Gegen den Westen – eurasische Ideen

PDF der Druckfassung aus Sezession 118/ Februar 2024

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

»Eura­sia­nis­mus« ent­stand in den zwan­zi­ger Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts im Umfeld »wei­ßer« rus­si­scher Exi­lan­ten. Der Begriff bezeich­net eine Welt­an­schau­ung, die die rus­si­sche Zivi­li­sa­ti­on als ein eigen­stän­di­ges Phä­no­men betrach­tet, das weder dem »Wes­ten« (Euro­pa) noch dem »Osten« (Asi­en) ange­hört, son­dern einer Syn­the­se aus bei­dem entspringt.

Geo­gra­phisch betrach­tet, ist Ruß­land »weder Euro­pa noch Asi­en, son­dern das Rück­grat der eura­si­schen Land­mas­se« (Jor­dis von Lohau­sen), aber auch das »Herz­land« der euro­pä­isch-asia­tisch-afri­ka­ni­schen »Welt­in­sel« (­Hal­ford Mackinder).

Die­se Land­mas­se hat kei­ne ein­deu­tig bestimm­ten Gren­zen (dadurch kön­nen expan­si­ve Bestre­bun­gen legi­ti­miert wer­den), und sie ist nicht bloß von Rus­sen besie­delt, son­dern von einer Viel­zahl von Völ­kern unter­schied­li­cher Kul­tur und unter­schied­li­chen Ursprungs. Indem sie jedoch der rus­si­schen Kul­tur inner­halb die­ses Groß­raums eine staats­bil­den­de Rol­le als »pri­mus inter pares« zuspre­chen, sind die Eura­sia­ner auch immer Reichs­ideologen, Theo­re­ti­ker einer post­re­vo­lu­tio­nä­ren, eth­no­kul­tu­rel­len Gemein­schafts­bil­dung unter rus­si­scher Vor­herr­schaft gewe­sen. Ruß­land wird im Eura­sia­nis­mus als mul­ti­na­tio­na­le Nati­on beschrie­ben, unter deren staat­li­chem Dach eine Plu­ra­li­tät von Völ­kern einen Lebens­raum und ein gemein­sa­mes Schick­sal teilt. Mit der tra­di­tio­nel­len Auf­fas­sung Ruß­lands als euro­päi­scher Groß­macht wird gebrochen.

Was­si­li Tatischt­schew (1686 – 1750), einer der wich­tigs­ten Intel­lek­tu­el­len der Petri­ni­schen Refor­men, hat­te Ruß­land geo­gra­phisch in eine euro­päi­sche und eine asia­ti­sche Hälf­te auf­ge­teilt, mit dem Ural-Gebir­ge als (schein­bar) natür­li­cher Gren­ze. Die Eura­si­er lehn­ten die­se trü­ge­ri­sche »ver­ti­ka­le« Anschau­ungs­wei­se zuguns­ten einer hori­zon­ta­len Auf­tei­lung in Tun­dra, Wald und Step­pe ab.

So konn­te das Zusam­men­spiel der Land­schaf­ten, von Sla­wen, Turk­völ­kern und Zen­tral­asia­ten als Grund­la­ge einer gemein­sa­men eura­si­schen Iden­ti­tät ange­nom­men wer­den. Die­ser »pan-eura­si­sche Natio­na­lis­mus« unter­schei­det die Eura­sia­ner von den »Sla­wo­phi­len« des 19. Jahr­hun­derts, die inso­fern zu ihren Ahn­her­ren zäh­len, als sie die Euro­päi­sie­rung Ruß­lands ablehn­ten, zum Teil beein­flußt von deut­schen roman­ti­schen Phi­lo­so­phen wie Schel­ling und Herder.

Obwohl sie Anti­kom­mu­nis­ten waren, begrüß­ten die Eura­sia­ner die Revo­lu­ti­on von 1917 als radi­ka­len Bruch mit Euro­pa und der west­lich ori­en­tier­ten Roma­now-Dynas­tie. So sah es auch Oswald Speng­ler, der das bol­sche­wis­ti­sche Ruß­land als im inners­ten Kern »asia­tisch« kate­go­ri­sier­te, trotz der west­eu­ro­päi­schen Her­kunft des Bol­sche­wis­mus selbst. Der schwe­di­sche Schrift­stel­ler Rüt­ger Essén (1890 – 1972) deu­te­te die Revo­lu­ti­on als »rus­sisch-asia­ti­sche Reak­ti­on gegen alles euro­päi­sche Wesen, gegen all das, wofür St. Peters­burg, die­se geh­aß­te Stadt, ver­ant­wort­lich war.«

Die Eura­sia­ner gren­zen Ruß­land und sei­nen Ein­fluß­be­reich nicht nur geo­gra­phisch, eth­nisch und kul­tu­rell vom »Wes­ten« ab, son­dern wei­sen auch des­sen uni­ver­sa­lis­ti­sche Ansprü­che zurück, ins­be­son­de­re die libe­ra­le Demo­kra­tie, den »Fort­schritt« und den Kapi­ta­lis­mus ang­lo-ame­ri­ka­ni­schen Zuschnitts. Es geht also auch um das Recht auf eine staat­lich, kul­tu­rell, gesell­schafts­po­li­tisch und wirt­schaft­lich anders­ge­ar­te­te, selbst­be­stimm­te inne­re Ordnung.

Eura­sis­mus ist eine Spiel­art eines Phä­no­mens, das Ian Buru­ma und Avis­hai Mar­ga­lit »Okzi­den­ta­lis­mus« nann­ten, in Anleh­nung an den von Edward Said gepräg­ten Begriff »Ori­en­ta­lis­mus«. Wie die­ser sei auch der »Okzi­den­ta­lis­mus« eine »ent­mensch­li­chen­de« Kari­ka­tur. Er redu­zie­re eine gan­ze Zivi­li­sa­ti­on auf eine »Mas­se see­len­lo­ser, deka­den­ter, geld­gie­ri­ger, wur­zel­lo­ser, gott­lo­ser, gefühl­lo­ser Para­si­ten«, denun­zie­re sie als »kos­mo­po­li­tisch«, »ober­fläch­lich«, »mate­ria­lis­tisch«, »indi­vi­dua­lis­tisch«, »arro­gant« und so weiter.

Das Feind­bild des »Okzi­den­ta­lis­mus« in die­sem Sin­ne ist die aus der Auf­klä­rung und der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on ent­stan­de­ne Maschinen‑, Geld- und Kon­sum­zi­vi­li­sa­ti­on, die ganz­heit­li­che Gemein­schaf­ten unter­mi­niert, Hei­lig­tü­mer ent­weiht und die Viel­falt der Kul­tu­ren nivel­liert, wenn nicht gar kom­plett zerstört.

Im Visier steht also die in West­eu­ro­pa gebo­re­ne säku­la­re, libe­ra­le Moder­ne, die im Lau­fe der Neu­zeit die gesam­te Welt in Beschlag genom­men hat und deren wich­tigs­ter Fackel­trä­ger heu­te die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka sind. Die Fein­de die­ser »offe­nen Gesell­schaft«, die sich nur auf Tech­nik, kal­te Ratio­na­li­tät und Kapi­tal­an­häu­fung ver­steht, aber kein Organ besitzt für Spi­ri­tua­li­tät, Hero­is­mus und tra­gi­sche mensch­li­che Grö­ße, fül­len die Schur­ken­ga­le­rie des 20. und 21. Jahr­hun­derts: »Krie­ge gegen den Wes­ten«, schrei­ben sei­ne Apo­lo­ge­ten Buru­ma und Mar­ga­lit, wur­den »im Namen der rus­si­schen See­le, der ger­ma­ni­schen Ras­se, des Staats-Shin­tō, des Kom­mu­nis­mus und des Islam« geführt. Es sei not­wen­dig, zu ver­ste­hen, was all jene antreibt, die »den Wes­ten has­sen«, denn ansons­ten kön­ne es nicht gelin­gen, sie dar­an zu hin­dern, »die Mensch­heit zu zer­stö­ren«. Die geg­ne­ri­sche Sei­te sieht dies frei­lich genau umgekehrt.

Euro­pa und die Mensch­heit ist der Titel einer Grün­dungs­schrift der Eura­si­schen Bewe­gung, die 1922 in deut­scher Über­set­zung erschie­nen ist. Ihr Ver­fas­ser, Niko­lai S. Tru­betz­koy (1890 – 1938), soll­te spä­ter als Begrün­der der Pho­no­lo­gie die Sprach­wis­sen­schaft revo­lu­tio­nie­ren. Sei­ne Schrift ist eine Pole­mik gegen den »Chau­vi­nis­mus« und »Kos­mo­po­li­ti­mus« der West­eu­ro­pä­er, die er eth­nisch als »Roma­no­ger­ma­nen« bestimmt. Es hand­le sich hier nur um einen schein­ba­ren Gegen­satz, in Wahr­heit um zwei Stu­fen ein und der­sel­ben Sache.

»Der Kos­mo­po­lit«, schrieb Tru­betz­koy, »lehnt die Unter­schie­de zwi­schen den Natio­na­li­tä­ten ab; wenn es sol­che Unter­schie­de gibt, so sind sie zu ver­nich­ten. Die zivi­li­sier­te Mensch­heit soll ein­heit­lich sein und eine ein­heit­li­che Kul­tur haben. Die unzi­vi­li­sier­ten Völ­ker müs­sen die­se Kul­tur anneh­men, sich ihr anschlie­ßen und nach ihrem Ein­tritt in die Fami­lie der zivi­li­sier­ten Völ­ker mit ihnen zusam­men den Weg des Fort­schritts der Welt gehen.«

Der Betrug dar­an sei aber, daß der Kos­mo­po­lit den zivi­li­sa­to­ri­schen Maß­stab nach sei­nem eige­nen Bil­de geformt habe und ande­re Völ­ker dar­an mes­se. Sein Uni­ver­sa­lis­mus ist ein ver­kapp­ter Chau­vi­nis­mus, sein Kos­mo­po­li­tis­mus ein Ego­zen­tris­mus, der sei­ne eige­ne Art zu leben für die ein­zig wah­re, ver­nünf­ti­ge, mora­li­sche hält und dem Rest der Welt auf­zu­zwin­gen trach­tet, wenn nötig mit roher Gewalt. Wenn sie »Mensch­heit« sagen, wol­len die Roma­no­ger­ma­nen betrü­gen, denn sie hal­ten sich selbst für die Spit­zen der Mensch­heit, die allen ande­ren Völ­kern und Ras­sen zivi­li­sa­to­risch weit über­le­gen seien.

Tru­betz­koy nimmt hier Hun­ting­tons Slo­gan »What is uni­ver­sa­lism to the West, is impe­ria­lism to the rest« gedank­lich vor­weg. Die »Euro­päi­sie­rung« der Welt, die er als äußers­tes Übel wer­tet, ent­spricht der spä­te­ren Ame­ri­ka­ni­sie­rung und (kul­tu­rel­len) Glo­ba­li­sie­rung. Ihren Ansprü­chen hält er einen radi­ka­len Kul­tur­re­la­ti­vis­mus ent­ge­gen, der negiert, daß es objek­ti­ve Maß­stä­be gäbe, um den Grad des »Fort­schritts« oder der »Zivi­li­siert­heit« eines Vol­kes zu mes­sen. So ste­hen die »Roma­no­ger­ma­nen« gegen »alle ande­ren Völ­ker des Erd­balls«, mit ande­ren Wor­ten: Euro­pa gegen die Menschheit.

Ähn­lich hat­te dies bereits Kon­stan­tin Leont­jew (1831 – 1891) gese­hen, der den »Durch­schnitt­s­eu­ro­pä­er« beschul­dig­te, »Ide­al und Werk­zeug uni­ver­sa­ler Zer­stö­rung« zu sein. Mit Ver­blüf­fung erkennt der heu­ti­ge Leser in Tru­betz­koys Uni­ver­sa­lis­mus­kri­tik Argu­men­te wie­der, wie sie Jahr­zehn­te spä­ter sehr ähn­lich etwa von Alain de Benoist und Hen­ning Eich­berg for­mu­liert wur­den. In der Tat ent­stand auch der Begriff »Eth­no­plu­ra­lis­mus« in einem anti­eu­ro­zen­tri­schen, anti­ko­lo­nia­lis­ti­schen und anti­west­li­chen Kon­text. Er ver­tei­digt die Viel­falt der Völ­ker und Kul­tu­ren gegen die homo­ge­ni­sie­ren­de »One World«-Politik, ana­log zum Eura­sia­nis­mus, der sich selbst als ideo­lo­gi­sche Waf­fe im Kampf um eine »mul­ti­po­la­re Welt­ord­nung« versteht.

Ein Eth­no­plu­ra­list wie Tru­betz­koy war auch der wich­tigs­te Vor­den­ker des Neo-Eura­sia­nis­mus, der His­to­ri­ker und Eth­no­lo­ge Lew Gumil­jow (1912 – 1992). Aller­dings war er ein Eth­no­plu­ra­list rus­si­scher Prä­gung, der die Viel­fäl­tig­keit der Völ­ker nicht durch ihr Selbst­be­stim­mungs­recht, son­dern durch ihre Ein­he­gung in abge­grenz­te Groß­räu­me oder Impe­ri­en gewähr­leis­tet sah. Im Gegen­satz zu Alex­an­der Dugin, der die eura­sia­ni­sche Theo­rie mit escha­to­lo­gi­schen, natio­nal­bol­sche­wis­ti­schen, tra­di­tio­na­lis­ti­schen, struk­tu­ra­lis­ti­schen, kon­ser­va­tiv-revo­lu­tio­nä­ren und »post­mo­der­nen« Ele­men­ten ange­rei­chert hat und im »Atlan­tis­mus« einen apo­ka­lyp­ti­schen Mensch­heits­feind erblickt, ist Gumil­jow in Deutsch­land kaum bekannt.

Ein ein­zi­ges Buch wur­de bis­lang ins Deut­sche über­setzt, Von der Rus zu Ruß­land, eine »eth­ni­sche Geschich­te der Rus­sen«, die im 18. Jahr­hun­dert endet. Wenn er über­haupt Erwäh­nung fin­det, dann in der Regel als übler Obsku­ran­tist, des­sen »abstru­se Ideen« für »die zuneh­men­de Abspal­tung« Ruß­lands von Euro­pa »mit­ver­ant­wort­lich« sei­en (Andre­as Umland, NZZ, 6. August 2022).

In Putins Ruß­land hin­ge­gen genießt Gumil­jow außer­or­dent­li­ches Anse­hen. Mark Bas­sin, Autor eines erschöp­fen­den Wer­kes über Gumil­jows Gedan­ken­welt und ihren ideen­ge­schicht­li­chen Kon­text, berich­tet, daß von sei­nen Wer­ken Mil­lio­nen von Exem­pla­ren ver­kauft wur­den und er mit Hero­dot und Marx, Speng­ler und Ein­stein in einem Atem­zug genannt wird. Etli­che Orga­ni­sa­tio­nen wid­men sich sei­nem Andenken, dar­un­ter das Lew-Gumil­jow-Zen­trum in Mos­kau mit Able­gern unter ande­rem in St. Peters­burg und Baku.

In der kasa­chi­schen Haupt­stadt Ast­a­na ist eine Uni­ver­si­tät nach ihm benannt, und im Zen­trum von Kasan, der Haup­stadt von Tatar­stan, kann man ein gro­ßes Denk­mal bewun­dern. Film­re­gis­seu­re wie Niki­ta Mich­al­kow und Ser­gej Bod­row, bil­den­de Künst­ler wie Ale­xej ­Bel­ja­jew-Gin­towt und Andrej Molod­kin nann­ten das Werk Gumil­jows als Inspi­ra­ti­on für ihre Arbeit. Füh­ren­de Poli­ti­ker beken­nen sich zu ihm, allen vor­an Putin selbst, der sein »außer­ge­wöhn­li­ches Talent« und die »ein­zig­ar­ti­ge Wirk­kraft« sei­ner Ideen pries.

Den größ­ten Teil sei­nes Lebens war Gumil­jow aller­dings ein Ver­folg­ter und Außen­sei­ter des Sowjet­re­gimes gewe­sen. Er war der Sohn äußerst illus­trer Eltern, der bedeu­ten­den Dich­ter Niko­lai Gumil­jow (1886 – 1921) und Anna Ach­ma­towa (1889 – 1966). Sein Vater, Offi­zier der kai­ser­li­chen Armee, war als »Kon­ter­re­vo­lu­tio­när« hin­ge­rich­tet wor­den, sei­ne Mut­ter galt in der Zeit des Sta­li­nis­mus als »Reak­tio­nä­rin« und muß­te erheb­li­che Repres­sio­nen erdul­den. Ihr ein­zi­ger Sohn Lew, der in ihrem Gedicht­zy­klus Requi­em eine zen­tra­le Rol­le spielt, ver­brach­te von 1938 bis 1956 ins­ge­samt drei­zehn Jah­re in Straf- und Arbeits­la­gern, unter­bro­chen von einer kur­zen Peri­ode der »Frei­heit«, unter ande­rem im Dienst der Roten Armee. In letz­te­rer Funk­ti­on nahm er an der Schlacht um die See­lower Höhen und an der Erobe­rung Ber­lins teil.

Trotz sei­ner immensen poli­ti­schen Vor­be­las­tung gelang es Gumil­jow schließ­lich, an der Lenin­gra­der Uni­ver­si­tät eine Nische zu fin­den und sich einen Namen als Spe­zia­list für die Geschich­te der eura­si­schen Step­pen­völ­ker zu erar­bei­ten. Im Zuge die­ser For­schungs­tä­tig­keit ent­wi­ckel­te er eigen­wil­li­ge Theo­rien über das Wesen der Eth­ni­zi­tät und ihre Bedeu­tung in der Geschich­te Ruß­lands, die zwar von offi­zi­el­ler Sei­te ver­wor­fen wur­den, »unter­ir­disch« aber einen erheb­li­chen Ein­fluß aus­üb­ten. In der Zeit der »Pere­stroi­ka« wur­de Gumil­jow all­mäh­lich reha­bi­liert, schließ­lich sogar als eine Art »leben­de Legen­de« gefeiert.

1989 erschien sein Haupt­werk, Ethno­genese und die Bio­sphä­re der Erde, das bis­lang nur in Sami­s­dat-Dru­cken kur­siert hat­te. Gumil­jow stand den Refor­men Gor­bat­schows jedoch ableh­nend gegen­über, da sie auf eine erneu­te »Ver­west­li­chung« und Libe­ra­li­sie­rung Ruß­lands abziel­ten. Er schloß sich nun den »Ret­tern des Impe­ri­ums« an, die die Sowjet­uni­on ver­geb­lich vor ihrer Auf­lö­sung zu bewah­ren ver­such­ten. Für die Oppo­si­tio­nel­len der Jel­zin-Ära war sein Werk ein bedeu­ten­der Bezugs­punkt, ehe es unter Putin »Main­stream« wur­de und bis heu­te geblie­ben ist.

Gumil­jows The­sen unter­schei­den sich in etli­chen Punk­ten vom »klas­si­schen« Eura­sia­nis­mus. Die­ser war zwar einer­seits mit sei­nen exi­lier­ten Ver­tre­tern aus­ge­stor­ben, ande­rer­seits hat­te Sta­lin die Ent­kop­pe­lung Ruß­lands von Euro­pa vor­an­ge­trie­ben und unter dem Slo­gan der »Völ­ker­freund­schaft« eine Poli­tik der Affir­ma­ti­on der natio­na­len Kul­tu­ren in der Sowjet­uni­on lan­ciert, was etli­che Modi­fi­ka­tio­nen der leni­nis­ti­schen Dok­trin vor­aus­setz­te, die die letzt­end­li­che Abschaf­fung von Völ­kern und ihre Ver­schmel­zung zu einer uni­ver­sa­len Mensch­heit unter sozia­lis­ti­schen Vor­zei­chen vor­sah. Nach Sta­lins Tod wur­de erneut ein ein­heit­li­cher »Sowjet­mensch« als supra­eth­ni­scher Ide­al­ty­pus propagiert.

Im schar­fen Gegen­satz hier­zu soll­ten in Gumil­jows eura­si­scher Visi­on die Völ­ker des mul­ti­eth­ni­schen Rei­ches ihre Eigen­art pfle­gen und durch kon­se­quen­te Endo­ga­mie und Abgren­zung bewah­ren: »Lebt in Frie­den, aber sepa­rat von­ein­an­der.« Die­ser Grund­satz führ­te ihn zu einer revi­sio­nis­ti­schen Umdeu­tung der rus­si­schen Geschich­te, ins­be­son­de­re zu einer posi­ti­ven Neu­be­wer­tung der Epo­che des »Tar­ta­ren­jochs« und der mon­go­li­schen Inva­si­on, der er eine bedeu­ten­de »eth­no­ge­neti­sche« Funk­ti­on zuschrieb. Ins­be­son­de­re das Kha­nat der »Gol­de­nen Hor­de« betrach­te­te er als grund­le­gend für die Kon­zep­ti­on und Ent­wick­lung der rus­si­schen Staatlichkeit.

Umge­kehrt ver­nein­te Gumil­jow, daß die Rus­sen jemals irgend­ein ande­res Volk unter­drückt, kolo­ni­siert oder an sei­ner Ent­fal­tung gehin­dert hät­ten. Er trenn­te die Kie­wer Rus vom mos­ko­wi­ti­schen Ruß­land ab und klas­si­fi­zier­te bei­de als sepa­ra­te eth­ni­sche Enti­tä­ten mit unter­schied­li­chen geschicht­li­chen Ver­laufs­kur­ven. Als eigent­li­ches »Joch« deu­te­te er die Herr­schaft der deutsch-fran­zö­sisch ori­en­tier­ten Eli­ten seit Peter dem Gro­ßen, die ein art­frem­des Ele­ment in den rus­si­schen Eth­nos ein­ge­führt hätten.

In Gumil­jows eura­si­schem Sze­na­rio herrsch­te der Ein­klang inner­lich ver­wand­ter und befreun­de­ter Völ­ker vor, wes­halb er auch die Idee einer Vor­macht­stel­lung des rus­si­schen Vol­kes inner­halb Eura­si­ens kon­se­quent (und wenig plau­si­bel) ablehn­te. Hand in Hand mit sei­ner his­to­ri­schen Revi­si­on ging die Ent­wick­lung einer gene­rel­len Theo­rie der Eth­no­ge­nese, in deren Zen­trum die Fra­ge nach Ursprung, Auf­stieg und Ver­fall der Völ­ker steht. Ähn­lich wie Speng­ler betrach­te­te er Völ­ker und Kul­tu­ren als leben­di­ge kol­lek­ti­ve Orga­nis­men, die einen natür­li­chen Wachstums‑, Alte­rungs- und schließ­lich Zer­falls­pro­zeß durchlaufen.

Am Beginn die­ses eth­no­ge­neti­schen Zyklus steht der Ein­bruch einer »kos­mi­schen« Ener­gie, die Gumil­jow mit dem aus dem Latei­ni­schen ent­lehn­ten Kunst­wort »pas­sio­nar­n­ost« bezeich­ne­te. In die­ser »Pas­sio­na­ri­tät« steckt eben­so »Lei­den­schaft« wie »Lei­dens­fä­hig­keit«. Sie beschreibt die vita­le Impuls­kraft, die aus einer bio­lo­gi­schen Eth­nie ein Volk mit einem bestimm­ten Schick­sal und der Fähig­keit zur Errich­tung kom­ple­xer zivil­sa­to­ri­scher Gebil­de macht. Völ­ker unter­schei­den sich vor allem durch ihren Grad an Passionarität.

Es ist die »pas­sio­na­re« Kraft, die erzeugt, was Speng­ler, der die Fra­ge nach der Ursa­che der kul­tu­rel­len Phä­no­me­ne für irrele­vant und unbe­ant­wort­bar hielt, als »Kul­tur­see­le« bezeich­ne­te. Und ähn­lich wie bei Speng­ler sind die Trä­ger der Pas­sio­na­ri­tät immer nur klei­ne, schöp­fe­ri­sche Eli­ten, die sich mit dem Sta­tus quo nicht zufrie­den geben und eine dyna­mi­sche Unru­he in die bio­lo­gi­sche Sta­bi­li­tät der simp­len, ursprüng­li­chen eth­ni­schen Exis­tenz brin­gen, die ledig­lich die Fort­pflan­zung und Fort­füh­rung des Alt­her­ge­brach­ten zum Zweck hat.

Die »gro­ßen« Gestal­ten der Welt­ge­schich­te sind exem­pla­ri­sche pas­sio­na­re Figu­ren: Alex­an­der der Gro­ße, Moham­med, Jean­ne d’Arc, ­Alex­an­der New­s­ki, Dschin­gis Khan, Napo­le­on, aber auch Michel­an­ge­lo, James Cook oder Isaac New­ton. Dem pri­mä­ren »Pas­sio­nar­stoß« folgt eine ­Inku­ba­ti­ons­pha­se, dann eine Pha­se des mani­fes­ten pas­sio­na­ren Anstiegs, bis schließ­lich die Erobe­rungs­pha­se schlecht­hin, die Gip­fel­pha­se erreicht ist, in der sich die pas­sio­nar inspi­rier­te Eth­nie »im Rah­men ihres Land­schafts­are­als« zu einem »Super­ethnos« ent­wi­ckelt, also zu einer Zivi­li­sa­ti­on, die weit über ihren Ursprungs­eth­nos und ‑ort hin­aus eine kul­tu­rel­le Prä­ge­kraft und Wirk­mäch­tig­keit ent­fal­tet (ein Bei­spiel dafür wären auch Tru­betz­koys »Roma­no­ger­ma­nen«).

Inner­halb der Sowjet­uni­on zähl­te Gumil­jow sie­ben Super­eth­ni­en: groß­rus­sisch (Rus­sen, Weiß­rus­sen, Ukrai­ner …), step­pisch (Kasa­chen, ­Tata­ren, Kal­mü­cken …), isla­misch (Turk­me­nen, Usbe­ken), west­eu­ro­pä­isch (Litau­er, Esten, Let­ten), ark­tisch (Tun­gu­sen, Chan­ten, Ewen­ken …), byzan­ti­nisch (Geor­gi­er, Arme­ni­er) und jüdisch, wobei er in letz­te­rer Eth­nie einen »chi­mä­ri­schen«, »para­si­ti­schen«, »anti­sys­te­mi­schen« Son­der­fall ohne orga­ni­sche Ver­haf­tung an eine kon­kre­te Land­schaft erblick­te, was ihre Nei­gung zum Kos­mo­po­li­tis­mus und Mer­kan­ti­lis­mus för­de­re. Im Lebens­zy­klus der Eth­ni­en, der rund 1200 Jah­re andau­ert, folgt auf die akme­ti­sche Pha­se eine Umbruchs­pha­se, die von einem star­ken Abfall der Pas­sio­na­ri­tät der Super­ethnie gekenn­zeich­net ist.

Die­se Pha­se kann nichts­des­to­we­ni­ger von star­ken Unru­hen und gewalt­sa­men Kon­flik­ten gekenn­zeich­net sein. Die­ser folgt die »Träg­heits­pha­se«, der »gol­de­ne Herbst« einer Kul­tur, in der die Früch­te der ver­gan­ge­nen Errun­gen­schaf­ten ver­zehrt wer­den, wäh­rend die lei­den­schafts­lo­sen »Sub­pas­sio­na­ren«, eine Art »letz­te Men­schen«, über­hand­neh­men. Die­ser Pha­se fol­gen Fel­lachi­sie­rung, Still­stand und schließ­lich Ver­lö­schen der eth­no­kul­tu­rel­len Tra­di­tio­nen. Anders als Speng­ler, der das Ent­ste­hen einer neu­en Zivi­li­sa­ti­on in Ruß­land pro­phe­zei­te, sah ­Gumil­jow sein Volk im Sta­di­um des eth­ni­schen Herbs­tes ange­langt, der, wie er hoff­te, eine Ära von Frie­den und Ord­nung brin­gen werde.

Sei­ne For­mel vom Auf­stieg und Fall der Völ­ker hat­te in Gumil­jows eige­nen Augen eine streng natur­wis­sen­schaft­li­che Gül­tig­keit. In sei­nem mate­ria­lis­ti­schen Welt­bild gab es kei­nen Platz für Meta­phy­sik, was ihn essen­ti­ell von Alex­an­der Dugin unter­schei­det. Völ­ker waren für ihn natür­li­che Phä­no­me­ne der »Bio­sphä­re«, wie Tie­re, Pflan­zen und Mine­ra­li­en bio­che­mi­schen und phy­si­ka­li­schen Geset­zen unter­wor­fen. Ihr Schick­sal sei weit­ge­hend bio­lo­gisch und »beha­viou­ris­tisch« deter­mi­niert. So sei­en auch eth­ni­sche Anti­pa­thien und Sym­pa­thien natur­ge­ge­be­ne Phä­no­me­ne, die sich dem mensch­li­chen Wil­len und Wol­len entziehen.

Gumil­jows Beto­nung des bio­lo­gisch-gene­ti­schen Cha­rak­ters von ­Eth­ni­en wies jedoch eini­ge Wider­sprü­che auf. Er leug­ne­te zwar nicht die Exis­tenz von Groß­ras­sen, ver­warf jedoch die »Ras­sen­kun­de« als Instru­ment zur Cha­rak­te­ri­sie­rung von Eth­ni­en. Statt des­sen beton­te er die Bedeu­tung der Land­schaft und des Kli­mas für die Ent­ste­hung und Evo­lu­ti­on einer Eth­nie, die im wesent­li­chen durch »Ver­hal­tens­ste­reo­ty­pen« cha­rak­te­ri­siert sei, die jedoch kul­tu­rell wei­ter­ge­ge­ben wer­den und nicht gene­tisch »pro­gram­miert« sind: Ein Kind im Mut­ter­leib hat dem­nach noch kei­ne eth­ni­sche Identität.

Als erwor­be­ne oder emp­fan­ge­ne Eigen­schaft ver­erb­bar sei hin­ge­gen der pas­sio­na­re Impuls, der aller­dings dem Gesetz der Entro­pie unter­wor­fen sei, wie es im zwei­ten Haupt­satz der Ther­mo­dy­na­mik for­mu­liert wird. Er bricht in die rein bio­lo­gi­sche Exis­tenz ein wie ein trans­zendenter Blitz, ruft spon­ta­ne gene­ti­sche Muta­tio­nen her­vor, weckt phy­si­sche und che­mi­sche Ener­gien, die die Völ­ker zu Ruhm und Erobe­rung antreiben.

Der Ein­bruch die­ser irra­tio­na­len Ener­gie führt auch zu eth­ni­schen Mischun­gen, die »neue« Völ­ker und kol­lek­ti­ve Typen her­vor­brin­gen. Doch woher kommt sie? Aus der Stra­to­sphä­re, als meß­ba­re »kos­mi­sche« Strah­lung? Unschwer läßt sich in Gumil­jows Theo­rem der »Pas­sio­na­ri­tät« eine im wesent­li­chen mytho-poe­ti­sche Kon­struk­ti­on im wis­sen­schaft­li­chen Gewan­de erken­nen. Es ist wohl genau die­se »mys­ti­sche«, sug­ges­ti­ve Qua­li­tät sei­nes Wer­kes, und nicht sei­ne wis­sen­schaft­li­che Exakt­heit oder Serio­si­tät, die Gumil­jows hohe Anzie­hungs­kraft im heu­ti­gen rus­si­schen und post­sowjetischen Raum befördert.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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