Iwan Alexandrowitsch Iljin wurde nach dem julianischen Kalender am 28. März, nach dem gregorianischen am 9. April 1883 als Sproß einer aristokratischen Familie in Moskau geboren. Nach seinem Studium der Rechtswissenschaften und der Philosophie begab sich Iljin auf eine ausgedehnte Reise nach Deutschland und debattierte mit den akademischen Größen seiner Zeit.
Dazu gehörten Georg Jellinek in Heidelberg, Heinrich Rickert in Freiburg, Edmund Husserl in Göttingen und Georg Simmel in Berlin. Während der Revolutionswirren verteidigte Iljin seine Dissertation über Die Philosophie Hegels als Lehre von der Konkretheit Gottes und des Menschen.
Als eingeschworener Gegner der Bolschewiki engagierte sich Iljin im Bürgerkrieg auf der Seite der Weißen. Er wurde sechsmal verhaftet und schließlich zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde zwar nicht vollstreckt, er mußte Sowjetrußland aber auf einem der »Philosophenschiffe« verlassen (gemeinsam mit Nikolai Berdjajew, Sergej Trubezkoi und Simon Frank). Er kam am 26. September 1922 in Stettin an und zog ein Jahr später nach Berlin, um an Nikolai Berdjajews »Religionsphilosophischer Akademie« tätig zu sein. In dieser Zeit wurde er zu einem der wichtigsten Vordenker der Weißen Bewegung im Exil.
Wie viele andere konservativ-revolutionäre Denker sah er 1933 in Adolf Hitler zunächst einen »Verteidiger Europas« gegen den Bolschewismus – seine Hegellektüre hatte ihn nicht davor gefeit. Der dialektische Dreischritt der angelsächsischen Hintergrundakteure als »Geschichtsplanverwalter« (Odo Marquard) sah vor, den Faschismus gegen den Bolschewismus auszuspielen, um mit der Synthese der unipolaren westlichen Weltordnung davonzuziehen. Möglicherweise erklärt diese zu späte Erkenntnis Iljins sein Abrücken von bestimmten Gedanken seiner frühen Schaffensperiode, wovon weiter unten zu reden sein wird.
Durch die Vermittlung des Komponisten Sergej Rachmaninow gelang es Iljin und seiner Frau, 1938 in die Schweiz zu übersiedeln und sich in Zollikon bei Zürich niederzulassen. Die Schweizer Aufenthaltsbewilligung verbot ihm jegliche politische Tätigkeit, hinderte ihn jedoch nicht, im stillen eine Verfassung für das postkommunistische Russland auszuarbeiten. 1938 gründete er in Locarno Monti die Geheimgesellschaft »Weißer Kongreß« und stellte im Januar 1939 in dieser geschlossenen Organisation in Genf sein Projekt eines Grundgesetzes für das russische Imperium vor.
Iwan Alexandrowitsch Iljins über 50 Bände umfassendes Werk durfte in der Sowjetunion nicht rezipiert werden. 1925 war sein Hauptwerk, Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse, bereits in Berlin in russischer Sprache erschienen und löste dort wie in Iljins Heimat allen Zensurmaßnamen zum Trotz eine erhebliche Kontroverse aus. Diese ist in der deutschen Erstübersetzung von Sascha Rudenko, die Adorján Kovács 2018 mit großer Sorgfalt herausgegeben hat und die in der Edition Hagia Sophia erschienen ist, ausführlich dokumentiert.
Die Verleger dieser Edition haben es sich zur Aufgabe gemacht, Iljins Schriften dem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen – so sind dort bereits die wichtigsten von Iwan Iljin selbst auf deutsch geschriebenen, jahrzehntelang vergriffenen Bücher in Neuausgaben erschienen: Ich schaue ins Leben (Erstausgabe Berlin 1938), Die ewigen Grundlagen des Lebens (zuerst Zürich 1939), Das verschollene Herz. Ein Buch stiller Betrachtungen (zuerst Bern 1943), Wesen und Eigenart der russischen Kultur (das erstmals in Zürich 1942 erschien und 2017 sowie 2018 zwei Neuauflagen in der Edition Hagia Sophia erfuhr, in Rußland aber seit den 2000er Jahren als Grundlagentext des eurasischen »Großen Erwachens« studiert wird) und ganz aktuell Vom geistigen Sinn des Krieges (zwei Aufsätze von 1914/15, deutsche Übersetzung 2024).
Im Oktober 2005 wurden – auf Initiative des konservativen Regisseurs Nikita Michalkow – Iljins sterbliche Überreste aus der Schweiz nach Moskau überführt und im Donskoi-Kloster erneut beigesetzt. Der russische Präsident Wladimir Putin war bei dieser Zeremonie persönlich zugegen. Iljins Nachlaß wurde mit Mitteln des Oligarchen Wiktor Wekselberg aufgekauft und der Moskauer Universität übergeben.
Putin sagte Ende 2023 in seiner traditionellen, kurz vor Mitternacht im Fernsehen von großen Teilen des Volkes angehörten Neujahrsansprache, er wolle sich »heute an unsere Militärangehörigen wenden – an alle, die heute kampfbereit Wache stehen, sich an der vordersten Front der Schlacht für die Wahrheit und die Gerechtigkeit befinden«. Seit 2004 hatte er sich in Ansprachen wiederholt ganz ähnlich zitierend auf Iwan Iljin bezogen, was im Westen sofort den Reflex auslöste, Iljin nun genauso wie Alexander Dugin als »Staatsphilosophen« und »Großmacht-Chauvinisten« zu markieren: »Mit den Vorstellungen der ›Russischen Welt‹, wie sie im Prag und Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre herbeiphantasiert wurden, werden geopolitische Ansprüche Rußlands legitimiert.«
Was ist »die Schlacht für die Wahrheit und die Gerechtigkeit«? Eine Propagandaphrase wie der amerikanische »war to end all wars«? Bei Iljin findet sich ein Hinweis darauf, daß der Propagandaphrase ein Wesenszug der russischen Kultur zugrunde liegt: »Der Russe ist voll Zuversicht, daß, wenn er in seinem nationalen Kampf unterliegt, diese Niederlage nur das ›erste‹ Kapitel seines Ringens ausmacht; das ›zweite‹ Kapitel wird Läuterung und Kräftesammeln heißen; das ›dritte‹ – Sieg, Befreiung, Auferstehung.«
Iljin sieht die Verschmelzung aus dem Blickwinkel des Philosophen, der gelernt hat, die eigene Perspektive aus der fremden zu betrachten, selbst als eine »merkwürdige Eigenschaft der Orthodoxie«, nämlich »ein kindlich-andächtiges Ernst-Nehmen des christlichen Maximums in Dogma, in Verheißung und Praxis.«
Nicht ausgeschlossen ist, daß der Streit um Iwan Iljins Gewaltsamen Widerstand gegen das Böse ebendieser Merkwürdigkeit der Orthodoxie geschuldet war. Das Kernproblem des Buches ist die Legitimierung äußerer Gewaltanwendung vor Gott – diese realisiert sich einerseits seit zwei Jahrtausenden in den Heeren des christlichen Abendlandes und der Segnung der Waffen durch die Bischöfe und Patriarchen, andererseits ist der Christ angewiesen, die linke Wange hinzuhalten, wenn er auf die rechte geschlagen wird, sich also in der Nachfolge Jesu Christi jeglicher Gewalt zu enthalten.
In einem Brief an den deutschstämmigen russischen Sozialisten und Weißgardisten Peter Struwe (1870 – 1944), den der Herausgeber zitiert, faßt Iljin die These seines Buches zusammen: »Das Buch ist nicht als Antithese zu Tolstoi gedacht, sondern wie Antithese + Synthese der richtigen Lösung: Widerstehe immer mittels der Liebe: a.) durch Selbstvervollkommnung, b.) durch geistige Erziehung der anderen, c.) durch das Schwert. Ich suchte […] den Beweis dafür zu bringen, daß der Schwertträger zur Liebe nicht weniger, sondern mehr fähig ist als der Widerstandslose. Kurz, ich suchte die Lösung auf die Fragen, die Lösung, die vor dem Antlitz Gottes religiös richtig ist; ich denke, daß sie in dem alten Geiste der Orthodoxie enthalten war.«
Das Bild des Schwertes im Evangelium ist indes genauso leicht fehlzudeuten wie der Begriff der Gewalt, für den es steht. »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert«, sagt der Christus des Matthäusevangeliums (Mt 10,34), und im Johannesevangelium macht er »eine Geißel aus Stricken und trieb alle zum Tempel hinaus« (Joh 2,15). Iljin bezieht sich im Gewaltsamen Widerstand positiv auf diese Schriftstellen (er stellt die letztgenannte dem Buch sogar als Motto voran) sowie auf den strafenden Gott des Alten Testaments. Er sieht sein Argument in einer »generischen, historischen Sukzession«, die »mit besonderer Klarheit die Haltlosigkeit jener [entlarvt], die ›prinzipiell‹ die äußere Nötigung und Unterdrückung verleugnen.«
Wenn es im Matthäusevangelium weiter heißt: »Das Himmelreich leidet Gewalt, und nur die Gewalt anwenden, reißen es an sich« (Mt 11,12) – ist dann Gewaltanwendung nicht prinzipiell legitim? Iwan Iljin begründet »äußere Nötigung und Unterdrückung« des Feindes, also die reale, buchstäbliche Anwendung von Gewalt gegen ihn (bis hin zum »Akt der Menschentötung«), erstens damit, daß diese verhindern, daß »der gegebene Mensch die gegebene Übeltat vollzieht, sie halten diesen bösen Willen in seiner bösen Ausrichtung auf«; zweitens das »Fernhalten aller anderen Menschen von der Übeltat« und drittens, »von dem Weg der Übeltäter alle Menschen fernzuhalten, die verführt oder verlockt werden können«.
Er schildert die existentielle Situation eines Menschen, der sich genötigt sieht zur Gewalt gegen einen bösen Feind, bis in die Extreme hinein: das innere Extrem der höchsten Gewissensnot, das äußere Extrem der Ermordung des Feindes. Auch hier ließe sich sein »kindlich-andächtiges Ernst-Nehmen« wiederfinden, er ist keinesfalls der politische Agitator, der »mit Vergnügen die Hinrichtung rechtfertigt« (Berdjajew). Er durchdenkt die Sünde des gewaltsamen Kampfes als Sünde und leugnet ihre Sündhaftigkeit nicht. Wer sie auf sich nehme, so Iljin, trage »die besondere Bürde der unausweichlichen Ungerechtigkeit, der möglichen Sündhaftigkeit und der wahrscheinlichen Schuldhaftigkeit«, er müsse als Mensch innerlich »reiner und höher sein als sein Kampf«, nach dem Schuldig-Werden habe sein Leben fürderhin in unablässiger Läuterung zu bestehen.
Die damaligen religiösen Hauptkontrahenten Iljins, Sinaida Hippius und Nikolai Berdjajew (die bolschewistische und die liberale Kritik verstehen sich im Grunde von selbst), bekämpften in ihren Artikeln mit energischen Worten den Gewaltsamen Widerstand, sie wirken regelrecht konsterniert. »Gewalt ist Gewalt, Mord ist Mord, und zu beweisen, daß aus christlicher Perspektive dies keine ›Sünde‹ ist, sondern irgendeine ›sündenlose Ungerechtigkeit‹ – darf man nicht, wieviel man sich auch anzustrengen vermag«, schreibt Hippius und wirft ihm vor, »die Religion für politische Zwecke« zu mißbrauchen. Berdjajews Einwand ist (neben aller Polemik über den »christlichen Tschekisten«) tiefergehend: Er wirft Iljin vor, das Böse aus der Welt schaffen zu wollen, was zum einen niemals durch physischen Widerstand, schon gar nicht durch ein Individuum, möglich ist, zum anderen aber mache »die Ablehnung der Freiheit des Bösen das Gute zu einer Zwangsmaßnahme«.
Bei der Gefangennahme Christi zückt Petrus sein Schwert gegen einen der Hohepriester. Dafür erntet er die schärfste Zurückweisung des gesamten Evangeliums: »Weg von mir, Satan, du denkst nicht die Gedanken Gottes, sondern die der Menschen!« (Mt 16,23) Petrus hatte beabsichtigt, den Herrn durch gewaltsamen Widerstand gegen das Böse zu verteidigen. Diese Absicht entspringt gerade nicht den »Gedanken Gottes«, sondern entspricht den Zuständen in der Menschenwelt: »Denn alle, die das Schwert ergreifen, werden durch das Schwert umkommen.« (Mt 26,52)
Diese Kausalität ist das eherne Gesetz der Menschenwelt. Auch das Kernargument des Iljinschen Buches verbleibt darin, insofern er hier rein folgenethisch denkt. Alle drei Argumente im Begründungskapitel gehen davon aus, antizipierbare Handlungsfolgen zu verhindern: daß »der gegebene Mensch die gegebene Übeltat vollzieht, sie halten diesen bösen Willen in seiner bösen Ausrichtung auf«, sowie das »Fernhalten aller anderen Menschen von der Übeltat« und »von dem Weg der Übeltäter alle Menschen fernzuhalten, die verführt oder verlockt werden können«.
Doch diese Folgen kann ein Individuum niemals vorwegnehmen. Vielmehr unterstellt das Individuum, daß ein bestimmter, als Übeltäter identifizierter anderer Mensch (und andere, die sich an ihm ein Beispiel nehmen könnten) so und so handeln würde, daß diese Handlungen die und die Folgen hätten und daß die Elimination des potentiellen Übeltäters für ihn selbst und für andere segensreich wäre.
Ein solches Wissen über Folgen ist nicht nur menschenunmöglich, sondern es ist vor allem Ausdruck eines Verharrens im unbarmherzigen Kausalgesetz des Schwertes, weil es der Gnade vorgreift, also die »Gedanken Gottes« ebenfalls eliminieren will. Jesus Christus bezeichnet just dieses Verharren als satanisch. Die Matthäus-Schriftstelle »Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert« geht genau in diesem Geiste weiter: »Denn ich bin gekommen, den Sohn zu entzweien mit seinem Vater […] und die Feinde des Menschen sind seine Hausgenossen.« (Mt 10,35 f.)
Das Schwert entzweit die Bekenner und die Verräter – wer den Kampf der Bekenner auf sich nimmt, wird um Christi willen leiden müssen. Der Riß, den das Schwert schlägt, trennt die Himmelreiche, die Völker und Nationen, die Familien, die Einzelseelen. Wenn das »Himmelreich Gewalt leidet, und nur die Gewalt brauchen, reißen es an sich«, bezieht sich das Wort auf die Gewalt, die sich der Mensch selbst antun muß, um dem ehernen Gesetz der Menschenwelt zu entrinnen.
Wie ist dem Bösen aber dann Widerstand entgegenzusetzen? Die Tolstoi-Option der völligen »Widerstandslosigkeit« scheidet aus. Iwan Iljin verwendet große Mühe, dagegen anzurennen. Er macht im Anfangskapitel klar, daß gänzliche Widerstandslosigkeit absurderweise bedeuten würde, daß »das Böse willkommen wäre«, und gesteht zu, daß es sich bei Tolstois Lehre lediglich um eine »besondere Art des Widerstandes« handelt, der in die »innere Welt des Menschen verlagert« wird. Daß der Aufruf zum inneren Widerstand mißverständlich sein kann und seine Anhänger leicht unter den Feigen und Lauen, den Pazifisten, Defätisten und Humanitätsduseligen rekrutiert, befand Iljin schon 1925. Um so schwerer hat es der innere Widerstand nach einem Jahrhundert weiteren Fortschritts des »moralisch-therapeutischen Deismus« (Rod Dreher).
Iljin ist insofern ein »Anti-Tolstoi«, als er dessen Ethik der christlichen Opferbereitschaft, die vom Individuum inneren Kampf gegen die niederen Triebe verlangt und äußeren (politischen, kriegerischen, notwehrhaften) Kampf für unvereinbar mit dem christlichen Liebesgebot hält, energisch widerspricht. Er argumentiert schon in Vom geistigen Sinn des Krieges gegen Tolstoi, daß der Mensch sich selbst opfern kann und auch soll, nicht aber das Recht hat, ein höheres Gut wie sein Volk oder das geistige Erbe des Vaterlandes durch Widerstandslosigkeit gegenüber dem Feind zu opfern.
Der Widerspruch zwischen Tolstoi und Iljin liegt meines Erachtens in einem folgenreichen Kategorienfehler beider Philosophen begründet: der Ebenenüberschreitung zwischen Individualmoral und Staatsmoral. Tolstoi sieht alle Einzelmenschen dem »Gesetz der Liebe« untergeordnet, dem bösen »Gesetz der Gewalt« dagegen den Staat und die Politiker. Er anerkennt in der Konsequenz weder die Notwendigkeit des Gewaltmonopols noch der Selbstverteidigung des Staates im Krieg. Iljin hingegen rechtfertigt mit dem »objektiven Wert« des höheren Gutes (Volk, Staat, geistiges Erbe) das vorsätzliche Schuldigwerden des Individuums (»offen und bewußt eine neue Schuld auf sich zu nehmen«).
»Die spirituelle Rechtfertigung des Krieges wird durch die Motive bestimmt, die ein Volk zum Krieg geführt haben. Sage mir, wofür du den Krieg begonnen hast, und warum du ihn führst, und ich werde dir sagen, ob du recht oder unrecht hast.« Wer ist der Adressat dieser Frage? Das Volk oder der einzelne Mensch? Wer urteilt über Recht und Unrecht? Individualmoral und Staatsmoral fallen im Gewissen des einzelnen zusammen, doch weder kann die Staatsmoral das Gewissen erleichtern noch die Individualmoral durch das geheiligte höhere Motiv außer Kraft gesetzt werden.
Iljin hat es nicht bei den Weltkriegs-Essays der Jahre 1914/15 und beim Gewaltsamen Kampf gegen das Böse bewenden lassen, sondern er hat weitergedacht, sowohl die eingangs erwähnten staats- und kulturtheoretischen Schriften als auch sein erbauliches Werk künden davon. Aus letzterem sticht vor allem Das verschollene Herz von 1943 hervor. Unter der Überschrift »Er haßt mich« findet der Leser dort ein ergreifendes Stück christlichen Existentialismus, das schrittweise aufgebaut ist. Ein Schritt liest sich beispielsweise so: »Fremde Gefühle können wir natürlich nicht beherrschen, und es ist durchaus nicht leicht, den richtigen Weg zu finden und die für den Sieg notwendige Kraft aufzubringen. Eines weiß ich jedoch, nämlich, daß dieses finstere Licht ausgehen muß. Er muß sich mit mir abfinden, aussöhnen. […] Womit könnte ich das verschuldet haben, daß wir nun beide leiden, – er, der Hassende, und ich, der Gehaßte?«
Ein anderer Text im selben Band widmet sich »Meiner Schuld«: »Die Seele wird wie von einem krampfhaften Bedürfnis erfaßt, die Schuld zu leugnen, abzuschütteln, auf einen anderen abzuwälzen und – die Hauptsache – nicht bloß anderen Menschen, sondern sich selbst, ja, ja, sich selbst, zu beweisen, ›daß ich frei dastehe‹ und daß ›ich mir auch wirklich gar nichts zuschulden kommen ließ‹ […]. Derjenige, der mir nicht trauen will und mich immer wieder verdächtigt – das bin ja ich selbst! Also muß ich doch etwas von meiner Schuld wissen, von der ich nichts wissen will … Überrascht und ergriffen von diesem Gedanken stehe ich stille, und die Flucht vor der eigenen Schuld hört auf.«
Diese radikale Individualmoral ist untauglich als Staatsmoral. Weder darf ich als Philosoph mit Tolstoi Staat und Heer an der Individualmoral messen und als böse verwerfen, noch darf ich mit Iljin den »gewaltsamen Widerstand«, welcher Aufgabe des Staates und des Heeres ist, der Gewissensentscheidung des Individuums überantworten. Denn daß der Krieg zur conditio humana gehört, darf weder pazifistisch geleugnet noch als »spiritueller Aufschwung der Seele« dem Individuum einsuggeriert werden.
Als ich Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse 2018 gelesen habe, stand ich ganz im Banne der Eindrücke und politischen Folgen der Masseneinwanderung drei Jahre zuvor. Im Vorwort wurde ich auf uns als »zur Selbstaufgabe Erzogene« und auf die »aktuelle Wehrlosigkeit Europas« hingewiesen, im Nachwort von Franzisk Yavtilov direkt auf den Islam als das »nach Iljins Maßstäben wohl unzweifelhafte Böse«, und las das Buch entsprechend begeistert: Endlich ein christlicher Gewährsautor für unseren politischen Widerstand!
Diese Begeisterung war mein Fehler. Denn in der Begeisterung habe ich die Identifizierbarkeit des Bösen für eine ausgemachte Sache gehalten. Daraus ergab sich ein folgenethischer Fehlschluß: Ganz klar – was heute unseren gewaltsamen Widerstand verlangt, weil die Konsequenzen der Islamisierung des Abendlandes für uns unerträglich wären, ist das Böse.
Doch der Kampf gegen das ausfindig gemachte äußere Böse gebiert mit der Notwendigkeit des ehernen Gesetzes selbst das Böse in mir. Es erscheint (neben vielen anderen Gestalten) auch in der Weise der Hoffart: sich selbst für bereits geläutert genug zu halten, die Sünde der Eliminierung des bösen Feindes auf sich nehmen zu können, zum Schwert greifen zu dürfen oder dazu aufzurufen, weil man selbst »reiner und höher als sein Kampf« zu sein wähnt. Der Mensch ist seiner Natur nach viel zu niedrig und unlauter, um den gewaltsamen Kampf gegen das Böse woanders als in sich selbst zu beginnen.
Wäre es nicht beeindruckend, wenn Iljin selbst in seinem Gesamtwerk davon Zeugnis abgelegt hätte? In Die ewigen Grundlagen des Lebens (1939) nennt er die »Hauptentstellungen des Gewissenserlebnisses«: »Erstens, Verdrängung des Gewissensaktes bis zur Verstockung der Seele; zweitens, Degradierung des Gewissensaktes durch kompromißmäßige Anpassung, durch willkürliche Auslegung und Umdeutung seiner Inhalte.« Sie zu überwinden erfordert einen wahren militem christianum.