In den letzten beiden Jahren veränderte sich die geistige Landschaft Rußlands in mehrfacher Hinsicht: Positionen polarisierten sich, Widersprüche spitzten sich zu, und das intellektuelle Leben, das in der vorangehenden »Ära der Stabilität« praktisch zum Erliegen gekommen war, erwachte wieder.
Gleichzeitig ist unter den gegenwärtigen Bedingungen die seriöse Analyse zugunsten von Phantasiebildern über die Beschaffenheit der Welt aus der Öffentlichkeit verschwunden, was sowohl der Mehrheit der Bevölkerung als auch den Regierenden zu gefallen scheint. Der Glaube, daß die russische Fernsehmythologie nur für die Massen gilt, während die Staatsführung selbst rationaler denkt, hat sich als falsch erwiesen.
Die offizielle Erzählung der russischen Staatsmacht hat keine strategische Tiefe, ist opportunistisch und situationsbedingt. Dies ist eine tragische Folge davon, daß sich im Laufe von mehr als zwanzig Jahren eine bunte Koalition aus prinzipientreuen Loyalisten und prinzipienlosen Konformisten gebildet hat, die bereit ist, jede Aktion ihrer Oberen zu unterstützen.
Diese Leute stammen aus jenen Kreisen, in denen die Suche nach Deutungsmustern und Erklärungsmodellen für das dramatische Geschehen nach dem Systemwechsel von 1990 überhaupt begonnen hat. Der Mangel an angemessener Reflexion wurzelt in der Unfähigkeit der Intellektuellen zu einer modernen soziologisch-politischen Analyse. Deshalb herrscht in Rußland heute eine postmoderne Polyphonie von fragmentarischen, sich gegenseitig ausschließenden Symbolen und Bedeutungen vor.
Dabei ist es aufgrund der politischen Struktur der Russischen Föderation äußerst schwierig, etwas Konkretes über das Wesen und die grundlegenden Mechanismen des Systems zu sagen. Eine Möglichkeit wäre, sich auf eine korporativ-bürokratische Elite zu konzentrieren, die aus mehreren clanartigen, konkurrierenden Einflußgruppen besteht, von denen jede ihre eigenen Interessen im Bereich der Machtressourcen und Ressourcenströme hat. Das Ziel der herrschenden Eliten ist, mit minimalen Verlusten ihrer Machtressourcen aus der gegenwärtigen Krise herauszukommen. Unter bestimmten Umständen aber könnte diese Krise trotzdem zu einem systemischen Faktor der Innenpolitik, zu einem Sammelpunkt für die Macht und ihre Stabilität, zu einem Ausweg aus dem Putinschen Modell.
Der Platz der Politik als Raum der öffentlichen Kommunikation und des verantwortlichen Handelns wird vom »offiziellen Konservatismus« und der Rhetorik der sogenannten traditionellen Werte besetzt – Schlagwörter, die angesichts der Realität in Rußland wie eine demagogische Fiktion wirken. Die großen Reden über den zivilisatorischen Charakter der russischen Staatlichkeit verschleiern, daß das Land in den aktuellen und kommenden globalen Auseinandersetzungen nicht allein bestehen kann und sich unvermeidlich für eine Seite entscheiden muß – sei es Europa, China, der »Globale Süden« oder der »Globale Norden«.
Rußland ist nämlich in Sachen Demographie, technologischer Entwicklung, Wirtschaft und Ideologie objektiv nicht in der Lage, ein globales Machtzentrum oder eine »Zivilisation« zu bilden. Die Vertreter der russischen Elite (mit Ausnahme von alten Generälen, die noch durch die KGB-Schulung gegangen sind) teilen die oberflächliche Rhetorik kaum, und es käme nicht unerwartet, wenn sie sich bei der ersten Gelegenheit »dem Westen« zuwenden würden, dessen Eliten sie nämlich noch vor kurzem so eifrig angehören wollten.
In Putins »konservativem Rußland« gibt es kaum etwas positiv Konservatives jenseits von antihomosexuellen Initiativen und Geläster über »geschlechtsneutrale Toiletten« in Europa. Probleme wie das historische Tief der Geburtenraten und schwach besuchte Kirchen werden der Tagespolitik untergeordnet. Nicht zu vergessen sind auch die schleichende, von den Behörden aktiv vorangetriebene Islamisierung sowie die aus dem Westen übernommene perverse und dumme Massenkultur.
Der offizielle »Konservatismus« beinhaltet absolute Loyalität und damit verbunden die Idee, daß der Herrscher im Zentrum des Systems eine so überragende Allwissenheit besitze, daß nur er die wahren Interessen des Landes beurteilen könne. Der Atomisierungs- und Individualisierungsgrad der rußländischen Gesellschaft unterscheidet sich in Wahrheit nicht wesentlich von den westlichen Gesellschaften. Das Prinzip der öffentlichen Loyalität, das für die Behörden ausreichend ist, schafft die eigentümliche Situation eines doppelten Bodens – niemand kennt wirklich die wahren Gefühle der Bevölkerung, die vor allem auf Stabilität und Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse aus ist.
Dennoch gibt es so etwas wie eine »konservative« öffentliche Landschaft. Unter den konservativen Intellektuellen kann man fünf Haupttypen unterscheiden, die ein geschlossenes ideologisches Narrativ anbieten. Die ersten drei Gruppen sind mit der offiziösen Politik verschmolzen und damit langfristig zum Bankrott verurteilt, da sie entweder mit dem Regime untergehen oder von diesem als destabilisierendes Element neutralisiert werden. Sie alle zeichnen sich aus durch eine Tendenz zur Romantisierung und Idealisierung des »russischen« (de facto postsowjetischen /»rußländischen«) Volkes, eine quasivölkische Demagogie und eine absolute Dominanz der Gesinnungsethik.
I. Die linkskonservative oder »links-patriotische« Richtung (darunter auch: Sowjetkonservative, »orthodoxe Stalinisten«, Nationalbolschewisten) vertritt eine Position, die dem einfachen Volk durch Propaganda aufgedrängt wird und der offiziellen Rhetorik der Staatsmacht überwiegend entspricht. Sie bedient sich zunehmend einer Demagogie mit neostalinistischen Anklängen, freilich ohne den Plan, sie ernsthaft umzusetzen, da niemand in der Elite das stalinistische Regierungsmodell wiederherstellen kann und will. Soziologisch gesehen, entspringt der Linkskonservatismus einer Reaktion auf den Verlust der UdSSR, des »Ancien régime«, das weiterhin als psychologischer Bezugspunkt dient.
Die linkskonservative Richtung ist auch durch ressentiment-sozialistische Parolen und einen neosowjetischen Revanchismus-Patriotismus gekennzeichnet, in dessen Mittelpunkt der »Mythos des Großen Vaterländischen Krieges« und die ewige Konfrontation mit dem »kapitalistisch-faschistischen Westen« stehen. Besonders exotisch sind vereinzelte Elemente wie die Idee vom »Heiligen Stalin«, Forderungen nach der nuklearen Vernichtung Europas und der USA, Aufrufe zur »Isolierung in wiederbelebten Gulags« und zur Ausrottung aller »Feinde des Vaterlandes«. Diese lautstarke, aber völlig perspektivlose Rhetorik, die sich auf das Phantom der Restauration stützt, wird auch von den Behörden zu ihrem Vorteil genutzt.
II. Die monarchistischen Imperialisten, die sich hauptsächlich um den Fernsehsender »Zargrad« und andere Organisationen des Oligarchen Konstantin Malofejew gruppieren, stellen den anderen Pol der »nuklearen Rhetorik«. Sie verfügen über relativ große Medienressourcen, haben aber nur sehr begrenzten Einfluß. Ihre Position spielt sowohl in politischen als auch in akademischen Kreisen nur eine äußerst marginale Rolle. Anstelle einer seriösen Agenda mit tiefgreifenden Analysen herrschen Träume vom Wiederaufbau einer imperialen Monarchie mit einer sanften Dominanz der russischen Bevölkerung vor, eine Rhetorik der göttlichen Auserwähltheit und Heiligkeit des russischen Volkes und ein »katechontisches« Pathos angesichts der »bevorstehenden Konfrontation zwischen Gut und Böse«. Dies gipfelt in Ideen wie der Ernennung Putins zum Kaiser oder einer »nuklearen Orthodoxie«, nach der Rußland als »Zivilisation Christi« die Aufgabe habe, die ganze Welt zu reinigen.
Vertreter dieser Gruppe überschneiden sich in vielerlei Hinsicht mit den »Neoeurasianisten-Traditionalisten« (siehe unten), haben aber im allgemeinen keine sozialistischen Tendenzen und sind den rechten europäischen Kräften eher freundlich gesinnt, wobei sie davon ausgehen, daß diese absolut prorussisch sein werden, sollten sie an die Macht kommen.
III. Die traditionalen Neoeurasier sind die lauteste und hysterischste Gruppe von Intellektuellen. Sie scharen sich um den Ideologen Alexander Dugin, der von seinen Anhängern als genialer Prophet der »Vierten Politischen Theorie« und der »multipolaren Welt« verehrt wird. Diese Gruppe kann man gemäß den Klassifizierungen von Ernst Troeltsch bis Jacob Taubes als eine religiös-eschatologische Sekte bezeichnen. Dugin und seine Epigonen versuchen schon seit Jahren, ihre intellektuellen Produkte an den Kreml zu verkaufen, doch dort bedient man sich lediglich ab und an ihres radikalen Eifers. Diese Gruppe hat keinen systemischen Einfluß – praktisch niemand im akademischen oder politischen Bereich nimmt ihr provokativ-aggressives, eschatologisches (und zugleich postmodernes) Pathos der Revolte gegen die Modernität ernst. Sie stellen so etwas wie die Jakobiner des »patriotischen Lagers« dar, mit ihren ständigen und offenen Forderungen nach Repressionen und Säuberungen, ihrer permanenten Suche nach »Feinden« und »Russophoben«, ihrem Anspruch, das Recht auf die Definition der Norm zu monopolisieren.
Rußland wird von ihnen als eine »eurasische Zivilisation« dargestellt, die sich im Laufe ihrer Geschichte dem Westen immer widersetzt habe. Heute sei es die letzte Festung (der »Katechon«) der traditionellen Werte, während das russische Volk der »Volk-Gottesträger« sei. Die ganze Welt werde entweder von ihm gerettet werden oder in Flammen untergehen. Neben ihrem messianisch-eschatologischen Imperialismus steht diese Richtung für eine extreme Identifikation des Staatschefs mit dem Volk, für die Androhung blutiger Repressalien gegen »Verräter« und insbesondere für die Forderung, die Ukrainer zu vernichten oder die ganze Ukraine um jeden Preis zu kontrollieren.
Geopolitisch stehen sie im Bunde mit als »traditionell« klassifizierten Staaten wie dem Iran, Nordkorea oder China und unterstützen antiwestliche Tendenzen in der islamischen Welt und in Schwarzafrika. Sie bedienen sich zudem einer »antikolonialen Rhetorik«, die manchmal bis zum Ruf nach der Ausrottung der Europäer geht, dem seltsamerweise eine Sehnsucht nach einem »traditionellen Europa« zur Seite steht. Sowohl auf den »Rechts-« als auch auf den »Linkspopulismus« werden unterschiedslos Hoffnungen gesetzt.
Die letzten beiden Gruppen haben sich eine gewisse (mehr oder minder große) Distanz und Autonomie gegenüber den Regierenden und dem offiziellen Narrativ bewahrt. Ihre Hauptschwierigkeit liegt darin, daß der Pseudokonservatismus der Behörden mit dem Pseudokonservatismus der Bevölkerung durchaus komplementär ist: Da wären die politische Kultur der »echten Kerle«, das postmoderne Kaleidoskop aus Symbolen des Russischen Reiches und der UdSSR, der leere Moralismus und die außenpolitische Fata Morgana als Ersatz für einen wahren Wertekern. Im allgemeinen leiden konservative intellektuelle Programme (das Wort »rechts« hat in Rußland eine negative Konnotation) stark unter der Ad-hoc-Verwendung ihrer Fragmente durch die offizielle Politik sowie ihrer rhetorischen Verschmelzung mit antiwestlichen Ressentiments.
IV. Die nationaldemokratische Bewegung (»Russische Europäer«), deren Position auf die politische Publizistik von Alexander Solschenizyn zurückgeht, wurde im 21. Jahrhundert von Konstantin Krylow und seinem Kreis entwickelt und zu einem ziemlich großen Netzwerk von öffentlichen Diskussionsklubs, Zeitschriften, Gruppen, Kanälen und Buchläden ausgebaut. Politisch und organisatorisch wurde die Bewegung in den 2010er Jahren de facto wegen ihrer national orientierten Rhetorik von den Machthabern zerschlagen. Gegenwärtig liegt der Schwerpunkt auf aktivistischen, bildungspolitischen und publizistischen Aktivitäten, die sich an junge Menschen und Intellektuelle richten.
Ihre allgemeine Agenda ist gemäßigt nationalistisch und antiislamisch, ihre Betonung liegt auf »russisch« und nicht auf »rußländisch«, im Gegensatz zur offiziellen Position der Behörden der »Rußländischen Föderation«. Der Ethnozentrismus kann dabei sowohl säkulare als auch religiöse Töne annehmen. Sie läßt sich soziologisch als eine oppositionelle Variante des patriotischen Diskurses darstellen, in der das Subjekt der Bewahrung nicht das Machtsystem, sondern das Volk ist.
Ihre europafreundliche Grundhaltung drückt sich in der Vorstellung aus, Rußland sei angesichts der Selbstzerstörung des Westens das letzte verbliebene Land der klassischen europäischen Kultur. Die Bevorzugung eines Nationalstaates nach dem Vorbild des »gesunden Westens« trennt die Nationaldemokraten radikal von den drei obengenannten Strömungen. Auch der antikommunistische Impuls zeigt sich hier am stärksten – die Einstellungen zum sowjetischen Projekt reichen von gemäßigt bis radikal negativ; deutlich ist eine kritische Haltung gegenüber dem historisch-mythologischen Narrativ des Großen Vaterländischen Krieges und der offiziösen Geschichts- und Erinnerungspolitik. Ihre zwiespältige Haltung gegenüber den aktuellen Ereignissen entspringt einer allgemeinen Skepsis bezüglich des politischen Kurses der Eliten und äußert sich entweder in einem situativen Loyalismus oder einem national orientierten Oppositionismus.
V. Die letzte Gruppe läßt sich unter dem Begriff »aufgeklärter Konservatismus« zusammenfassen. Dabei handelt es sich eher um eine bestimmte Denkweise als um eine politische Strömung. Diese Position dominiert in akademischen und akademienahen intellektuellen Kreisen, die keinen öffentlichen Vereinigungen angehören und keine eigene politische Vertretung haben. Aufgrund ihrer Heterogenität ist diese Gruppe schwer zu fassen. Dennoch können allgemeine Leitlinien skizziert werden. Es handelt sich um das Projekt einer konservativen Moderne, eines konservativen (oder konservativ-liberalen) Reformismus, für den sich nach der sogenannten Sonderoperation in der Ukraine ein Fenster öffnen und Möglichkeiten ergeben könnten.
Dem derzeitigen politischen Ton stehen die »aufgeklärten Konservativen« skeptisch bis ablehnend gegenüber. Sie sehen in der allmählichen Wiederherstellung der Kontakte zu Europa und den USA einen Ausweg aus der aktuellen Krise (Konzepte wie »Globaler Norden«, das Projekt »Großes Europa«, »Rußland als Zivilisation mit europäischen Wurzeln«). Bemerkenswert sind das Fehlen nationalistischer Rhetorik sowie die Skepsis gegenüber aufgezwungenen historisch-mythologischen Narrativen und der allgemeinen Entwicklungsrichtung Rußlands im letzten Jahrhundert.
Trotz fehlender öffentlicher Organisationsstrukturen und minimaler Aktivität im gesellschaftspolitischen Raum hat dieser Kreis den größten Zugang zu administrativen und materiellen Ressourcen sowie weitgestreute Verbindungen im politischen Umfeld. Die Einstellung der »aufgeklärten Konservativen« zur kulturellen und intellektuellen – und in Zukunft auch politischen – Interaktion mit kontaktbereiten konservativen Kräften in Europa und den Vereinigten Staaten könnte durch private Verbindungen einen Einfluß auf das technokratische System nehmen und wesentlich dazu beitragen, welche Richtung Rußland in Zukunft einschlagen wird.