Solschenizyns Archipel Gulag

von Karl Sternau -- PDF der Druckfassung aus Sezession 118/ Februar 2024

 Druckausgabe

Beitrag aus der Druckausgabe der Sezession. Abonnieren Sie!

Vor gut 50 Jah­ren erschien der ers­te Band des Archi­pel Gulag im Pari­ser Emi­gran­ten­ver­lag YMCA-Press in rus­si­scher Spra­che. Bereits 1958 hat­te Alex­an­der Iss­a­je­witsch ­Sol­sche­ni­zyn (1918 – 2008) die­ses monu­men­ta­le Werk zu schrei­ben begon­nen, und zwar in völ­li­ger Geheimhaltung.

Eine Ver­öf­fent­li­chung hat­te er zu Leb­zei­ten nicht geplant. Der Titel bezieht sich auf den Namen der Haupt­ver­wal­tung der ­Lager, »Glaw­no­je upraw­le­ni­je lage­rei«, kurz Gulag, und auf die insel­ähn­li­che Beschaf­fen­heit des Sys­tems, wel­ches er mit der Meta­pher des Archi­pels umschreibt. Neben dem Lager­sys­tem selbst behan­delt Sol­sche­ni­zyn auch das Repressions­system, das über Ver­haf­tung, Ver­hör, Schau­pro­zes­se, ver­schie­de­ne Gefäng­nis­se bis zur Depor­ta­ti­on ins Lager führ­te. Eine Kern­the­se sei­ner Arbeit ist, daß das unmensch­li­che Vor­ge­hen nicht erst seit Sta­lin, son­dern seit der Revo­lu­ti­on exis­tier­te und damit in der mar­xis­tisch-leni­nis­ti­schen Ideo­lo­gie begrün­det liege.

Das Beson­de­re an die­ser Geschich­te der Lager­welt ist, daß der Ver­fas­ser nicht nur sei­ne eige­ne elf­jäh­ri­ge Haft­zeit ver­ar­bei­te­te, son­dern die Erin­ne­run­gen von 227 Gefan­ge­nen ein­flie­ßen ließ. Der Archi­pel Gulag ist kein wis­sen­schaft­li­ches Werk. Das Grund­an­lie­gen Sol­sche­ni­zyns bestand in einer Arbeit gegen das Ver­ges­sen, einer lite­ra­ri­schen Doku­men­ta­ti­on. Aus der Wid­mung des ers­ten Ban­des (»All jenen gewid­met, die nicht genug Leben hat­ten, um dies zu erzäh­len«) geht her­vor, daß der Autor pri­mär ret­ten woll­te, was zu ret­ten war.

Die Trag­wei­te sei­nes Werks schätz­te Sol­sche­ni­zyn hoch ein. 1965 äußer­te er im klei­nen Kreis, daß der Archi­pel Gulag die Sowjet­uni­on ver­nich­ten wer­de. Da der Autor aber stän­dig durch den KGB beob­ach­tet wur­de, warn­te er mit die­ser Aus­sa­ge unfrei­wil­lig sei­ne Geg­ner. Die­se ver­such­ten dar­auf­hin, das Manu­skript in die Hän­de zu bekom­men. Es gelang ihnen, denn eine Ver­trau­te Sol­sche­ni­zyns soll­te eine Kopie des Manu­skripts ver­bren­nen, tat das aber nicht, weil sie von einem Uni­kat aus­ging. Durch ver­schie­de­ne Ver­hö­re kam der KGB ihr auf die Spur und kon­fis­zier­te im August 1973 die­se Aus­fer­ti­gung des Archi­pel Gulag. Die Frau erhäng­te sich, da sie gegen Sol­sche­ni­zyn aus­ge­sagt hat­te und glaub­te, daß das Buch für immer ver­lo­ren sei.

Zum Glück befand sich bereits eine Kopie im Wes­ten, und Sol­sche­ni­zyn ord­ne­te die sofor­ti­ge Ver­öf­fent­li­chung an. Schnell wur­de das Werk in ande­re Spra­chen über­setzt. So lagen im Febru­ar 1974 deut­sche und schwe­di­sche Fas­sun­gen vor, fast zeit­gleich auch eine fran­zö­si­sche. Sehr zum Ärger Sol­sche­ni­zyns, der zu sei­ner eige­nen Sicher­heit auf gro­ße Publi­ci­ty in den USA hoff­te, ver­zö­ger­te sich die eng­li­sche Aus­ga­be. In der Zwi­schen­zeit wur­de Sol­sche­ni­zyn erneut ver­haf­tet und wegen Lan­des­ver­rats angeklagt.

Aller­dings war er durch den Nobel­preis, den er 1970 für den Roman Ein Tag im Leben des Iwan Denis­so­witsch erhal­ten hat­te, und das star­ke Pres­se­echo im Wes­ten zu bekannt, als daß man ihn ein­fach »ver­schwin­den« las­sen konn­te. Die Sowjet­uni­on griff daher auf ein indi­rek­tes Asyl­an­ge­bot des deut­schen Bun­des­kanz­lers Wil­ly Brandt zurück, bür­ger­te den ver­haß­ten Autor aus und ver­wies ihn des Lan­des. Am 14. Febru­ar 1974 lan­de­te Sol­sche­ni­zyn in Frank­furt am Main und fand bei Hein­rich Böll Auf­nah­me. Spä­ter ging er erst in die Schweiz und dann in die USA, wo er bis zu sei­ner Rück­kehr nach Ruß­land im Jahr 1994 leb­te. Sein Werk erreich­te in allen Kul­tur­spra­chen, in denen es gedruckt wer­den durf­te, Millionenauflagen.

Bis zur Gor­bat­schow-Zeit hat­te kaum ein Sowjet­bür­ger die Mög­lich­keit, den Archi­pel Gulag zu lesen, da es nur weni­ge ille­ga­le Exem­pla­re gab. Das Polit­bü­ro des Zen­tral­ko­mi­tees der KPdSU bekämpf­te die Ver­brei­tung des anti­so­wje­ti­schen Werks auch im Aus­land, indem es eine »Infor­ma­ti­on für unse­re Bru­der­par­tei­en über die sowjet­feind­li­che Tätig­keit Sol­sche­ni­zyns« her­aus­gab. Sie wur­de an 51 kom­mu­nis­ti­sche Par­tei­en ver­schickt, natür­lich auch an die SED.

Eine brei­te Rezep­ti­on setz­te erst seit 1989 ein, als das Buch in der Sowjet­uni­on offi­zi­ell publi­ziert wur­de. Aller­dings war es nur eines von vie­len ehe­mals ver­bo­te­nen Wer­ken, die plötz­lich erschei­nen konn­ten und ein­an­der Kon­kur­renz mach­ten. Inter­es­se fand der Archi­pel Gulag unter ande­rem in den Rei­hen demo­kra­ti­scher Reform­mar­xis­ten, des­sen reprä­sen­ta­tivs­ter Ver­tre­ter, Roy Med­we­dew, dem Werk zahl­rei­che Rezen­sio­nen wid­me­te. Dar­in beur­teil­te Med­we­dew den Archi­pel Gulag zwar als wich­ti­ges Buch, kri­ti­sier­te aber gleich­zei­tig die ideo­lo­gi­schen Aus­sa­gen Sol­sche­ni­zyns. Dar­über hin­aus bemän­gel­te er, daß gewis­sen Opfer­grup­pen, wie bei­spiels­wei­se Opfern aus der Par­tei­eli­te, kein Mit­leid ent­ge­gen­ge­bracht werde.

In der BRD wur­de der ers­te Band des Archi­pel Gulag in den ers­ten vier Mona­ten über eine Mil­li­on Mal ver­kauft. Das Buch geriet mit­ten in die Debat­te über die neue Ost­po­li­tik des Bun­des­kanz­lers Brandt und der sozi­al­li­be­ra­len Regie­rung. Die Geg­ner der neu­en Poli­tik, die vor allem aus kon­ser­va­ti­ven Krei­sen kamen, sahen sich durch das Werk bestä­tigt, denn es schil­der­te die Grau­sam­keit der Sowjet­uni­on. Die Befür­wor­ter der Regie­rung und die Links­in­tel­lek­tu­el­len stan­den zwar in eini­gen Punk­ten in Kon­flikt mit ­Sol­sche­ni­zyn, enga­gier­ten sich aber für des­sen Auf­nah­me in die BRD.

Ins­ge­samt domi­nier­ten jene Autoren die Debat­te, die sich für die Fort­set­zung der Ent­span­nungs­po­li­tik und für die Dis­si­den­ten zugleich ein­setz­ten. Sol­sche­ni­zyn lös­te in lin­ken Krei­sen auch eine erneu­te kri­ti­sche Beschäf­ti­gung mit dem Sozia­lis­mus aus. Ein Ergeb­nis war der Sam­mel­band Die Sowjet­uni­on, Sol­sche­ni­zyn und die west­li­che Lin­ke, den unter ande­rem Rudi Dutsch­ke her­aus­gab. Eine grund­sätz­li­che Neu­ori­en­tie­rung wur­de dar­aus aller­dings nicht, was sicher auch dar­an lag, daß die Lin­ke meist ohne­hin einen anti­so­wje­ti­schen Sozia­lis­mus ver­trat. Eine star­ke kom­mu­nis­ti­sche Par­tei war seit dem Ver­bot der KPD 1956 auch nicht vorhanden.

In Frank­reich lös­te der Archi­pel Gulag dage­gen eine hef­ti­ge Kon­tro­ver­se aus. Die Rezi­pi­en­ten des Wer­kes las­sen sich in drei Grup­pen grob unter­tei­len, näm­lich in Kom­mu­nis­ten, die mit dem PCF, der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Frank­reichs, sym­pa­thi­sier­ten oder Par­tei­mit­glie­der waren, nicht­kom­mu­nis­ti­sche Lin­ke, die eine »Uni­on de la gau­che« (Uni­on der Lin­ken) anstreb­ten, und Libe­ra­le, die jeg­li­chen Sozia­lis­mus ablehn­ten. Die Kom­mu­nis­ten ver­lo­ren deut­lich an Pres­ti­ge, da nach den Ereig­nis­sen von 1956 und 1968 nun erneut der Ter­ror der Sowjet­uni­on offen­kun­dig wur­de. Vie­le Intel­lek­tu­el­le distan­zier­ten sich auch von ihrer kom­mu­nis­ti­schen Vergangenheit.

Aus der Grup­pe der Nicht­kom­mu­nis­ten, die trotz Kri­tik­punk­ten an ­Sol­sche­ni­zyn für die Dis­si­den­ten ein­tra­ten, bil­de­te sich Ende der sieb­zi­ger Jah­re die Strö­mung der »Nou­veaux phi­lo­so­phes« (Neue Phi­lo­so­phen) her­aus. André Glucks­mann, ein Phi­lo­soph die­ser Rich­tung, der sogar frü­her Mit­glied des PCF gewe­sen war, rech­ne­te in Köchin und Men­schen­fres­ser mit dem Mar­xis­mus ab, den er als Ursa­che des Gulags betrach­te­te. Für die­ses in lin­ken Krei­sen stark dis­ku­tier­te Buch wur­de er maß­geb­lich vom Archi­pel Gulag beeinflußt.

Die letz­te Grup­pe, die Libe­ra­len um Ray­mond Aron, die schon län­ger den Tota­li­ta­ris­mus in der Sowjet­union ver­ur­teil­te, erleb­te durch Sol­sche­ni­zyns Opus einen Pres­ti­ge­zu­wachs. Beson­ders Aron fand nach­träg­li­che Aner­ken­nung für sei­ne lang­jäh­ri­ge Tota­li­ta­ris­mus­kri­tik und erleb­te einen Bedeu­tungs­ge­winn par­al­lel zum Bedeu­tungs­ver­lust sei­nes Ant­ago­nis­ten Jean-Paul Sart­re. Ins­ge­samt kam es im Feld der fran­zö­si­schen Intel­lek­tu­el­len zu einer Ver­schie­bung zuguns­ten der anti­kom­mu­nis­ti­schen und anti­mar­xis­ti­schen Den­ker. Die­se Ent­wick­lung läßt sich beson­ders anhand der Ver­än­de­rung der Zeit­schrif­ten­land­schaft und der Grün­dung von Komi­tees nachweisen.

Direkt nach dem Zusam­men­bruch des Kom­mu­nis­mus gab es aus vie­len wis­sen­schaft­li­chen Dis­zi­pli­nen im Wes­ten Stim­men, die ­Sol­sche­ni­zyn und sei­nem Werk einen gro­ßen Anteil an die­ser Ent­wick­lung bei­ma­ßen. Danach mehr­ten sich aller­dings die Kri­ti­ker, die Sol­sche­ni­zyn Homo­pho­bie, Natio­na­lis­mus und Frau­en­feind­lich­keit vor­war­fen. Die ange­führ­ten Punk­te bezo­gen sich dabei nicht nur auf sei­ne neue­ren Wer­ke, son­dern auch auf den Archi­pel Gulag. Die Kom­pa­ra­tis­tin Eli­sa Kri­za kon­sta­tier­te bei­spiels­wei­se, daß ­Sol­sche­ni­zyn von 1991 an immer mehr von kon­ser­va­ti­ven und rechts­ge­rich­te­ten Wis­sen­schaft­lern rezi­piert wor­den sei.

Wäh­rend es das Opus in Ruß­land nun bis in den Schul­un­ter­richt geschafft hat, wird es in der west­li­chen Welt also kri­ti­scher als frü­her beur­teilt. Es droht die Gefahr, daß der Archi­pel ­Gulag im Wes­ten in Ver­ges­sen­heit gerät. Man soll­te an die­ser Stel­le unbe­dingt her­aus­stel­len, daß das Werk die gan­ze Viel­falt mensch­li­chen Ver­hal­tens in der extre­men Situa­ti­on des Lagers auf ein­drucks­vol­le Wei­se illustriert.

Daher bleibt Sol­sche­ni­zyns Haupt­werk neben sei­nem lite­ra­ri­schen Wert wei­ter­hin als Quel­len­samm­lung auch für die Geschichts­wis­sen­schaft unum­gäng­lich. Anne App­le­baum, die eine an Sol­sche­ni­zyn ori­en­tier­te Gesamt­dar­stel­lung des Gulags 2003 publi­zier­te, sei als Bei­spiel genannt.

 Druckausgabe

Beitrag aus der Druckausgabe der Sezession. Abonnieren Sie!

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)