geben; ange­sichts der auch nach dem Krieg dem Reich nicht wohl­ge­sinn­ten West­mäch­te avan­cier­te Hoetzsch in der Zwi­schen­kriegs­zeit, aus einer Posi­ti­on der Macht­lo­sig­keit her­aus, fol­ge­rich­tig zum zen­tra­len Befür­wor­ter eines deutsch-sowjet­rus­si­schen Aus­gleichs gegen die Hege­mo­nie der west­li­chen See­mäch­te, bis er dann unter Hit­lers Regie­rung als »Kul­tur­bol­sche­wist« denun­ziert und kalt­ge­stellt wur­de. (5) Die Kon­se­quen­zen der wei­te­ren natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ruß­land­po­li­tik sind bekannt.

Hun­dert Jah­re spä­ter, im Jahr 2015, sprach der Ame­ri­ka­ner Geor­ge Fried­man, der Grün­der der stra­te­gi­schen Bera­tungs­ge­sell­schaft Strat­for, vor dem Chi­ca­go Coun­cil on For­eign Affairs über sein gera­de publi­zier­tes Buch zur Kri­se Euro­pas. Fried­man, der über die poli­ti­sche Phi­lo­so­phie der Frank­fur­ter Schu­le pro­mo­viert hat, stammt selbst aus Ungarn, hat aber sei­nen poli­ti­schen Stand­ort und Stand­punkt längst in den USA gewählt.

Bekannt­heit erlang­te sei­ne Rede, weil er unver­blümt aus­sprach, daß es stets das Ziel der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik in Euro­pa gewe­sen sei und blei­be, ein Zusam­men­ge­hen von Deutsch­land und Ruß­land zu ver­hin­dern: »Ger­man tech­no­lo­gy and Ger­man capi­tal, Rus­si­an natu­ral resour­ces, Rus­si­an man­power« sei die ein­zi­ge Kom­bi­na­ti­on, die den Ver­ei­nig­ten Staa­ten immer Angst ein­ge­jagt habe.

Auf die Fra­ge einer kroa­ti­schen Geschichts­stu­den­tin, wie er sich denn Euro­pa vor­stel­le, wenn Ruß­land als euro­päi­sche Macht kol­la­bier­te – für sie »ein angst­ein­flö­ßen­des Sze­na­rio« –, ant­wor­te­te er, die ame­ri­ka­ni­sche Lösung lie­ge im Inter­ma­ri­um. Dies defi­nier­te er als eine der rus­si­schen Domi­nanz ent­zo­ge­ne Zone von der Ost­see bis zum Schwar­zen Meer, von der nicht nur der deut­sche Impe­ria­list Rohr­bach, son­dern auch Polens Mar­schall Pił­sud­ski in den 1920er Jah­ren geträumt hat­te – der aller­dings woll­te Polen als Vor­macht gegen Deutsch­land und Ruß­land eta­blie­ren. Ein »Cor­don sani­taire«, auch die­sen Aus­druck aus jener Zeit führ­te Fried­man wört­lich an, müs­se die Bezie­hun­gen zwi­schen Ruß­land und Euro­pa im ame­ri­ka­ni­schen Sin­ne ord­nen. Zuvor hat­te er mit Blick auf den 2014 im Don­bass auf­ge­flamm­ten Kon­flikt und die rus­si­sche Anne­xi­on der Krim aus­ge­führt, ein zumin­dest neu­tra­ler Sta­tus der Ukrai­ne sei aller­dings für die Rus­sen eine exis­ten­ti­el­le Notwendigkeit.

Den ent­schei­den­den und unbe­kann­ten Fak­tor hin­sicht­lich die­ser Sze­na­ri­en bil­de indes­sen die »deut­sche Fra­ge«: »Nun, wer auch immer mir sagen kann, was die Deut­schen zu tun beab­sich­ti­gen, wird mir die nächs­ten zwan­zig Jah­re Geschich­te dar­le­gen. Unglück­li­cher­wei­se aber haben sich die Deut­schen noch nicht ent­schie­den, und das ist immer Deutsch­lands Pro­blem: wirt­schaft­lich über­aus stark, geo­po­li­tisch sehr fra­gil, und nie wis­sen sie genau, wie sie das bei­des unter einen Hut brin­gen kön­nen. Seit 1871 ist dies die deut­sche Fra­ge gewe­sen, die Fra­ge Euro­pas. […] Den­ken Sie über die deut­sche Fra­ge nach, denn sie kommt jetzt wie­der hoch, das ist die nächs­te Fra­ge, der wir uns zuwen­den müs­sen.« (6)

Man­che Pro­gno­se Fried­mans erwies sich als falsch, so sei­ne 1991 ver­kün­de­te Visi­on vom kom­men­den Krieg zwi­schen den USA und Japan; sei­ne Ant­wort auf die Fra­ge jener Kroa­tin jedoch führt uns klar vor Augen, wel­cher Spreng­stoff einer geo­stra­te­gi­schen Beur­tei­lung Ruß­lands aus deut­scher Sicht inne­wohnt: Spricht man in Deutsch­land über Ruß­land, darf man nie ver­ges­sen, daß dies von den Ame­ri­ka­nern unter genann­ter Prä­mis­se genau obser­viert wird. Kom­men die Deut­schen hier zu einer Lage­be­ur­tei­lung und poli­ti­schen Wei­chen­stel­lung, die die­ser Prä­mis­se ihres Hege­mons zuwi­der­lau­fen, ist mit des­sen Ein­grei­fen in allen mög­li­chen For­men zu rechnen.

Den­noch gilt es, gera­de aus euro­päi­scher Sicht und Erfah­rung, grund­sätz­lich zu beden­ken, was der Phi­lo­soph Wil­helm Goerdt, der erst 1956 als einer der letz­ten deut­schen Sol­da­ten aus rus­si­scher Kriegs­ge­fan­gen­schaft heim­ge­kehrt war, mit Blick auf eben­die­ses Ruß­land for­der­te, das damals als Feind hin­ter dem »eiser­nen Vor­hang« des Kal­ten Kriegs lag: Es dür­fe »das Ver­hält­nis eines Euro­pä­ers zu einem ande­ren Teil Euro­pas, näm­lich Ruß­land, nicht nega­tiv sein oder wer­den« – eine »rich­tig und echt ›gefühl­te und geahn­te Dif­fe­renz‹« sei »nicht in emo­tio­na­ler Abwehr oder auch Zustim­mung als ewi­ge Fremd­heit« zu fixie­ren. Viel­mehr müs­se sie »als Dif­fe­renz erkannt, als Unter­schied in Euro­pa gese­hen wer­den, um des­sen Ein­heit klar dar­stel­len zu kön­nen.« (7)

Spre­chen wir heu­te als Deut­sche über Ruß­land, soll­te unse­re ers­te Prä­mis­se also eine euro­päi­sche sein: die Defi­ni­ti­ons­macht näm­lich, was zu Euro­pa zu rech­nen sei, nicht außer­eu­ro­päi­schen Mäch­ten zu über­las­sen. Daß die noch immer bis zur Bering­stra­ße rei­chen­de Ruß­län­di­sche Föde­ra­ti­on mit ihrem poli­ti­schen Kern­ge­biet in all ihren Eigen­hei­ten schlicht zu Eu­ropa gehört, ist schon kul­tur­his­to­risch durch jahr­hun­der­tal­te enge Ver­flech­tun­gen evi­dent. Geo­gra­phisch ist die Gren­ze zur asia­ti­schen Land­mas­se sowie­so eine wan­del­ba­re Set­zung, kein Meer trennt und ver­bin­det hier die Kon­ti­nen­te, im Posi­ti­ven wie im Negativen.

Geht es nun um eine stra­te­gi­sche Beur­tei­lung Ruß­lands von einem deut­schen und damit in Euro­pa ver­or­te­ten Stand­punkt, soll­te man sich an eine wei­te­re Prä­mis­se hal­ten, die Karl Haus­ho­fer 1934, lei­der ver­geb­lich, so for­mu­liert hat­te: Man muß »die Sowjets als mög­li­chen Freund, Geg­ner oder lachen­den Drit­ten zei­gen, wie sie wirk­lich sind, nicht wie sie von der eige­nen ›Pro­pa­gan­da‹ oder von haßer­füll­ten Ver­klei­ne­rern über­stei­gert oder abge­schwächt gezeigt wer­den«. (8)

Dabei sind die klas­si­schen geo­po­li­ti­schen Fak­to­ren eben­so zu berück­sich­ti­gen wie die sozio­öko­no­mi­schen und poli­ti­schen, die mili­tä­ri­schen und kul­tu­rel­len. Alle­samt sind sie dann im gege­be­nen Rah­men zu bewer­ten – der wie­der­um defi­niert sich durch die jewei­li­gen Bedin­gun­gen, unter denen Deutsch­land agie­ren kann. Prin­zi­pi­ell las­sen sich nur Grund­li­ni­en mög­li­cher Ent­wick­lun­gen seri­ös beden­ken, denn der berühm­te Zufall bleibt ein wich­ti­ger Fak­tor, der in kei­ner Rech­nung ver­ges­sen wer­den darf.

Lang­fris­tig wirk­sam sind noto­ri­sche geo­po­li­ti­sche Kenn­grö­ßen: der Raum in sei­ner kon­kre­ten Gestalt ein­schließ­lich der Res­sour­cen, sei­ne Erschlie­ßung durch Indus­trie und Infra­struk­tur, nicht zu ver­ges­sen die Man­power, die Demo­gra­phie. Zu den mit­tel­fris­tig beur­teil­ba­ren Fak­to­ren gehö­ren alle Ele­men­te der poli­ti­schen Gestal­tung wie die Bünd­nis­po­li­tik, Militär‑, Rüs­tungs- und Wirt­schafts­po­li­tik, aber auch die Bio- und Psy­cho­po­li­tik. Die Ruß­län­di­sche Föde­ra­ti­on als flä­chen­mä­ßig größ­ter Staat der Welt grenzt im Nor­den an das ark­ti­sche Eis­meer, das mit der soge­nann­ten Nord­ost­pas­sa­ge für den Schiffs­ver­kehr, aber auch als mili­tä­ri­sches Schlüs­sel­ge­län­de geo­po­li­tisch wie­der sehr wich­tig wird. (9)

Im äußers­ten Osten trennt Ruß­land die Bering­stra­ße vom ame­ri­ka­ni­schen Alas­ka, im Süd­os­ten ist der nächs­te, durch die See geschie­de­ne Nach­bar Japan, an Land folgt in west­li­cher Rich­tung ein klei­ner Strei­fen Nord­ko­re­as, wäh­rend die Gren­ze zu Chi­na rund 4200 Kilo­me­ter umfaßt. Dem fol­gen die Mon­go­lei, ­Kasach­stan, Aser­bai­dschan und Geor­gi­en als süd­li­che Nach­barn, im Wes­ten schließ­lich die Ukrai­ne, Weiß­ruß­land, Lett­land, Est­land und Finn­land; außer­dem ist die Exkla­ve Königs­berg mit Gren­zen zu Polen und Litau­en zu berück­sich­ti­gen. Ein grund­sätz­li­ches Pro­blem Ruß­lands ist also nach wie vor der begrenz­te Zugang zu ganz­jäh­rig eis­frei­en Häfen, wäh­rend in der Tie­fe des Rau­mes und des­sen gewal­ti­gen Res­sour­cen sei­ne größ­te Stär­ke liegt. Die demo­gra­phi­sche Ent­wick­lung der rund 145 Mil­lio­nen zäh­len­den ruß­län­di­schen Bevöl­ke­rung ist nega­tiv, woge­gen die rus­si­sche Regie­rung durch geziel­te Fami­li­en­för­de­rung anzu­steu­ern sucht.

Mit­tel­fris­tig ist zu kon­sta­tie­ren, daß es Ruß­land unter Putin geschafft hat, sich nicht nur poli­tisch und mili­tä­risch, son­dern auch öko­no­misch eini­ger­ma­ßen erfolg­reich zu restruk­tu­rie­ren. Die Sank­tio­nen sei­tens der USA und der mit ihnen ver­bün­de­ten Staa­ten erhöh­ten seit 2014 den Druck, in eige­ne Kapa­zi­tä­ten zu inves­tie­ren – mit gewis­sem Erfolg, wie der Jung­fern­flug des neu­en Ilju­schin-Pas­sa­gier­flug­zeugs ver­mu­ten läßt, in dem angeb­lich aus­schließ­lich Elek­tro­nik und Trieb­wer­ke aus hei­mi­scher Pro­duk­ti­on ver­baut wer­den. (10)

Wir haben in Ruß­land über­dies eine zuneh­mend kriegs­er­fah­re­ne, inno­va­ti­ons­fä­hi­ge und ato­mar hoch­ge­rüs­te­te Mili­tär­macht, außer­dem eine tra­di­tio­nel­le Welt­raum-Groß­macht als euro­päi­schen Nach­barn, und auch hier wur­de seit Putins Amts­an­tritt kräf­tig inves­tiert, man den­ke nur an das 2016 in Betrieb genom­me­ne Kos­modrom Wos­tot­sch­ny im Amur­ge­biet nahe der Gren­ze zu Chi­na. Dies flan­kiert eine Kul­tur- und Psy­cho­po­li­tik, die einen mobi­li­sie­rungs­fä­hi­gen rus­si­schen Natio­na­lis­mus för­dert und stabilisiert.

Auch in gewöhn­lich gut unter­rich­te­ten Krei­sen kur­siert noch immer das Ste­reo­typ vom Rus­sen als »Tak­ti­ker«, der zur Impro­vi­sa­ti­on nei­ge, wohin­ge­gen der Chi­ne­se als »Stra­te­ge« mit lang­fris­ti­ger, in Dez­en­ni­en den­ken­der Pla­nung fir­miert – des­sen Pro­jekt einer neu­en glo­ba­len Sei­den­stra­ße dient seit 2013 als pro­ba­tes Bei­spiel. Es zeig­te sich jedoch, daß auch Putin ein kla­res stra­te­gi­sches Ziel hat und die­ses mit chi­ne­si­schen Vor­stel­lun­gen zumin­dest auf abseh­ba­re Zeit kon­gru­iert: die »mul­ti­po­la­re« Macht­ver­tei­lung auf der Welt, für die er auf der 43. Mün­che­ner Sicher­heits­kon­fe­renz 2007 ange­sichts der NATO-Ost­erwei­te­rung und der umstrit­te­nen Fra­ge einer Mit­glied­schaft der Ukrai­ne warb. (11)

Daß dies kei­ne tak­ti­sche Ein­las­sung war, zeigt die 2006 zusam­men mit Chi­na gegrün­de­te Staa­ten­ver­ei­ni­gung BRIC(S), die kon­ti­nu­ier­lich erwei­tert wird und mit der New Deve­lo­p­ment Bank seit 2014 auch ein Kon­kur­renz­in­sti­tut zu Welt­bank und Inter­na­tio­na­lem Wäh­rungs­fonds aus­baut. Dazu kom­men Arbei­ten an Alter­na­ti­ven zum west­lich domi­nier­ten elek­tro­ni­schen Finanz­trans­fer­sys­tem SWIFT in Ruß­land, Chi­na und Indi­en, um einer – inzwi­schen erfolg­ten – Aus­sper­rung aus dem Ban­ken­ver­kehr vor­zu­beu­gen und den Han­del mit loka­len Wäh­run­gen gegen den domi­nie­ren­den Dol­lar vor­an­zu­trei­ben. Ob dies alles von Erfolg gekrönt sein wird, bleibt offen; es zeigt aber, daß Ruß­land mit sei­ner von Putin kurz nach Amts­an­tritt inten­si­vier­ten Koope­ra­ti­on vor allem mit Chi­na stra­te­gisch agiert und nicht reak­tiv aus der Hüf­te schießt.

Mit Chi­na koope­riert Ruß­land auch in der Shang­hai­er Orga­ni­sa­ti­on für Zusam­men­ar­beit, ver­bun­den letzt­lich in einer fri­en­imo­si­ty, einer Mischung aus Freund­schaft und Ani­mo­si­tä­ten; letz­te­re rüh­ren von poten­ti­el­len und evi­den­ten Inter­es­sen­kon­flik­ten vor allem in Zen­tral­asi­en her. (12) Auch dort betreibt man im übri­gen mit der Eura­si­schen Wirt­schafts­uni­on und der Orga­ni­sa­ti­on des Ver­trags über kol­lek­ti­ve Sicher­heit, einem Mili­tär­bünd­nis, klas­si­sche Macht­po­li­tik, die nicht allein mit der Ent­frem­dung vom kol­lek­ti­ven Wes­ten zu tun hat. Die­se Kon­stel­la­tio­nen, mit Chi­na und Ruß­land als stra­te­gi­schem Duo im Kern, ber­gen tat­säch­lich die Mög­lich­keit, die glo­ba­le Vor­herr­schaft der USA in Wäh­rung, Mili­tär und Wirt­schafts­kraft durch ein Kon­kur­renz­ver­hält­nis meh­re­rer ähn­lich befä­hig­ter Mäch­te abzulösen.

Wie sol­che Ent­wick­lun­gen mit Blick auf Ruß­land nun von einem deut­schen Stand­punkt in Euro­pa zu bewer­ten wären, hängt essen­ti­ell von sei­nen Rah­men­be­din­gun­gen ab. Die­se sind der­zeit durch den Krieg in der Ukrai­ne gesetzt, längst als Stell­ver­tre­ter­krieg kennt­lich. (13) Nach zwei Euro­pa rui­nie­ren­den Welt­krie­gen kann weder ein Inter­es­se dar­an bestehen, die­sen Stell­ver­tre­ter­krieg auf unse­rem eura­si­schen Sub­kon­ti­nent zu eska­lie­ren, noch ihn in einen neu­en Kal­ten Krieg zu über­füh­ren, da ein sta­bi­les bipo­la­res Patt unter den neu­en glo­ba­len Kon­stel­la­tio­nen nicht zu erwar­ten ist.

Auch aus öko­no­mi­schen Grün­den läge für die Export­na­ti­on Deutsch­land eine kon­trol­lier­te Koope­ra­ti­on mit Ruß­land nahe, die sich nicht in ein­sei­ti­ge Abhän­gig­keit bege­ben dürf­te. Eine sol­che auch im rus­si­schen Inter­es­se lie­gen­de euro­päi­sche Koexis­tenz als Gegen­ge­wicht zur Abhän­gig­keit von Chi­na ist in der der­zei­ti­gen Lage und wohl auch im nächs­ten Jahr­zehnt kaum mög­lich, da das Por­zel­lan nach­hal­tig zer­schla­gen wur­de, in Euro­pa kein poli­ti­sches Per­so­nal staats­män­ni­schen For­mats zu erken­nen ist und das Inter­es­se des west­li­chen Hege­mons mit sei­ner zen­tra­len pol­ni­schen Ach­se gegen ein sol­ches Arran­ge­ment steht.

Um nicht unter die Räder die­ser Ach­se zu gera­ten, hilft nur eine lang­fris­tig pla­nen­de Poli­tik der klei­nen Schrit­te, die kei­nes­falls mit einer Kün­di­gung bestehen­der euro­päi­scher und trans­at­lan­ti­scher Ver­trags­sys­te­me wie der EU und der NATO ein­ge­lei­tet wer­den darf – schon aus Selbst­schutz. Die Lage ist ernst.

– – –

(1) – Paul Rohr­bach: Ruß­land und wir, Stutt­gart 1915, S. 3.

(2) – Paul Rohr­bach: »Durch die Ukrai­na 1897«, in: ders.: Welt­po­li­ti­sche Wan­de­run­gen, Leip­zig 1916, S. 44 – 52, hier S. 49; vgl. Wal­ter Mogk: Paul Rohr­bach und das »Grö­ße­re Deutsch­land«. Ethi­scher Impe­ria­lis­mus im Wil­hel­mi­ni­schen Zeit­al­ter. Ein Bei­trag zur Geschich­te des Kul­tur­pro­tes­tan­tis­mus, Mün­chen 1972.

(3) – Rohr­bach im Dezem­ber 1914, zit. nach ­Ric­car­do Bavaj: »Die deut­sche Ukrai­ne-Publi­zis­tik wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs«, in: Zeit­schrift für Ost­mit­tel­eu­ro­pa-For­schung 50 (2001), S. 1 – 25, hier S. 5.

(4) – Otto Hoetzsch: Ruß­land als Geg­ner Deutsch­lands, Leip­zig 1914, S. 56.

(5) – Vgl. Karl Schlö­gel: »Von der Ver­geb­lich­keit eines Pro­fes­so­ren­le­bens. Otto Hoetzsch und die deut­sche Ruß­land­kun­de«, in: Ost­eu­ro­pa 55 (2005) 12, S. 5 – 28.

(6) – Geor­ge ­Fried­man: »Euro­pe: Desti­ned for Con­flict?«, in: youtube.com (Abruf 8. Janu­ar 2024), ab 01:11:16 bis 01:12:05.

(7) – Vgl. Geor­ge Fried­man: Flash­points. The Emer­ging Cri­sis in Euro­pe, New York 2015.

(8) – Wil­helm Goerdt: Rus­si­sche Phi­lo­so­phie. Zugän­ge und Durch­bli­cke, Frei­burg i. Br./München 1984, S. 28.

(9) – Karl Haus­ho­fer: »Geleit­wort«, in: Oskar von Nie­der­may­er, Juri Sem­jo­now: Sowjet-Ruß­land. Eine geo­po­li­ti­sche Pro­blem­stel­lung, Ber­lin-Gru­ne­wald 1934, S. 9 – 11, hier S. 11.

(10) – Vgl. Gerd Brau­ne: »Geo­po­li­tik in der Ark­tis«, in: Inter­na­tio­na­le Poli­tik 6, November/Dezember 2020, S. 82 – 86.

(11) – Vgl. »Russia’s New Il-96–400M Stretch Takes Its 1st Flight«, unter: simpleflying.com (Abruf 8. Janu­ar 2024).

(12) – Vgl. Ste­ven White, ­Julia Korost­e­le­va, Roy ­Alli­son: »NATO: The View from the East«, in: Euro­pean
Secu­ri­ty
15 (2006) 2, S. 165 – 190, bes. S. 169 – 173.

(13) – Vgl. Zha­ni­bek Ary­n­ov, Dina Sha­ri­po­va: »Ruß­land in Zen­tral­asi­en«, in: ­Jakob Lempp, Sebas­ti­an May­er, Alex­an­der Brand (Hrsg.): Die poli­ti­schen Sys­te­me Zen­tral­asi­ens. Inter­ner Wan­del, exter­ne Akteu­re, regio­na­le Koope­ra­ti­on, Wies­ba­den 2020, S. 223 – 241.

(14) – Vgl. Michel Wyss: »Die Gren­zen der Unter­stüt­zung«, in: Schwei­zer Monat Nr. 1105 (April 2023).

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