»Eurasianismus« entstand in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts im Umfeld »weißer« russischer Exilanten. Der Begriff bezeichnet eine Weltanschauung, die die russische Zivilisation als ein eigenständiges Phänomen betrachtet, das weder dem »Westen« (Europa) noch dem »Osten« (Asien) angehört, sondern einer Synthese aus beidem entspringt.
Geographisch betrachtet, ist Rußland »weder Europa noch Asien, sondern das Rückgrat der eurasischen Landmasse« (Jordis von Lohausen), aber auch das »Herzland« der europäisch-asiatisch-afrikanischen »Weltinsel« (Halford Mackinder).
Diese Landmasse hat keine eindeutig bestimmten Grenzen (dadurch können expansive Bestrebungen legitimiert werden), und sie ist nicht bloß von Russen besiedelt, sondern von einer Vielzahl von Völkern unterschiedlicher Kultur und unterschiedlichen Ursprungs. Indem sie jedoch der russischen Kultur innerhalb dieses Großraums eine staatsbildende Rolle als »primus inter pares« zusprechen, sind die Eurasianer auch immer Reichsideologen, Theoretiker einer postrevolutionären, ethnokulturellen Gemeinschaftsbildung unter russischer Vorherrschaft gewesen. Rußland wird im Eurasianismus als multinationale Nation beschrieben, unter deren staatlichem Dach eine Pluralität von Völkern einen Lebensraum und ein gemeinsames Schicksal teilt. Mit der traditionellen Auffassung Rußlands als europäischer Großmacht wird gebrochen.
Wassili Tatischtschew (1686 – 1750), einer der wichtigsten Intellektuellen der Petrinischen Reformen, hatte Rußland geographisch in eine europäische und eine asiatische Hälfte aufgeteilt, mit dem Ural-Gebirge als (scheinbar) natürlicher Grenze. Die Eurasier lehnten diese trügerische »vertikale« Anschauungsweise zugunsten einer horizontalen Aufteilung in Tundra, Wald und Steppe ab.
So konnte das Zusammenspiel der Landschaften, von Slawen, Turkvölkern und Zentralasiaten als Grundlage einer gemeinsamen eurasischen Identität angenommen werden. Dieser »pan-eurasische Nationalismus« unterscheidet die Eurasianer von den »Slawophilen« des 19. Jahrhunderts, die insofern zu ihren Ahnherren zählen, als sie die Europäisierung Rußlands ablehnten, zum Teil beeinflußt von deutschen romantischen Philosophen wie Schelling und Herder.
Obwohl sie Antikommunisten waren, begrüßten die Eurasianer die Revolution von 1917 als radikalen Bruch mit Europa und der westlich orientierten Romanow-Dynastie. So sah es auch Oswald Spengler, der das bolschewistische Rußland als im innersten Kern »asiatisch« kategorisierte, trotz der westeuropäischen Herkunft des Bolschewismus selbst. Der schwedische Schriftsteller Rütger Essén (1890 – 1972) deutete die Revolution als »russisch-asiatische Reaktion gegen alles europäische Wesen, gegen all das, wofür St. Petersburg, diese gehaßte Stadt, verantwortlich war.«
Die Eurasianer grenzen Rußland und seinen Einflußbereich nicht nur geographisch, ethnisch und kulturell vom »Westen« ab, sondern weisen auch dessen universalistische Ansprüche zurück, insbesondere die liberale Demokratie, den »Fortschritt« und den Kapitalismus anglo-amerikanischen Zuschnitts. Es geht also auch um das Recht auf eine staatlich, kulturell, gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich andersgeartete, selbstbestimmte innere Ordnung.
Eurasismus ist eine Spielart eines Phänomens, das Ian Buruma und Avishai Margalit »Okzidentalismus« nannten, in Anlehnung an den von Edward Said geprägten Begriff »Orientalismus«. Wie dieser sei auch der »Okzidentalismus« eine »entmenschlichende« Karikatur. Er reduziere eine ganze Zivilisation auf eine »Masse seelenloser, dekadenter, geldgieriger, wurzelloser, gottloser, gefühlloser Parasiten«, denunziere sie als »kosmopolitisch«, »oberflächlich«, »materialistisch«, »individualistisch«, »arrogant« und so weiter.
Das Feindbild des »Okzidentalismus« in diesem Sinne ist die aus der Aufklärung und der industriellen Revolution entstandene Maschinen‑, Geld- und Konsumzivilisation, die ganzheitliche Gemeinschaften unterminiert, Heiligtümer entweiht und die Vielfalt der Kulturen nivelliert, wenn nicht gar komplett zerstört.
Im Visier steht also die in Westeuropa geborene säkulare, liberale Moderne, die im Laufe der Neuzeit die gesamte Welt in Beschlag genommen hat und deren wichtigster Fackelträger heute die Vereinigten Staaten von Amerika sind. Die Feinde dieser »offenen Gesellschaft«, die sich nur auf Technik, kalte Rationalität und Kapitalanhäufung versteht, aber kein Organ besitzt für Spiritualität, Heroismus und tragische menschliche Größe, füllen die Schurkengalerie des 20. und 21. Jahrhunderts: »Kriege gegen den Westen«, schreiben seine Apologeten Buruma und Margalit, wurden »im Namen der russischen Seele, der germanischen Rasse, des Staats-Shintō, des Kommunismus und des Islam« geführt. Es sei notwendig, zu verstehen, was all jene antreibt, die »den Westen hassen«, denn ansonsten könne es nicht gelingen, sie daran zu hindern, »die Menschheit zu zerstören«. Die gegnerische Seite sieht dies freilich genau umgekehrt.
Europa und die Menschheit ist der Titel einer Gründungsschrift der Eurasischen Bewegung, die 1922 in deutscher Übersetzung erschienen ist. Ihr Verfasser, Nikolai S. Trubetzkoy (1890 – 1938), sollte später als Begründer der Phonologie die Sprachwissenschaft revolutionieren. Seine Schrift ist eine Polemik gegen den »Chauvinismus« und »Kosmopolitimus« der Westeuropäer, die er ethnisch als »Romanogermanen« bestimmt. Es handle sich hier nur um einen scheinbaren Gegensatz, in Wahrheit um zwei Stufen ein und derselben Sache.
»Der Kosmopolit«, schrieb Trubetzkoy, »lehnt die Unterschiede zwischen den Nationalitäten ab; wenn es solche Unterschiede gibt, so sind sie zu vernichten. Die zivilisierte Menschheit soll einheitlich sein und eine einheitliche Kultur haben. Die unzivilisierten Völker müssen diese Kultur annehmen, sich ihr anschließen und nach ihrem Eintritt in die Familie der zivilisierten Völker mit ihnen zusammen den Weg des Fortschritts der Welt gehen.«
Der Betrug daran sei aber, daß der Kosmopolit den zivilisatorischen Maßstab nach seinem eigenen Bilde geformt habe und andere Völker daran messe. Sein Universalismus ist ein verkappter Chauvinismus, sein Kosmopolitismus ein Egozentrismus, der seine eigene Art zu leben für die einzig wahre, vernünftige, moralische hält und dem Rest der Welt aufzuzwingen trachtet, wenn nötig mit roher Gewalt. Wenn sie »Menschheit« sagen, wollen die Romanogermanen betrügen, denn sie halten sich selbst für die Spitzen der Menschheit, die allen anderen Völkern und Rassen zivilisatorisch weit überlegen seien.
Trubetzkoy nimmt hier Huntingtons Slogan »What is universalism to the West, is imperialism to the rest« gedanklich vorweg. Die »Europäisierung« der Welt, die er als äußerstes Übel wertet, entspricht der späteren Amerikanisierung und (kulturellen) Globalisierung. Ihren Ansprüchen hält er einen radikalen Kulturrelativismus entgegen, der negiert, daß es objektive Maßstäbe gäbe, um den Grad des »Fortschritts« oder der »Zivilisiertheit« eines Volkes zu messen. So stehen die »Romanogermanen« gegen »alle anderen Völker des Erdballs«, mit anderen Worten: Europa gegen die Menschheit.
Ähnlich hatte dies bereits Konstantin Leontjew (1831 – 1891) gesehen, der den »Durchschnittseuropäer« beschuldigte, »Ideal und Werkzeug universaler Zerstörung« zu sein. Mit Verblüffung erkennt der heutige Leser in Trubetzkoys Universalismuskritik Argumente wieder, wie sie Jahrzehnte später sehr ähnlich etwa von Alain de Benoist und Henning Eichberg formuliert wurden. In der Tat entstand auch der Begriff »Ethnopluralismus« in einem antieurozentrischen, antikolonialistischen und antiwestlichen Kontext. Er verteidigt die Vielfalt der Völker und Kulturen gegen die homogenisierende »One World«-Politik, analog zum Eurasianismus, der sich selbst als ideologische Waffe im Kampf um eine »multipolare Weltordnung« versteht.
Ein Ethnopluralist wie Trubetzkoy war auch der wichtigste Vordenker des Neo-Eurasianismus, der Historiker und Ethnologe Lew Gumiljow (1912 – 1992). Allerdings war er ein Ethnopluralist russischer Prägung, der die Vielfältigkeit der Völker nicht durch ihr Selbstbestimmungsrecht, sondern durch ihre Einhegung in abgegrenzte Großräume oder Imperien gewährleistet sah. Im Gegensatz zu Alexander Dugin, der die eurasianische Theorie mit eschatologischen, nationalbolschewistischen, traditionalistischen, strukturalistischen, konservativ-revolutionären und »postmodernen« Elementen angereichert hat und im »Atlantismus« einen apokalyptischen Menschheitsfeind erblickt, ist Gumiljow in Deutschland kaum bekannt.
Ein einziges Buch wurde bislang ins Deutsche übersetzt, Von der Rus zu Rußland, eine »ethnische Geschichte der Russen«, die im 18. Jahrhundert endet. Wenn er überhaupt Erwähnung findet, dann in der Regel als übler Obskurantist, dessen »abstruse Ideen« für »die zunehmende Abspaltung« Rußlands von Europa »mitverantwortlich« seien (Andreas Umland, NZZ, 6. August 2022).
In Putins Rußland hingegen genießt Gumiljow außerordentliches Ansehen. Mark Bassin, Autor eines erschöpfenden Werkes über Gumiljows Gedankenwelt und ihren ideengeschichtlichen Kontext, berichtet, daß von seinen Werken Millionen von Exemplaren verkauft wurden und er mit Herodot und Marx, Spengler und Einstein in einem Atemzug genannt wird. Etliche Organisationen widmen sich seinem Andenken, darunter das Lew-Gumiljow-Zentrum in Moskau mit Ablegern unter anderem in St. Petersburg und Baku.
In der kasachischen Hauptstadt Astana ist eine Universität nach ihm benannt, und im Zentrum von Kasan, der Haupstadt von Tatarstan, kann man ein großes Denkmal bewundern. Filmregisseure wie Nikita Michalkow und Sergej Bodrow, bildende Künstler wie Alexej Beljajew-Gintowt und Andrej Molodkin nannten das Werk Gumiljows als Inspiration für ihre Arbeit. Führende Politiker bekennen sich zu ihm, allen voran Putin selbst, der sein »außergewöhnliches Talent« und die »einzigartige Wirkkraft« seiner Ideen pries.
Den größten Teil seines Lebens war Gumiljow allerdings ein Verfolgter und Außenseiter des Sowjetregimes gewesen. Er war der Sohn äußerst illustrer Eltern, der bedeutenden Dichter Nikolai Gumiljow (1886 – 1921) und Anna Achmatowa (1889 – 1966). Sein Vater, Offizier der kaiserlichen Armee, war als »Konterrevolutionär« hingerichtet worden, seine Mutter galt in der Zeit des Stalinismus als »Reaktionärin« und mußte erhebliche Repressionen erdulden. Ihr einziger Sohn Lew, der in ihrem Gedichtzyklus Requiem eine zentrale Rolle spielt, verbrachte von 1938 bis 1956 insgesamt dreizehn Jahre in Straf- und Arbeitslagern, unterbrochen von einer kurzen Periode der »Freiheit«, unter anderem im Dienst der Roten Armee. In letzterer Funktion nahm er an der Schlacht um die Seelower Höhen und an der Eroberung Berlins teil.
Trotz seiner immensen politischen Vorbelastung gelang es Gumiljow schließlich, an der Leningrader Universität eine Nische zu finden und sich einen Namen als Spezialist für die Geschichte der eurasischen Steppenvölker zu erarbeiten. Im Zuge dieser Forschungstätigkeit entwickelte er eigenwillige Theorien über das Wesen der Ethnizität und ihre Bedeutung in der Geschichte Rußlands, die zwar von offizieller Seite verworfen wurden, »unterirdisch« aber einen erheblichen Einfluß ausübten. In der Zeit der »Perestroika« wurde Gumiljow allmählich rehabiliert, schließlich sogar als eine Art »lebende Legende« gefeiert.
1989 erschien sein Hauptwerk, Ethnogenese und die Biosphäre der Erde, das bislang nur in Samisdat-Drucken kursiert hatte. Gumiljow stand den Reformen Gorbatschows jedoch ablehnend gegenüber, da sie auf eine erneute »Verwestlichung« und Liberalisierung Rußlands abzielten. Er schloß sich nun den »Rettern des Imperiums« an, die die Sowjetunion vergeblich vor ihrer Auflösung zu bewahren versuchten. Für die Oppositionellen der Jelzin-Ära war sein Werk ein bedeutender Bezugspunkt, ehe es unter Putin »Mainstream« wurde und bis heute geblieben ist.
Gumiljows Thesen unterscheiden sich in etlichen Punkten vom »klassischen« Eurasianismus. Dieser war zwar einerseits mit seinen exilierten Vertretern ausgestorben, andererseits hatte Stalin die Entkoppelung Rußlands von Europa vorangetrieben und unter dem Slogan der »Völkerfreundschaft« eine Politik der Affirmation der nationalen Kulturen in der Sowjetunion lanciert, was etliche Modifikationen der leninistischen Doktrin voraussetzte, die die letztendliche Abschaffung von Völkern und ihre Verschmelzung zu einer universalen Menschheit unter sozialistischen Vorzeichen vorsah. Nach Stalins Tod wurde erneut ein einheitlicher »Sowjetmensch« als supraethnischer Idealtypus propagiert.
Im scharfen Gegensatz hierzu sollten in Gumiljows eurasischer Vision die Völker des multiethnischen Reiches ihre Eigenart pflegen und durch konsequente Endogamie und Abgrenzung bewahren: »Lebt in Frieden, aber separat voneinander.« Dieser Grundsatz führte ihn zu einer revisionistischen Umdeutung der russischen Geschichte, insbesondere zu einer positiven Neubewertung der Epoche des »Tartarenjochs« und der mongolischen Invasion, der er eine bedeutende »ethnogenetische« Funktion zuschrieb. Insbesondere das Khanat der »Goldenen Horde« betrachtete er als grundlegend für die Konzeption und Entwicklung der russischen Staatlichkeit.
Umgekehrt verneinte Gumiljow, daß die Russen jemals irgendein anderes Volk unterdrückt, kolonisiert oder an seiner Entfaltung gehindert hätten. Er trennte die Kiewer Rus vom moskowitischen Rußland ab und klassifizierte beide als separate ethnische Entitäten mit unterschiedlichen geschichtlichen Verlaufskurven. Als eigentliches »Joch« deutete er die Herrschaft der deutsch-französisch orientierten Eliten seit Peter dem Großen, die ein artfremdes Element in den russischen Ethnos eingeführt hätten.
In Gumiljows eurasischem Szenario herrschte der Einklang innerlich verwandter und befreundeter Völker vor, weshalb er auch die Idee einer Vormachtstellung des russischen Volkes innerhalb Eurasiens konsequent (und wenig plausibel) ablehnte. Hand in Hand mit seiner historischen Revision ging die Entwicklung einer generellen Theorie der Ethnogenese, in deren Zentrum die Frage nach Ursprung, Aufstieg und Verfall der Völker steht. Ähnlich wie Spengler betrachtete er Völker und Kulturen als lebendige kollektive Organismen, die einen natürlichen Wachstums‑, Alterungs- und schließlich Zerfallsprozeß durchlaufen.
Am Beginn dieses ethnogenetischen Zyklus steht der Einbruch einer »kosmischen« Energie, die Gumiljow mit dem aus dem Lateinischen entlehnten Kunstwort »passionarnost« bezeichnete. In dieser »Passionarität« steckt ebenso »Leidenschaft« wie »Leidensfähigkeit«. Sie beschreibt die vitale Impulskraft, die aus einer biologischen Ethnie ein Volk mit einem bestimmten Schicksal und der Fähigkeit zur Errichtung komplexer zivilsatorischer Gebilde macht. Völker unterscheiden sich vor allem durch ihren Grad an Passionarität.
Es ist die »passionare« Kraft, die erzeugt, was Spengler, der die Frage nach der Ursache der kulturellen Phänomene für irrelevant und unbeantwortbar hielt, als »Kulturseele« bezeichnete. Und ähnlich wie bei Spengler sind die Träger der Passionarität immer nur kleine, schöpferische Eliten, die sich mit dem Status quo nicht zufrieden geben und eine dynamische Unruhe in die biologische Stabilität der simplen, ursprünglichen ethnischen Existenz bringen, die lediglich die Fortpflanzung und Fortführung des Althergebrachten zum Zweck hat.
Die »großen« Gestalten der Weltgeschichte sind exemplarische passionare Figuren: Alexander der Große, Mohammed, Jeanne d’Arc, Alexander Newski, Dschingis Khan, Napoleon, aber auch Michelangelo, James Cook oder Isaac Newton. Dem primären »Passionarstoß« folgt eine Inkubationsphase, dann eine Phase des manifesten passionaren Anstiegs, bis schließlich die Eroberungsphase schlechthin, die Gipfelphase erreicht ist, in der sich die passionar inspirierte Ethnie »im Rahmen ihres Landschaftsareals« zu einem »Superethnos« entwickelt, also zu einer Zivilisation, die weit über ihren Ursprungsethnos und ‑ort hinaus eine kulturelle Prägekraft und Wirkmächtigkeit entfaltet (ein Beispiel dafür wären auch Trubetzkoys »Romanogermanen«).
Innerhalb der Sowjetunion zählte Gumiljow sieben Superethnien: großrussisch (Russen, Weißrussen, Ukrainer …), steppisch (Kasachen, Tataren, Kalmücken …), islamisch (Turkmenen, Usbeken), westeuropäisch (Litauer, Esten, Letten), arktisch (Tungusen, Chanten, Ewenken …), byzantinisch (Georgier, Armenier) und jüdisch, wobei er in letzterer Ethnie einen »chimärischen«, »parasitischen«, »antisystemischen« Sonderfall ohne organische Verhaftung an eine konkrete Landschaft erblickte, was ihre Neigung zum Kosmopolitismus und Merkantilismus fördere. Im Lebenszyklus der Ethnien, der rund 1200 Jahre andauert, folgt auf die akmetische Phase eine Umbruchsphase, die von einem starken Abfall der Passionarität der Superethnie gekennzeichnet ist.
Diese Phase kann nichtsdestoweniger von starken Unruhen und gewaltsamen Konflikten gekennzeichnet sein. Dieser folgt die »Trägheitsphase«, der »goldene Herbst« einer Kultur, in der die Früchte der vergangenen Errungenschaften verzehrt werden, während die leidenschaftslosen »Subpassionaren«, eine Art »letzte Menschen«, überhandnehmen. Dieser Phase folgen Fellachisierung, Stillstand und schließlich Verlöschen der ethnokulturellen Traditionen. Anders als Spengler, der das Entstehen einer neuen Zivilisation in Rußland prophezeite, sah Gumiljow sein Volk im Stadium des ethnischen Herbstes angelangt, der, wie er hoffte, eine Ära von Frieden und Ordnung bringen werde.
Seine Formel vom Aufstieg und Fall der Völker hatte in Gumiljows eigenen Augen eine streng naturwissenschaftliche Gültigkeit. In seinem materialistischen Weltbild gab es keinen Platz für Metaphysik, was ihn essentiell von Alexander Dugin unterscheidet. Völker waren für ihn natürliche Phänomene der »Biosphäre«, wie Tiere, Pflanzen und Mineralien biochemischen und physikalischen Gesetzen unterworfen. Ihr Schicksal sei weitgehend biologisch und »behaviouristisch« determiniert. So seien auch ethnische Antipathien und Sympathien naturgegebene Phänomene, die sich dem menschlichen Willen und Wollen entziehen.
Gumiljows Betonung des biologisch-genetischen Charakters von Ethnien wies jedoch einige Widersprüche auf. Er leugnete zwar nicht die Existenz von Großrassen, verwarf jedoch die »Rassenkunde« als Instrument zur Charakterisierung von Ethnien. Statt dessen betonte er die Bedeutung der Landschaft und des Klimas für die Entstehung und Evolution einer Ethnie, die im wesentlichen durch »Verhaltensstereotypen« charakterisiert sei, die jedoch kulturell weitergegeben werden und nicht genetisch »programmiert« sind: Ein Kind im Mutterleib hat demnach noch keine ethnische Identität.
Als erworbene oder empfangene Eigenschaft vererbbar sei hingegen der passionare Impuls, der allerdings dem Gesetz der Entropie unterworfen sei, wie es im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik formuliert wird. Er bricht in die rein biologische Existenz ein wie ein transzendenter Blitz, ruft spontane genetische Mutationen hervor, weckt physische und chemische Energien, die die Völker zu Ruhm und Eroberung antreiben.
Der Einbruch dieser irrationalen Energie führt auch zu ethnischen Mischungen, die »neue« Völker und kollektive Typen hervorbringen. Doch woher kommt sie? Aus der Stratosphäre, als meßbare »kosmische« Strahlung? Unschwer läßt sich in Gumiljows Theorem der »Passionarität« eine im wesentlichen mytho-poetische Konstruktion im wissenschaftlichen Gewande erkennen. Es ist wohl genau diese »mystische«, suggestive Qualität seines Werkes, und nicht seine wissenschaftliche Exaktheit oder Seriosität, die Gumiljows hohe Anziehungskraft im heutigen russischen und postsowjetischen Raum befördert.