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von Jörg Seidel -- PDF der Druckausgabe aus Sezession 118/ Februar 2024

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Als Lenins Hirn am 21. Janu­ar 1924 nach einem neu­er­li­chen Schlag­an­fall ver­losch, war der Weg zur hem­mungs­lo­sen Aus­le­gung frei. Man zer­schnitt es in 30 000 Scheib­chen, um dem Genie auf die Spur zu kom­men, fand aber nur unfaß­bar ver­kalk­te Gefä­ße. Von nun an konn­te man sein Werk deu­ten und mißbrauchen.

Sta­lin ließ nur weni­ge Tage ver­strei­chen, um den ganz hohen, den reli­giö­sen und fort­an maß­ge­ben­den Ton anzu­schla­gen, indem er in sei­nen Nekro­lo­gen – die mehr Lit­ur­gien gli­chen – über Lenin vom »geni­als­ten unter den genia­len Füh­rern«, vom »Füh­rer von höhe­rem Typus«, ja sogar vom »Berg­ad­ler« sprach. Spä­tes­tens im Früh­jahr wur­de Lenin in den Uni­ver­si­täts­vor­le­sun­gen »Über die Grund­la­gen des Leni­nis­mus« kano­ni­siert, ein­ge­mau­ert und ins Mau­so­le­um gescho­ben – der Text gehör­te seit­her zum obli­ga­to­ri­schen Cur­ri­cu­lum aller Kom­mu­nis­ten. Im Osten war die Dis­kus­si­on damit bis auf wei­te­res beendet.

Aber auch am ande­ren welt­an­schau­li­chen Ufer erschie­nen ori­gi­nel­le Inter­pre­ta­tio­nen. René Fülöp-Mil­ler bestach 1926 mit dem Grund­la­gen­werk Geist und Gesicht des Bol­sche­wis­mus, das den Kennt­nis­stand sei­ner Zeit über die Sowjet­uni­on bün­del­te. In ihm wur­de ein »ganz neu­er Typus his­to­ri­scher Grö­ße« ent­wor­fen, der nie­mals »an Gefühl und Ein­bil­dungs­kraft appel­lier­te, son­dern stets an den Wil­len und die Ent­schlos­sen­heit«, der frei­lich auch einen Hang zum Tech­ni­zis­ti­schen offen­bar­te. In einer lesens­wer­ten Fort­set­zung stellt er Lenin und Gan­dhi neben­ein­an­der, zwei Anti­po­den, die durch ihr »Pathos eksta­ti­schen Glau­bens« und den »Ver­such, lang­ge­heg­te Träu­me der Mensch­heit prak­tisch zu rea­li­sie­ren«, ver­gleich­bar sei­en. Er betont Lenins aus­ge­präg­ten Prag­ma­tis­mus, sei­nen Hang, jeder »Leh­re oder Theo­rie immer die Form einer unmit­tel­bar not­wen­di­gen prak­ti­schen For­de­rung« zu ent­neh­men. (1)

Der rumä­ni­sche Schrift­stel­ler Vale­riu Mar­cu, der als jun­ger Mann zu Lenin gepil­gert war, um ihm zu die­nen, und sich spä­ter der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on annä­her­te, ver­faß­te ein ers­tes an Werk und Bio­gra­phie ori­en­tier­tes Psy­cho­gramm, ja eine Wesens­be­stim­mung. (2) All das aber wur­de von einer Arbeit des Phi­lo­so­phen Hugo Fischer über­ragt, der 1933 mit sei­nem Lenin (3) eine bis­lang unüber­trof­fen tief­sin­ni­ge phi­lo­so­phi­sche, staats­theo­re­ti­sche, öko­no­mi­sche und polit­prak­ti­sche Erhel­lung des Lenin­schen Den­kens vorlegte.

Bei­de, Mar­cu und Fischer, waren mit Ernst Jün­ger befreun­det. Den einen hielt Jün­ger für »einen der bes­ten Lage­be­ur­tei­ler« (4), den ande­ren, den »Magis­ter«, such­te er in sei­ner Leip­zi­ger Zeit als Inspi­ra­ti­ons­quel­le auf. (5) Fischers Lenin kam Jün­gers Arbei­ter auf­fäl­lig nahe. Auch Ernst Nie­kisch sah in Lenin den »Machia­vell, Hob­bes und Rous­se­au der pro­le­ta­ri­schen Gesell­schafts­schicht« (6), und Carl Schmitt erblick­te in Lenins mili­tär­theo­re­ti­schen Auf­zeich­nun­gen »eines der groß­ar­tigs­ten Doku­men­te der Welt- und Geis­tes­ge­schich­te«. (7)

Lenin war für Schmitt der ers­te, der die Bedeu­tung des moder­nen Par­ti­sa­nen­kamp­fes auf Basis der Freund-Feind-Dicho­to­mie begrif­fen hat­te – aner­ken­nend schrieb er: »Die Kennt­nis des Fein­des war das Geheim­nis von Lenins unge­heu­er­li­cher Schlag­kraft«. Und: »Die Irre­gu­la­ri­tät des Klas­sen­kamp­fes stellt nicht nur eine Linie, son­dern das gan­ze Gebäu­de der poli­ti­schen und sozia­len Ord­nung in Fra­ge. In dem rus­si­schen Berufs­re­vo­lu­tio­när Lenin erfaß­te sich die­se neue Wirk­lich­keit zu phi­lo­so­phi­scher Bewußt­heit. Das Bünd­nis der Phi­lo­so­phie mit dem Par­ti­sa­nen, das Lenin geschlos­sen hat, ent­fes­sel­te uner­war­tet neue, explo­si­ve Kräfte.«

Mit dem Unter­gang der Sowjet­uni­on geriet Lenins Den­ken in dop­pel­ter Hin­sicht ins Ver­ges­sen. Zum einen wur­de der kata­stro­phi­sche Miß­er­folg des »Sowjet­sys­tems« als Wider­le­gung der Theo­rien ver­stan­den, zum ande­ren wur­den die Archi­ve geöff­net, und es erschien ein »neu­er Lenin«. Was nun ans Licht kam, ist in der Wir­kung mit Chruscht­schows Geheim­re­de zu ver­glei­chen. Die ohne­hin nur noch gebrems­te pro­duk­ti­ve Aus­ein­an­der­set­zung mit dem genui­nen Den­ken wur­de been­det und statt des­sen die Per­son als Mons­ter vor­ge­führt. Das läßt sich exem­pla­risch an der Bio­gra­phik verdeutlichen.

Dmi­t­ri Wol­ko­go­nows volu­mi­nö­se Arbeit Lenin. Uto­pie und Ter­ror – in der die neu­en Akten aus­ge­legt wur­den – schlug 1994 ein wie eine Bom­be: Alle gro­ßen Main­stream­bio­gra­phien schlos­sen sich der mora­li­schen Les­art an und stell­ten die inhalt­li­che Aus­ein­an­der­set­zung ein. (8) Dabei hat­te bereits Rudolf Bahros explo­si­ve »Kri­tik des real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus« (9), die mit mar­xis­ti­schem und leni­nis­ti­schem Besteck die inne­ren Apo­rien des DDR-Sys­tems offen­leg­te, das Poten­ti­al bestä­tigt, das eine pro­duk­ti­ve Lenin-Lek­tü­re bis heu­te haben kann. Es kommt dar­auf an, das größ­te stra­te­gi­sche Genie des letz­ten Jahr­hun­derts auch für die Rech­te frucht­bar zu machen.

Viel Auf­se­hen macht man die­ser Tage um Gramsci und des­sen Hege­mo­nie­be­griff, aber Gramsci, der Leni­nist, ist nur der Zwerg auf den Schul­tern des Rie­sen, und sein Haupt­schlag­wort ist ledig­lich von Lenin über­nom­men, wor­aus er im übri­gen nie ein Hehl gemacht hat. Gramsci dürf­te Sta­lins Gebrauch der Voka­bel bekannt gewe­sen sein, auch Sino­wjews  (10) Rück­füh­rung der Kate­go­rie auf Lenin vom Früh­werk an (1894). (11)

Schon die Ver­bin­dung der poli­ti­schen Hege­mo­nie mit der »Erzie­hung der Arbei­ter« (12), das spä­te­re Ein­ge­ständ­nis des kul­tu­rel­len Defi­zits oder das Rin­gen um die Deu­tungs­macht his­to­ri­scher Ereig­nis­se zei­gen die Ein­sicht Lenins in die Erwei­te­rung des Begriffs auf die Kul­tur an. Lenin ließ den Begriff spä­ter fal­len und wies damit auf eine wesent­li­che Unter­schei­dung hin, die in der rech­ten Dis­kus­si­on oft über­se­hen wird: die Bedeu­tung der Hege­mo­nie vor und nach der Machtergreifung.

Auch aus die­sem Grun­de sind die unga­ri­schen Erfah­run­gen (13) für deut­sche Ver­hält­nis­se nur bedingt nutz­bar; jene wei­sen vor allem dar­auf hin, daß – ganz im Lenin­schen Sin­ne – kul­tu­rel­le Hege­mo­nie zuerst durch auto­ri­ta­ti­ve, admi­nis­tra­ti­ve und büro­kra­ti­sche Hege­mo­nie errun­gen wer­den muß. Gramscis Kon­zept der »ege­mo­nia coraz­z­a­ta di coer­ci­zio­ne – der gepan­zer­ten Hege­mo­nie des Zwangs«, fun­da­men­tal, aber öfters unter­schla­gen, gesteht dies ein. Auch wenn man über kul­tu­rel­le Hege­mo­nie spricht, kommt man an Lenin nicht vorbei.

Will man sich die­sem Den­ken heu­te frucht­brin­gend nähern, braucht es zwei Vor­an­nah­men und Den­kübun­gen: Man muß zum einen das mora­li­sche Gewicht able­gen, aus­klam­mern (ohne es zu leug­nen), womit die­se Gestalt beschwert ist – wir kön­nen nicht ent­schei­den, was his­to­ri­sche Hand­lun­gen objek­tiv bedeu­ten, nur weil wir mit dem nach­gän­gi­gen Wis­sen den situa­ti­ven Kon­text glau­ben defi­nie­ren zu dür­fen. Und man muß mit ­Alt­hus­ser unter­stel­len, daß Lenin über­haupt ori­gi­nell und phi­lo­so­phisch gedacht hat (14), oder mit Fischer den »über­le­ge­nen, rück­sichts­lo­sen und uner­schro­cke­nen Intel­lekt«, das »poli­ti­sche Mas­siv«, den »Wis­sen­den« anerkennen.

Man muß einer­seits die kon­kret his­to­ri­schen Bedin­gun­gen stu­die­ren, in denen Lenin jeweils gewirkt und geschrie­ben hat, also akri­bisch kon­tex­tua­li­sie­ren – bei­spiel­haft steht dafür Lars T. Lihs Mei­len­stein Lenin Redis­co­ver­ed (15), das bedeu­tends­te Buch zum The­ma in den letz­ten Jahr­zehn­ten –, aber ande­rer­seits muß man zugleich in der Lage sein, von die­sen Kon­kre­tio­nen abzu­se­hen, um das Wesent­li­che der Aus­sa­ge extra­hie­ren und abs­tra­hie­ren zu kön­nen. Dann wird man unwei­ger­lich die ener­ge­ti­sie­ren­de Kraft spü­ren, die vie­le der Arbei­ten aus­strah­len, die­sen ent­schie­den männ­li­chen, ent­schlos­se­nen Zugriff. Es kann begeis­tern, Lenin zu lesen! Das Wie ist oft wich­ti­ger als das Was.

Wir ken­nen Lenin als Dik­ta­tor, Macht­men­schen, Dog­ma­ti­ker. In sei­nem Den­ken war er jedoch ein Meis­ter der Bewe­gung, der auch die Lehr­sät­ze des Mar­xis­mus zu ver­flüs­si­gen wuß­te, wenn dies ziel­füh­rend war, etwa die Leh­re von der öko­no­mi­schen Basis: »Poli­tik ist der kon­zen­trier­te Aus­druck der Öko­no­mie« – das ist klas­sisch mar­xis­tisch –, aber auch: »Die Poli­tik hat not­wen­di­ger­wei­se das Pri­mat gegen­über der Öko­no­mik.« ­Lenin inter­es­siert uns als gro­ßer Ler­ner, von sei­nem Ler­nen kann man ler­nen: »Um einen Gegen­stand wirk­lich zu ken­nen, muß man alle sei­ne Sei­ten, alle Zusam­men­hän­ge und ›Ver­mitt­lun­gen‹ erfas­sen und erforschen.

Wir wer­den das nie­mals voll­stän­dig errei­chen, die For­de­rung der All­sei­tig­keit wird uns aber vor Feh­lern und vor Erstar­rung bewah­ren.« (16) In einer sol­chen Aus­sa­ge steckt eben­so die Auf­for­de­rung zum all­sei­ti­gen Ler­nen wie die Ein­sicht in sei­ne Unmög­lich­keit und den­noch die Not­wen­dig­keit, nicht etwa, weil sie end­gül­ti­ge Wahr­hei­ten schü­fe, son­dern vor Ver­krus­tung bewahrt – Lenin ist ganz wesent­lich ein Bewe­gungs­den­ker, in der Bewe­gung sei­end und sie den­kend, er ver­ein­te in Theo­rie und Pra­xis Här­te und Fluidität.

Basie­rend auf einem welt­an­schau­li­chen Fun­da­ment – der Leh­re von Marx – und aus­ge­stat­tet mit einer anpas­sungs­fä­hi­gen Denk­me­tho­de – der Dia­lek­tik –, speis­te sich Lenins Den­ken in wech­seln­den Rhyth­men aus meh­re­ren Quel­len. Die­se waren: die his­to­ri­sche Ana­ly­se der öko­no­mi­schen und sozia­len Bedin­gun­gen, die Ein­fü­gung die­ser Ana­ly­se in die Zeit­läuf­te, das Erken­nen des Cha­rak­ters der jewei­li­gen geschicht­li­chen Epo­che und tak­ti­schen Lage, das Begrei­fen, wer im Moment das his­to­risch trei­ben­de Sub­jekt ist und in wel­chem Bewußt­sein es han­delt, das tak­tisch Mög­li­che vor dem Hin­ter­grund des stra­te­gi­schen Maxi­mal­ziels zu defi­nie­ren, aber eben­so zähl­ten Empi­rie und Erfah­rung zu sei­nen Quel­len. Zu zahl­reich sind die Berich­te von bewußt gesuch­ten Gesprä­chen mit Men­schen aus dem ein­fa­chen Volk, als daß sie nur im Reich der Legen­den­bil­dung zu ver­or­ten wären.

In exis­ten­ti­el­len his­to­ri­schen Lagen konn­te er sei­ne gesam­te Leh­re umstür­zen – April­the­sen, Brest-Litowsk 1917: »Selbst­ver­ständ­lich dür­fen wir die­se Streit­fra­ge nicht unter dem Gesichts­punkt betrach­ten, ob die­ser oder jener Weg des Han­delns wün­schens­wert ist, son­dern müs­sen von den objek­ti­ven Bedin­gun­gen der gegen­wär­ti­gen Lage und dem Ver­hält­nis der gesell­schaft­li­chen Kräf­te aus­ge­hen.« (17)

Pha­sen poli­ti­scher Ohn­macht nutz­te Lenin zum exzes­si­ven Ler­nen und Schrei­ben grund­le­gen­der Wer­ke: In der Ver­ban­nung schuf er sich sein öko­no­mi­sches Fun­da­ment, im Exil ent­stand sei­ne Pro­gramm­schrift Was tun?, die nach­re­vo­lu­tio­nä­re Ruhe­pha­se ver­wen­de­te er für phi­lo­so­phi­sche Stu­di­en. Als der Krieg ihn zur Untä­tig­keit zwang, ent­warf er sei­ne Impe­ria­lis­mus­theo­rie und stu­dier­te Hegel, in der fin­ni­schen Laub­hüt­te (1917) ent­stand Staat und Revo­lu­ti­on, und wäh­rend der Rekon­va­les­zenz nach dem Atten­tat schrieb er den Rene­gat ­Kaut­sky. (18) War­um sich als Poli­ti­ker und Staats­mann über­haupt mit Phi­lo­so­phie beschäf­ti­gen? Weil sie stets par­tei­lich ist und um dahin­ter »den Par­tei­en­kampf in der Phi­lo­so­phie zu sehen.« (19)

Über­blickt man Lenins Gesamt­werk, fällt auf, daß er sich immer wie­der an unmit­tel­ba­ren Geg­nern reibt, vor allem an »Fein­den inner­halb der Arbei­ter­be­we­gung«. (20) Er ent­wi­ckelt einen regel­rech­ten Furor der klei­nen Dif­fe­renz gegen­über. Sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­re, Otso­wis­ten, Men­sche­wi­ki, ­Tru­do­wi­ki, lin­ke Kom­mu­nis­ten, Volks­tüm­ler, Empi­rio­kri­ti­zis­ten … Lenins Lis­te der Geg­ner unter den eige­nen Leu­ten ist lang.

Er for­dert dazu auf, sich per­ma­nent mit Über­le­gun­gen damit zu beschäf­ti­gen, wel­che der natür­lich Ver­bün­de­ten den jewei­li­gen Ansprü­chen an die Bewe­gung nicht oder nicht mehr genü­gen, sei es durch über­bor­den­de Radi­ka­li­sie­rung und unrea­lis­ti­sche Maxi­mal­for­de­run­gen oder durch Fest­hän­gen in ver­al­te­ten Kate­go­rien, Welt­bil­dern, Stra­te­gien, sei es durch Unter­bie­tung des intel­lek­tu­el­len Niveaus oder durch Über­in­tel­lek­tua­li­sie­rung, sei es durchs Abdrif­ten ins Unkon­kre­te, Phra­sen­haf­te, Mys­ti­zis­ti­sche oder durchs Ver­las­sen des Ratio­na­len und Wis­sen­schaft­li­chen und was es der­glei­chen »Abwei­chun­gen« gibt.

Bei allen Distan­zie­run­gen müs­sen jedoch zuvor die Ursa­chen der Abwei­chung ergrün­det wer­den, und es gilt, die Bereit­schaft zu zei­gen, ent­we­der tak­tisch begrün­det oder weil die erfor­der­li­chen Erkennt­nis­pro­zes­se ein­ge­setzt haben, wie­der bereit zum Bünd­nis zu sein. Kom­pro­mis­se sind jeder­zeit und jeweils bedingt not­wen­dig, Kom­pro­misse­rei lehn­te er ab. Es gibt fast nichts, was es nicht geben kann, wenn die his­to­ri­sche Situa­ti­on es erfor­dert, Ter­ror etwa, den die »Mar­xis­ten zwar ent­schie­den ableh­nen«, aber »selbst­ver­ständ­lich nur aus Grün­den der Zweckmäßigkeit«.

Legen­där wur­de Lenins mehr­fach genutz­te Meta­pher vom Ket­ten­glied: »Jede Fra­ge bewegt sich in einem feh­ler­haf­ten Kreis, denn das gan­ze poli­ti­sche Leben ist eine end­lo­se Ket­te aus einer end­lo­sen Rei­he von Glie­dern. Die gan­ze Kunst der Poli­tik besteht eben dar­in, gera­de jenes klei­ne Ket­ten­glied her­aus­zu­fin­den und ganz fest zu packen, das ihm am wenigs­ten aus der Hand geschla­gen wer­den kann, das im gege­be­nen Augen­blick am wich­tigs­ten ist, das dem Besit­zer die­ses Ket­ten­glie­des den Besitz der gan­zen Ket­te am bes­ten garan­tiert.« (21)

All das ist theo­re­ti­sche Vor­aus­set­zung, um »zum ent­schei­den­den Zeit­punkt an der ent­schei­den­den Stel­le das aus­schlag­ge­ben­de Über­ge­wicht an Kräf­ten zu besit­zen«. (22) Tak­tik und Stra­te­gie sind dabei als sich wech­sel­sei­tig beein­flus­sen­de Ein­heit zu betrach­ten, das Gro­ße bestimmt das Klei­ne, das Klei­ne formt das Gro­ße: »Die Fra­ge des Boy­kotts der Reichs­du­ma ist im Grun­de nur ein klei­ner Teil der gro­ßen Fra­ge, ob die gesam­te Tak­tik der Par­tei zu revi­die­ren ist. Und die­se Fra­ge ist wie­der­um nur ein klei­ner Teil der gro­ßen Fra­ge, wie man die jet­zi­ge Lage Ruß­lands und die Bedeu­tung des gegen­wär­ti­gen Zeit­ab­schnitts in der Geschich­te der rus­si­schen Revo­lu­ti­on ein­zu­schät­zen hat.«

Der beson­de­re Wert, Lenins Denk­we­gen zu fol­gen, liegt auch dar­in, daß er sein stra­te­gisch-tak­ti­sches Genie, die Fähig­keit, in jeder kon­kre­ten his­to­ri­schen Pha­se zu einer hand­lungs­lei­ten­den »Wesens­er­kennt­nis« zu gelan­gen, in Zei­ten gro­ßer Akze­le­ra­ti­on und Wech­sel­haf­tig­keit anwen­den konn­te; er selbst durch­leb­te revo­lu­tio­nä­re, evo­lu­tio­nä­re und sta­gnie­ren­de Zei­ten, Exil, Ver­ban­nung, Ille­ga­li­tät, Krieg, Frie­den, aber auch Par­tei­grün­dung, Frak­ti­ons­kämp­fe, Spal­tung bis hin zur akti­ven Macht­über­nah­me, Macht­kon­sti­tu­ie­rung, Angrif­fe auf die­se Macht von innen und von außen und muß­te sie alle theo­re­tisch durchdringen.

Die Lin­ke hat sich den Zugang zu die­ser Quel­le des Ler­nens und der Inspi­ra­ti­on durch ihren Mora­lis­mus zuse­hends ver­baut, die Rech­te hät­te den Vor­teil, emo­ti­ons­los an die­sen Schatz her­an­zu­tre­ten. »Lin­kes Den­ken war mal ein scharf­sin­ni­ges Ana­ly­se­instru­ment«, um die »Wider­sprü­che der Zeit zu durch­den­ken« (23), aber die heu­ti­ge Lin­ke kann mit ihren Klas­si­kern vor lau­ter Wokis­mus nichts mehr anfan­gen. Die Tex­te lie­gen deutungs­offen wie­der bereit.

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(1) – René Fülöp-Mil­ler: ­Lenin und Gan­dhi, Zürich/Leipzig/Wien 1927.

(2) – Vale­riu Mar­cu: Lenin. 30 Jah­re Ruß­land, Leip­zig 1927.

(3) – Hugo Fischer: ­Lenin. Der Machia­vell des Ostens (1933), Ber­lin 2017; sie­he auch die Bespre­chung ­Bene­dikt Kai­sers in ­Sezes­si­on 82.

(4) – Ernst Jün­ger: ­Sämt­li­che Wer­ke, Bd. 3, Strah­lun­gen II, Stutt­gart 1979, S. 442.

(5) – Vgl. Ernst Jün­ger: Sieb­zig ver­weht V, Stutt­gart 1997, S. 202.

(6) – Ernst Nie­kisch: Das Reich der nie­de­ren Dämo­nen. Eine Abrech­nung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus, Ham­burg 1953, S. 82.

(7) – Carl Schmitt: Theo­rie des Par­ti­sa­nen. Zwi­schen­be­mer­kung zum Begriff des Poli­ti­schen, Ber­lin 1963, S. 55 ff.

(8) – Dazu zäh­len etwa: Richard Pipes: The Unknown Lenin: From the Secret Archi­ve, New Haven 1999; Hélè­ne Car­rè­re d’Encausse: Lenin. L’uomo che ha cam­bia­to la ­sto­ria del ’900, Mila­no 2000; ­Helen Rap­pa­port: Con­spi­ra­tor. Lenin in Exi­le, New York 2010; Vic­tor Sebe­sty­en: Lenin the Dic­ta­tor. An Inti­ma­te Por­trait, Lon­don 2017; außer­dem auch die gera­de erschie­ne­ne und sich objek­tiv geben­de Bio­gra­phie von Vere­na ­Moritz und Han­nes Lei­din­ger: ­Lenin. Eine Neu­be­wer­tung, Salzburg/Wien 2023.

(9) – Rudolf Bah­ro: Die Alter­na­ti­ve. Zur Kri­tik des real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus, Köln 1979, ins­be­son­de­re Kapi­tel I.3.

(10) – Vgl. Gri­go­ri Sino­wjew: Geschich­te der KPdSU(B), Ham­burg 1923, S. 38 ff., 60, 208 ff.

(11) – Lenin: »Was sind die Volks­freun­de und wie kämp­fen sie gegen die Sozi­al­de­mo­kra­ten?« (1894), in: ders.: Wer­ke (= LW), Bd. 1, spä­ter aus­ge­ar­bei­tet in: »Zwei Tak­ti­ken der Sozi­al­de­mo­kra­tie in der demo­kra­ti­schen Revo­lu­ti­on« (1905), in: LW 9, S. 3 – 130.

(12) – Per­ry Ander­son: Hege­mo­nie. Kon­junk­tu­ren eines Begriffs, Frank­furt a. M. 2018, S. 28.

(13) – Vgl. Már­ton Békés: Natio­na­ler Block. Das Sys­tem der natio­na­len Zusam­men­ar­beit, Dres­den 2023. Dort die sehr gelun­ge­ne Defi­ni­ti­on der kul­tu­rel­len Hege­mo­nie nach Gramsci: »Sich dau­er­haft Gel­tung ver­schaf­fen­de, über Kon­sens ver­fü­gen­de, weit­hin als ­legi­tim ange­se­he­ne, frei­willige Unter­stüt­zung genie­ßen­de Herrschaft«.

(14) – Vgl. Lou­is Alt­hus­ser: Lenin and Phi­lo­so­phy and Other Essays, New York 2001, S. 28.

(15) – Lars T. Lih: Lenin ­Redis­co­ver­ed: »What Is to Be Done?« in Con­text,  Chi­ca­go 2008.

(16) – Lenin: »Noch ein­mal über die Gewerk­schaf­ten« (1920), in: LW 32, S. 73 und 85.

(17) – Lenin: »Die gegen­wär­ti­ge Lage Ruß­lands und die Tak­tik der Arbei­ter­par­tei« (1906), in: LW 10, S. 101.

(18) – Lenin: »Die pro­le­ta­ri­sche Revo­lu­ti­on und der Rene­gat Kaut­sky« (1918), in: LW 28, S. 225–327.

(19) – Lenin: »Mate­ria­lis­mus und Empi­rio­kri­ti­zis­mus«, in: LW 14, S. 363.

(20) – Die Lis­te der nahen Fein­de, die Lenin in sei­ner Zeit bekämpf­te, ist schier end­los. Exem­pla­risch dazu: »Der ›lin­ke Radi­ka­lis­mus‹, die Kin­der­krank­heit im Kom­mu­nis­mus« (1920), in: LW 31.

(21) – Lenin: »Was tun?« (1902), in: LW 5, S. 521 f.

(22) – Lenin: »Die Wah­len und die Dik­ta­tur des Pro­le­ta­ri­ats« (1919), in: LW 30, S. 248.

(23) – Bernd Ste­ge­mann: ­»War­um ich kein Lin­ker mehr sein will«, in: welt.de vom 12. Janu­ar 2024.

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