Vor gut 50 Jahren erschien der erste Band des Archipel Gulag im Pariser Emigrantenverlag YMCA-Press in russischer Sprache. Bereits 1958 hatte Alexander Issajewitsch Solschenizyn (1918 – 2008) dieses monumentale Werk zu schreiben begonnen, und zwar in völliger Geheimhaltung.
Eine Veröffentlichung hatte er zu Lebzeiten nicht geplant. Der Titel bezieht sich auf den Namen der Hauptverwaltung der Lager, »Glawnoje uprawlenije lagerei«, kurz Gulag, und auf die inselähnliche Beschaffenheit des Systems, welches er mit der Metapher des Archipels umschreibt. Neben dem Lagersystem selbst behandelt Solschenizyn auch das Repressionssystem, das über Verhaftung, Verhör, Schauprozesse, verschiedene Gefängnisse bis zur Deportation ins Lager führte. Eine Kernthese seiner Arbeit ist, daß das unmenschliche Vorgehen nicht erst seit Stalin, sondern seit der Revolution existierte und damit in der marxistisch-leninistischen Ideologie begründet liege.
Das Besondere an dieser Geschichte der Lagerwelt ist, daß der Verfasser nicht nur seine eigene elfjährige Haftzeit verarbeitete, sondern die Erinnerungen von 227 Gefangenen einfließen ließ. Der Archipel Gulag ist kein wissenschaftliches Werk. Das Grundanliegen Solschenizyns bestand in einer Arbeit gegen das Vergessen, einer literarischen Dokumentation. Aus der Widmung des ersten Bandes (»All jenen gewidmet, die nicht genug Leben hatten, um dies zu erzählen«) geht hervor, daß der Autor primär retten wollte, was zu retten war.
Die Tragweite seines Werks schätzte Solschenizyn hoch ein. 1965 äußerte er im kleinen Kreis, daß der Archipel Gulag die Sowjetunion vernichten werde. Da der Autor aber ständig durch den KGB beobachtet wurde, warnte er mit dieser Aussage unfreiwillig seine Gegner. Diese versuchten daraufhin, das Manuskript in die Hände zu bekommen. Es gelang ihnen, denn eine Vertraute Solschenizyns sollte eine Kopie des Manuskripts verbrennen, tat das aber nicht, weil sie von einem Unikat ausging. Durch verschiedene Verhöre kam der KGB ihr auf die Spur und konfiszierte im August 1973 diese Ausfertigung des Archipel Gulag. Die Frau erhängte sich, da sie gegen Solschenizyn ausgesagt hatte und glaubte, daß das Buch für immer verloren sei.
Zum Glück befand sich bereits eine Kopie im Westen, und Solschenizyn ordnete die sofortige Veröffentlichung an. Schnell wurde das Werk in andere Sprachen übersetzt. So lagen im Februar 1974 deutsche und schwedische Fassungen vor, fast zeitgleich auch eine französische. Sehr zum Ärger Solschenizyns, der zu seiner eigenen Sicherheit auf große Publicity in den USA hoffte, verzögerte sich die englische Ausgabe. In der Zwischenzeit wurde Solschenizyn erneut verhaftet und wegen Landesverrats angeklagt.
Allerdings war er durch den Nobelpreis, den er 1970 für den Roman Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch erhalten hatte, und das starke Presseecho im Westen zu bekannt, als daß man ihn einfach »verschwinden« lassen konnte. Die Sowjetunion griff daher auf ein indirektes Asylangebot des deutschen Bundeskanzlers Willy Brandt zurück, bürgerte den verhaßten Autor aus und verwies ihn des Landes. Am 14. Februar 1974 landete Solschenizyn in Frankfurt am Main und fand bei Heinrich Böll Aufnahme. Später ging er erst in die Schweiz und dann in die USA, wo er bis zu seiner Rückkehr nach Rußland im Jahr 1994 lebte. Sein Werk erreichte in allen Kultursprachen, in denen es gedruckt werden durfte, Millionenauflagen.
Bis zur Gorbatschow-Zeit hatte kaum ein Sowjetbürger die Möglichkeit, den Archipel Gulag zu lesen, da es nur wenige illegale Exemplare gab. Das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU bekämpfte die Verbreitung des antisowjetischen Werks auch im Ausland, indem es eine »Information für unsere Bruderparteien über die sowjetfeindliche Tätigkeit Solschenizyns« herausgab. Sie wurde an 51 kommunistische Parteien verschickt, natürlich auch an die SED.
Eine breite Rezeption setzte erst seit 1989 ein, als das Buch in der Sowjetunion offiziell publiziert wurde. Allerdings war es nur eines von vielen ehemals verbotenen Werken, die plötzlich erscheinen konnten und einander Konkurrenz machten. Interesse fand der Archipel Gulag unter anderem in den Reihen demokratischer Reformmarxisten, dessen repräsentativster Vertreter, Roy Medwedew, dem Werk zahlreiche Rezensionen widmete. Darin beurteilte Medwedew den Archipel Gulag zwar als wichtiges Buch, kritisierte aber gleichzeitig die ideologischen Aussagen Solschenizyns. Darüber hinaus bemängelte er, daß gewissen Opfergruppen, wie beispielsweise Opfern aus der Parteielite, kein Mitleid entgegengebracht werde.
In der BRD wurde der erste Band des Archipel Gulag in den ersten vier Monaten über eine Million Mal verkauft. Das Buch geriet mitten in die Debatte über die neue Ostpolitik des Bundeskanzlers Brandt und der sozialliberalen Regierung. Die Gegner der neuen Politik, die vor allem aus konservativen Kreisen kamen, sahen sich durch das Werk bestätigt, denn es schilderte die Grausamkeit der Sowjetunion. Die Befürworter der Regierung und die Linksintellektuellen standen zwar in einigen Punkten in Konflikt mit Solschenizyn, engagierten sich aber für dessen Aufnahme in die BRD.
Insgesamt dominierten jene Autoren die Debatte, die sich für die Fortsetzung der Entspannungspolitik und für die Dissidenten zugleich einsetzten. Solschenizyn löste in linken Kreisen auch eine erneute kritische Beschäftigung mit dem Sozialismus aus. Ein Ergebnis war der Sammelband Die Sowjetunion, Solschenizyn und die westliche Linke, den unter anderem Rudi Dutschke herausgab. Eine grundsätzliche Neuorientierung wurde daraus allerdings nicht, was sicher auch daran lag, daß die Linke meist ohnehin einen antisowjetischen Sozialismus vertrat. Eine starke kommunistische Partei war seit dem Verbot der KPD 1956 auch nicht vorhanden.
In Frankreich löste der Archipel Gulag dagegen eine heftige Kontroverse aus. Die Rezipienten des Werkes lassen sich in drei Gruppen grob unterteilen, nämlich in Kommunisten, die mit dem PCF, der Kommunistischen Partei Frankreichs, sympathisierten oder Parteimitglieder waren, nichtkommunistische Linke, die eine »Union de la gauche« (Union der Linken) anstrebten, und Liberale, die jeglichen Sozialismus ablehnten. Die Kommunisten verloren deutlich an Prestige, da nach den Ereignissen von 1956 und 1968 nun erneut der Terror der Sowjetunion offenkundig wurde. Viele Intellektuelle distanzierten sich auch von ihrer kommunistischen Vergangenheit.
Aus der Gruppe der Nichtkommunisten, die trotz Kritikpunkten an Solschenizyn für die Dissidenten eintraten, bildete sich Ende der siebziger Jahre die Strömung der »Nouveaux philosophes« (Neue Philosophen) heraus. André Glucksmann, ein Philosoph dieser Richtung, der sogar früher Mitglied des PCF gewesen war, rechnete in Köchin und Menschenfresser mit dem Marxismus ab, den er als Ursache des Gulags betrachtete. Für dieses in linken Kreisen stark diskutierte Buch wurde er maßgeblich vom Archipel Gulag beeinflußt.
Die letzte Gruppe, die Liberalen um Raymond Aron, die schon länger den Totalitarismus in der Sowjetunion verurteilte, erlebte durch Solschenizyns Opus einen Prestigezuwachs. Besonders Aron fand nachträgliche Anerkennung für seine langjährige Totalitarismuskritik und erlebte einen Bedeutungsgewinn parallel zum Bedeutungsverlust seines Antagonisten Jean-Paul Sartre. Insgesamt kam es im Feld der französischen Intellektuellen zu einer Verschiebung zugunsten der antikommunistischen und antimarxistischen Denker. Diese Entwicklung läßt sich besonders anhand der Veränderung der Zeitschriftenlandschaft und der Gründung von Komitees nachweisen.
Direkt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus gab es aus vielen wissenschaftlichen Disziplinen im Westen Stimmen, die Solschenizyn und seinem Werk einen großen Anteil an dieser Entwicklung beimaßen. Danach mehrten sich allerdings die Kritiker, die Solschenizyn Homophobie, Nationalismus und Frauenfeindlichkeit vorwarfen. Die angeführten Punkte bezogen sich dabei nicht nur auf seine neueren Werke, sondern auch auf den Archipel Gulag. Die Komparatistin Elisa Kriza konstatierte beispielsweise, daß Solschenizyn von 1991 an immer mehr von konservativen und rechtsgerichteten Wissenschaftlern rezipiert worden sei.
Während es das Opus in Rußland nun bis in den Schulunterricht geschafft hat, wird es in der westlichen Welt also kritischer als früher beurteilt. Es droht die Gefahr, daß der Archipel Gulag im Westen in Vergessenheit gerät. Man sollte an dieser Stelle unbedingt herausstellen, daß das Werk die ganze Vielfalt menschlichen Verhaltens in der extremen Situation des Lagers auf eindrucksvolle Weise illustriert.
Daher bleibt Solschenizyns Hauptwerk neben seinem literarischen Wert weiterhin als Quellensammlung auch für die Geschichtswissenschaft unumgänglich. Anne Applebaum, die eine an Solschenizyn orientierte Gesamtdarstellung des Gulags 2003 publizierte, sei als Beispiel genannt.