Rußlands geistige Landschaft – fünf Typen

von Filipp Fomitschow -- PDF der Druckfassung aus Sezession 118/ Februar 2024

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In den letz­ten bei­den Jah­ren ver­än­der­te sich die geis­ti­ge Land­schaft Ruß­lands in mehr­fa­cher Hin­sicht: Posi­tio­nen pola­ri­sier­ten sich, Wider­sprü­che spitz­ten sich zu, und das intel­lek­tu­el­le Leben, das in der vor­an­ge­hen­den »Ära der Sta­bi­li­tät« prak­tisch zum Erlie­gen gekom­men war, erwach­te wieder.

Gleich­zei­tig ist unter den gegen­wär­ti­gen Bedin­gun­gen die seriö­se Ana­ly­se zuguns­ten von Phan­ta­sie­bil­dern über die Beschaf­fen­heit der Welt aus der Öffent­lich­keit ver­schwun­den, was sowohl der Mehr­heit der Bevöl­ke­rung als auch den Regie­ren­den zu gefal­len scheint. Der Glau­be, daß die rus­si­sche Fern­seh­my­tho­lo­gie nur für die Mas­sen gilt, wäh­rend die Staats­füh­rung selbst ratio­na­ler denkt, hat sich als falsch erwiesen.

Die offi­zi­el­le Erzäh­lung der rus­si­schen Staats­macht hat kei­ne stra­te­gi­sche Tie­fe, ist oppor­tu­nis­tisch und situa­ti­ons­be­dingt. Dies ist eine tra­gi­sche Fol­ge davon, daß sich im Lau­fe von mehr als zwan­zig Jah­ren eine bun­te Koali­ti­on aus prin­zi­pi­en­treu­en Loya­lis­ten und prin­zi­pi­en­lo­sen Kon­for­mis­ten gebil­det hat, die bereit ist, jede Akti­on ihrer Obe­ren zu unterstützen.

Die­se Leu­te stam­men aus jenen Krei­sen, in denen die Suche nach Deu­tungs­mus­tern und Erklä­rungs­mo­del­len für das dra­ma­ti­sche Gesche­hen nach dem Sys­tem­wech­sel von 1990 über­haupt begon­nen hat. Der Man­gel an ange­mes­se­ner Refle­xi­on wur­zelt in der Unfä­hig­keit der Intel­lek­tu­el­len zu einer moder­nen sozio­lo­gisch-poli­ti­schen Ana­ly­se. Des­halb herrscht in Ruß­land heu­te eine post­mo­der­ne Poly­pho­nie von frag­men­ta­ri­schen, sich gegen­sei­tig aus­schlie­ßen­den Sym­bo­len und Bedeu­tun­gen vor.

Dabei ist es auf­grund der poli­ti­schen Struk­tur der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on äußerst schwie­rig, etwas Kon­kre­tes über das Wesen und die grund­le­gen­den Mecha­nis­men des Sys­tems zu sagen. Eine Mög­lich­keit wäre, sich auf eine kor­po­ra­tiv-büro­kra­ti­sche Eli­te zu kon­zen­trie­ren, die aus meh­re­ren clan­ar­ti­gen, kon­kur­rie­ren­den Ein­fluß­grup­pen besteht, von denen jede ihre eige­nen Inter­es­sen im Bereich der Macht­res­sour­cen und Res­sour­cen­strö­me hat. Das Ziel der herr­schen­den Eli­ten ist, mit mini­ma­len Ver­lus­ten ihrer Macht­res­sour­cen aus der gegen­wär­ti­gen Kri­se her­aus­zu­kom­men. Unter bestimm­ten Umstän­den aber könn­te die­se Kri­se trotz­dem  zu einem sys­te­mi­schen Fak­tor der Innen­po­li­tik, zu einem Sam­mel­punkt für die Macht und ihre Sta­bi­li­tät, zu einem Aus­weg aus dem Putin­schen Modell.

Der Platz der Poli­tik als Raum der öffent­li­chen Kom­mu­ni­ka­ti­on und des ver­ant­wort­li­chen Han­delns wird vom »offi­zi­el­len Kon­ser­va­tis­mus« und der Rhe­to­rik der soge­nann­ten tra­di­tio­nel­len Wer­te besetzt – Schlag­wör­ter, die ange­sichts der Rea­li­tät in Ruß­land wie eine dem­ago­gi­sche Fik­ti­on wir­ken. Die gro­ßen Reden über den zivi­li­sa­to­ri­schen Cha­rak­ter der rus­si­schen Staat­lich­keit ver­schlei­ern, daß das Land in den aktu­el­len und kom­men­den glo­ba­len Aus­ein­an­der­set­zun­gen nicht allein bestehen kann und sich unver­meid­lich für eine Sei­te ent­schei­den muß – sei es Euro­pa, Chi­na, der »Glo­ba­le Süden« oder der »Glo­ba­le Norden«.

Ruß­land ist näm­lich in Sachen Demo­gra­phie, tech­no­lo­gi­scher Ent­wick­lung, Wirt­schaft und Ideo­lo­gie objek­tiv nicht in der Lage, ein glo­ba­les Macht­zen­trum oder eine »Zivi­li­sa­ti­on« zu bil­den. Die Ver­tre­ter der rus­si­schen Eli­te (mit Aus­nah­me von alten Gene­rä­len, die noch durch die KGB-Schu­lung gegan­gen sind) tei­len die ober­fläch­li­che Rhe­to­rik kaum, und es käme nicht uner­war­tet, wenn sie sich bei der ers­ten Gele­gen­heit »dem Wes­ten« zuwen­den wür­den, des­sen Eli­ten sie näm­lich noch vor kur­zem so eif­rig ange­hö­ren wollten.

In Putins »kon­ser­va­ti­vem Ruß­land« gibt es kaum etwas posi­tiv Kon­ser­va­ti­ves jen­seits von anti­ho­mo­se­xu­el­len Initia­ti­ven und Geläs­ter über »geschlechts­neu­tra­le Toi­let­ten« in Euro­pa. Pro­ble­me wie das his­to­ri­sche Tief der Gebur­ten­ra­ten und schwach besuch­te Kir­chen wer­den der Tages­po­li­tik unter­ge­ord­net. Nicht zu ver­ges­sen sind auch die schlei­chen­de, von den Behör­den aktiv vor­an­ge­trie­be­ne Isla­mi­sie­rung sowie die aus dem Wes­ten über­nom­me­ne per­ver­se und dum­me Massenkultur.

Der offi­zi­el­le »Kon­ser­va­tis­mus« beinhal­tet abso­lu­te Loya­li­tät und damit ver­bun­den die Idee, daß der Herr­scher im Zen­trum des Sys­tems eine so über­ra­gen­de All­wis­sen­heit besit­ze, daß nur er die wah­ren Inter­es­sen des Lan­des beur­tei­len kön­ne. Der Ato­mi­sie­rungs- und Indi­vi­dua­li­sie­rungs­grad der ruß­län­di­schen Gesell­schaft unter­schei­det sich in Wahr­heit nicht wesent­lich von den west­li­chen Gesell­schaf­ten. Das Prin­zip der öffent­li­chen Loya­li­tät, das für die Behör­den aus­rei­chend ist, schafft die eigen­tüm­li­che Situa­ti­on eines dop­pel­ten Bodens – nie­mand kennt wirk­lich die wah­ren Gefüh­le der Bevöl­ke­rung, die vor allem auf Sta­bi­li­tät und Erfül­lung ihrer Grund­be­dürf­nis­se aus ist.

Den­noch gibt es so etwas wie eine »kon­ser­va­ti­ve« öffent­li­che Land­schaft. Unter den kon­ser­va­ti­ven Intel­lek­tu­el­len kann man fünf Haupt­ty­pen unter­schei­den, die ein geschlos­se­nes ideo­lo­gi­sches Nar­ra­tiv anbie­ten. Die ers­ten drei Grup­pen sind mit der offi­ziö­sen Poli­tik ver­schmol­zen und damit lang­fris­tig zum Bank­rott ver­ur­teilt, da sie ent­we­der mit dem Regime unter­ge­hen oder von die­sem als desta­bi­li­sie­ren­des Ele­ment neu­tra­li­siert wer­den. Sie alle zeich­nen sich aus durch eine Ten­denz zur Roman­ti­sie­rung und Idea­li­sie­rung des »rus­si­schen« (de fac­to post­so­wje­ti­schen /»rußländischen«) Vol­kes, eine qua­si­völ­ki­sche Dem­ago­gie und eine abso­lu­te Domi­nanz der Gesinnungsethik.

 

I. Die links­kon­ser­va­ti­ve oder »links-patrio­ti­sche« Rich­tung (dar­un­ter auch: Sowjet­kon­ser­va­ti­ve, »ortho­do­xe Sta­li­nis­ten«, Natio­nal­bol­sche­wis­ten) ver­tritt eine Posi­ti­on, die dem ein­fa­chen Volk durch Pro­pa­gan­da auf­ge­drängt wird und der offi­zi­el­len Rhe­to­rik der Staats­macht über­wie­gend ent­spricht. Sie bedient sich zuneh­mend einer Dem­ago­gie mit neo­sta­li­nis­ti­schen Anklän­gen, frei­lich ohne den Plan, sie ernst­haft umzu­set­zen, da nie­mand in der Eli­te das sta­li­nis­ti­sche Regie­rungs­mo­dell wie­der­her­stel­len kann und will. Sozio­lo­gisch gese­hen, ent­springt der Links­kon­ser­va­tis­mus einer Reak­ti­on auf den Ver­lust der UdSSR, des »Anci­en régime«, das wei­ter­hin als psy­cho­lo­gi­scher Bezugs­punkt dient.

Die links­kon­ser­va­ti­ve Rich­tung ist auch durch res­sen­ti­ment-sozia­lis­ti­sche Paro­len und einen neo­so­wje­ti­schen Revan­chis­mus-Patrio­tis­mus gekenn­zeich­net, in des­sen Mit­tel­punkt der »Mythos des Gro­ßen Vater­län­di­schen Krie­ges« und die ewi­ge Kon­fron­ta­ti­on mit dem »kapi­ta­lis­tisch-faschis­ti­schen Wes­ten« ste­hen. Beson­ders exo­tisch sind ver­ein­zel­te Ele­men­te wie die Idee vom »Hei­li­gen Sta­lin«, For­de­run­gen nach der nuklea­ren Ver­nich­tung Euro­pas und der USA, Auf­ru­fe zur »Iso­lie­rung in wie­der­be­leb­ten Gulags« und zur Aus­rot­tung aller »Fein­de des Vater­lan­des«. Die­se laut­star­ke, aber völ­lig per­spek­tiv­lo­se Rhe­to­rik, die sich auf das Phan­tom der Restau­ra­ti­on stützt, wird auch von den Behör­den zu ihrem Vor­teil genutzt.

 

II. Die mon­ar­chis­ti­schen Impe­ria­lis­ten, die sich haupt­säch­lich um den Fern­seh­sen­der »Zar­grad« und ande­re Orga­ni­sa­tio­nen des Olig­ar­chen Kon­stan­tin Mal­o­fe­jew grup­pie­ren, stel­len den ande­ren Pol der »nuklea­ren Rhe­to­rik«. Sie ver­fü­gen über rela­tiv gro­ße Medi­en­res­sour­cen, haben aber nur sehr begrenz­ten Ein­fluß. Ihre Posi­ti­on spielt sowohl in poli­ti­schen als auch in aka­de­mi­schen Krei­sen nur eine äußerst mar­gi­na­le Rol­le. Anstel­le einer seriö­sen Agen­da mit tief­grei­fen­den Ana­ly­sen herr­schen Träu­me vom Wie­der­auf­bau einer impe­ria­len Mon­ar­chie mit einer sanf­ten Domi­nanz der rus­si­schen Bevöl­ke­rung vor, eine Rhe­to­rik der gött­li­chen Aus­er­wählt­heit und Hei­lig­keit des rus­si­schen Vol­kes und ein »kat­echon­ti­sches« Pathos ange­sichts der »bevor­ste­hen­den Kon­fron­ta­ti­on zwi­schen Gut und Böse«. Dies gip­felt in Ideen wie der Ernen­nung Putins zum Kai­ser oder einer »nuklea­ren Ortho­do­xie«, nach der Ruß­land als »Zivi­li­sa­ti­on Chris­ti« die Auf­ga­be habe, die gan­ze Welt zu reinigen.

Ver­tre­ter die­ser Grup­pe über­schnei­den sich in vie­ler­lei Hin­sicht mit den »Neo­eu­ra­sia­nis­ten-Tra­di­tio­na­lis­ten« (sie­he unten), haben aber im all­ge­mei­nen kei­ne sozia­lis­ti­schen Ten­den­zen und sind den rech­ten euro­päi­schen Kräf­ten eher freund­lich gesinnt, wobei sie davon aus­ge­hen, daß die­se abso­lut pro­rus­sisch sein wer­den, soll­ten sie an die Macht kommen.

 

III. Die tra­di­tio­na­len Neo­eu­ra­si­er sind die lau­tes­te und hys­te­rischs­te Grup­pe von Intel­lek­tu­el­len. Sie scha­ren sich um den Ideo­lo­gen Alex­an­der Dugin, der von sei­nen Anhän­gern als genia­ler Pro­phet der »Vier­ten Poli­ti­schen Theo­rie« und der »mul­ti­po­la­ren Welt« ver­ehrt wird. Die­se Grup­pe kann man gemäß den Klas­si­fi­zie­run­gen von Ernst Troeltsch bis Jacob Tau­bes als eine reli­gi­ös-escha­to­lo­gi­sche Sek­te bezeich­nen. Dugin und sei­ne Epi­go­nen ver­su­chen schon seit Jah­ren, ihre intel­lek­tu­el­len Pro­duk­te an den Kreml zu ver­kau­fen, doch dort bedient man sich ledig­lich ab und an ihres radi­ka­len Eifers. Die­se Grup­pe hat kei­nen sys­te­mi­schen Ein­fluß – prak­tisch nie­mand im aka­de­mi­schen oder poli­ti­schen Bereich nimmt ihr pro­vo­ka­tiv-aggres­si­ves, escha­to­lo­gi­sches (und zugleich post­mo­der­nes) Pathos der Revol­te gegen die Moder­ni­tät ernst. Sie stel­len so etwas wie die Jako­bi­ner des »patrio­ti­schen Lagers« dar, mit ihren stän­di­gen und offe­nen For­de­run­gen nach Repres­sio­nen und Säu­be­run­gen, ihrer per­ma­nen­ten Suche nach »Fein­den« und »Rus­so­pho­ben«, ihrem Anspruch, das Recht auf die Defi­ni­ti­on der Norm zu monopolisieren.

Ruß­land wird von ihnen als eine »eura­si­sche Zivi­li­sa­ti­on« dar­ge­stellt, die sich im Lau­fe ihrer Geschich­te dem Wes­ten immer wider­setzt habe. Heu­te sei es die letz­te Fes­tung (der »Kat­echon«) der tra­di­tio­nel­len Wer­te, wäh­rend das rus­si­sche Volk der »Volk-Got­tes­trä­ger« sei. Die gan­ze Welt wer­de ent­we­der von ihm geret­tet wer­den oder in Flam­men unter­ge­hen. Neben ihrem mes­sia­nisch-escha­to­lo­gi­schen Impe­ria­lis­mus steht die­se Rich­tung für eine extre­me Iden­ti­fi­ka­ti­on des Staats­chefs mit dem Volk, für die Andro­hung blu­ti­ger Repres­sa­li­en gegen »Ver­rä­ter« und ins­be­son­de­re für die For­de­rung, die Ukrai­ner zu ver­nich­ten oder die gan­ze Ukrai­ne um jeden Preis zu kontrollieren.

Geo­po­li­tisch ste­hen sie im Bun­de mit als »tra­di­tio­nell« klas­si­fi­zier­ten Staa­ten wie dem Iran, Nord­ko­rea oder Chi­na und unter­stüt­zen anti­west­li­che Ten­den­zen in der isla­mi­schen Welt und in Schwarz­afri­ka. Sie bedie­nen sich zudem einer »anti­ko­lo­nia­len Rhe­to­rik«, die manch­mal bis zum Ruf nach der Aus­rot­tung der Euro­pä­er geht, dem selt­sa­mer­wei­se eine Sehn­sucht nach einem »tra­di­tio­nel­len Euro­pa« zur Sei­te steht. Sowohl auf den »Rechts-« als auch auf den »Links­po­pu­lis­mus« wer­den unter­schieds­los Hoff­nun­gen gesetzt.

 

Die letz­ten bei­den Grup­pen haben sich eine gewis­se (mehr oder min­der gro­ße) Distanz und Auto­no­mie gegen­über den Regie­ren­den und dem offi­zi­el­len Nar­ra­tiv bewahrt. Ihre Haupt­schwie­rig­keit liegt dar­in, daß der Pseu­do­kon­ser­va­tis­mus der Behör­den mit dem Pseu­do­kon­ser­va­tis­mus der Bevöl­ke­rung durch­aus kom­ple­men­tär ist: Da wären die poli­ti­sche Kul­tur der »ech­ten Ker­le«, das post­mo­der­ne Kalei­do­skop aus Sym­bo­len des Rus­si­schen Rei­ches und der UdSSR, der lee­re Mora­lis­mus und die außen­po­li­ti­sche Fata Mor­ga­na als Ersatz für einen wah­ren Wer­te­kern. Im all­ge­mei­nen lei­den kon­ser­va­ti­ve intel­lek­tu­el­le Pro­gram­me (das Wort »rechts« hat in Ruß­land eine nega­ti­ve Kon­no­ta­ti­on) stark unter der Ad-hoc-Ver­wen­dung ihrer Frag­men­te durch die offi­zi­el­le Poli­tik sowie ihrer rhe­to­ri­schen Ver­schmel­zung mit anti­west­li­chen Ressentiments.

 

IV. Die natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Bewe­gung (»Rus­si­sche Euro­pä­er«), deren Posi­ti­on auf die poli­ti­sche Publi­zis­tik von Alex­an­der Sol­sche­ni­zyn zurück­geht, wur­de im 21. Jahr­hun­dert von Kon­stan­tin Kry­low und sei­nem Kreis ent­wi­ckelt und zu einem ziem­lich gro­ßen Netz­werk von öffent­li­chen Dis­kus­si­ons­klubs, Zeit­schrif­ten, Grup­pen, Kanä­len und Buch­lä­den aus­ge­baut. Poli­tisch und orga­ni­sa­to­risch wur­de die Bewe­gung in den 2010er Jah­ren de fac­to wegen ihrer natio­nal ori­en­tier­ten Rhe­to­rik von den Macht­ha­bern zer­schla­gen. Gegen­wär­tig liegt der Schwer­punkt auf akti­vis­ti­schen, bil­dungs­po­li­ti­schen und publi­zis­ti­schen Akti­vi­tä­ten, die sich an jun­ge Men­schen und Intel­lek­tu­el­le richten.

Ihre all­ge­mei­ne Agen­da ist gemä­ßigt natio­na­lis­tisch und anti­is­la­misch, ihre Beto­nung liegt auf »rus­sisch« und nicht auf »ruß­län­disch«, im Gegen­satz zur offi­zi­el­len Posi­ti­on der Behör­den der »Ruß­län­di­schen Föde­ra­ti­on«. Der Eth­no­zen­tris­mus kann dabei sowohl säku­la­re als auch reli­giö­se Töne anneh­men. Sie läßt sich sozio­lo­gisch als eine oppo­si­tio­nel­le Vari­an­te des patrio­ti­schen Dis­kur­ses dar­stel­len, in der das Sub­jekt der Bewah­rung nicht das Macht­sys­tem, son­dern das Volk ist.

Ihre euro­pa­freund­li­che Grund­hal­tung drückt sich in der Vor­stel­lung aus, Ruß­land sei ange­sichts der Selbst­zer­stö­rung des Wes­tens das letz­te ver­blie­be­ne Land der klas­si­schen euro­päi­schen Kul­tur. Die Bevor­zu­gung eines Natio­nal­staa­tes nach dem Vor­bild des »gesun­den Wes­tens« trennt die Natio­nal­de­mo­kra­ten radi­kal von den drei oben­ge­nann­ten Strö­mun­gen. Auch der anti­kom­mu­nis­ti­sche Impuls zeigt sich hier am stärks­ten – die Ein­stel­lun­gen zum sowje­ti­schen Pro­jekt rei­chen von gemä­ßigt bis radi­kal nega­tiv; deut­lich ist eine kri­ti­sche Hal­tung gegen­über dem his­to­risch-mytho­lo­gi­schen Nar­ra­tiv des Gro­ßen Vater­län­di­schen Krie­ges und der offi­ziö­sen Geschichts- und Erin­ne­rungs­po­li­tik. Ihre zwie­späl­ti­ge Hal­tung gegen­über den aktu­el­len Ereig­nis­sen ent­springt einer all­ge­mei­nen Skep­sis bezüg­lich des poli­ti­schen Kur­ses der Eli­ten und äußert sich ent­we­der in einem situa­ti­ven Loya­lis­mus oder einem natio­nal ori­en­tier­ten Oppositionismus.

 

V.  Die letz­te Grup­pe läßt sich unter dem Begriff »auf­ge­klär­ter Kon­ser­va­tis­mus« zusam­men­fas­sen. Dabei han­delt es sich eher um eine bestimm­te Denk­wei­se als um eine poli­ti­sche Strö­mung. Die­se Posi­ti­on domi­niert in aka­de­mi­schen und aka­de­mie­na­hen intel­lek­tu­el­len Krei­sen, die kei­nen öffent­li­chen Ver­ei­ni­gun­gen ange­hö­ren und kei­ne eige­ne poli­ti­sche Ver­tre­tung haben. Auf­grund ihrer Hete­ro­ge­ni­tät ist die­se Grup­pe schwer zu fas­sen. Den­noch kön­nen all­ge­mei­ne Leit­li­ni­en skiz­ziert wer­den. Es han­delt sich um das Pro­jekt einer kon­ser­va­ti­ven Moder­ne, eines kon­ser­va­ti­ven (oder kon­ser­va­tiv-libe­ra­len) Refor­mis­mus, für den sich nach der soge­nann­ten Son­der­ope­ra­ti­on in der Ukrai­ne ein Fens­ter öff­nen und Mög­lich­kei­ten erge­ben könnten.

Dem der­zei­ti­gen poli­ti­schen Ton ste­hen die »auf­ge­klär­ten Kon­ser­va­ti­ven« skep­tisch bis ableh­nend gegen­über. Sie sehen in der all­mäh­li­chen Wie­der­her­stel­lung der Kon­tak­te zu Euro­pa und den USA einen Aus­weg aus der aktu­el­len Kri­se (Kon­zep­te wie »Glo­ba­ler Nor­den«, das Pro­jekt »Gro­ßes Euro­pa«, »Ruß­land als Zivi­li­sa­ti­on mit euro­päi­schen Wur­zeln«). Bemer­kens­wert sind das Feh­len natio­na­lis­ti­scher Rhe­to­rik sowie die Skep­sis gegen­über auf­ge­zwun­ge­nen his­to­risch-mytho­lo­gi­schen Nar­ra­ti­ven und der all­ge­mei­nen Ent­wick­lungs­rich­tung Ruß­lands im letz­ten Jahrhundert.

Trotz feh­len­der öffent­li­cher Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren und ­mini­ma­ler Akti­vi­tät im gesell­schafts­po­li­ti­schen Raum hat die­ser Kreis den größ­ten Zugang zu admi­nis­tra­ti­ven und mate­ri­el­len Res­sour­cen sowie weit­ge­streu­te Ver­bin­dun­gen im poli­ti­schen Umfeld. Die Ein­stel­lung der »auf­ge­klär­ten Kon­ser­va­ti­ven« zur kul­tu­rel­len und intel­lek­tu­el­len – und in Zukunft auch poli­ti­schen – Inter­ak­ti­on mit kon­takt­be­rei­ten kon­ser­va­ti­ven Kräf­ten in Euro­pa und den Ver­ei­nig­ten Staa­ten könn­te durch pri­va­te Ver­bin­dun­gen einen Ein­fluß auf das tech­no­kra­ti­sche Sys­tem neh­men und wesent­lich dazu bei­tra­gen, wel­che Rich­tung Ruß­land in Zukunft ein­schla­gen wird.

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