»Endlich regt sich’s wieder, das seit langem schlummernde Königskind der deutschen Dichtung, endlich schlägt die Ballade wieder die schwermütigen verschlafenen Augen auf. Seit Jahren bin ich als sein getreuester Ritter herumgegangen und habe geworben«, resümiert Börries Freiherr v. Münchhausen 1906.
Ein erster Band mit eigenen Gedichten ist 1897 erschienen. Seine große Schaffenszeit als Wiederbeleber der lyrischen Erzählung, als Balladendichter von Rang endet mit dem Kaiserreich und der sich formierenden Republik, das Poetisch-Schöpferische versiegt danach weitgehend.
Der populäre Münchhausen wirkt nun vor allem in literarisch-kultureller Mission, publizistisch ist er tätig und als hochbezahlter Vortragender. Etwa eine dreiviertel Million seiner Bücher werden zu seinen Lebzeiten verkauft, nicht nur die Bündische Jugend singt begeistert die Lieder, die nach seinen Texten komponiert werden, er selbst zählt einmal 636 Vertonungen.
Münchhausens Liederbuch und das Balladenbuch, Sammlungen, die als das »dichterische Werk« gelten, werden bis Anfang der 1960er Jahre aufgelegt. Zwar nie völlig ignoriert, dazu ist die Qualität der Texte zu hoch, aber immer stärker marginalisiert, ist er heute wenig bekannt. Der Name Münchhausen wird landläufig oft allein mit dem aus demselben niedersächsischen Adelsgeschlecht stammenden und als »Lügenbaron« in die Literaturgeschichte eingegangenen Verwandten aus dem 18. Jahrhundert verbunden.
Die nordisch-germanische Götterwelt, zweifelsfrei bewußt idealisierte Vergangenheiten, das Mittelalter, die oft unglückliche Liebe und tragische Kämpfe finden sich in den Dichtungen Münchhausens, allerdings auch bleibende Namen jenseits der Schlachtfelder, die Herausgehobenen. Balladen wie »Wodans Ritt« und die »Weissagung der Wala« bilden den Auftakt des Balladenbuches.
Im »Bauernaufstand«, besser bekannt als Lied unter der Eingangszeile »Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm«, heißt es am Ende: »Aufrauschte die Flamme mit aller Kraft, / Brach Balken, Bogen und Bande – / Ja, gnade dir Gott du Ritterschaft / Der Bauer stund auf im Lande!« Über den Obristen der »Feldlagerlieder aus dem Dreißigjährigen Kriege« wird gesagt: »Der Schwertgriff war sein heiliges Kreuz, / Sein Glaube: Die Reiterpistolen, / Und sein Gebet hieß kurz und ernst: / ›Euch soll der Teufel holen‹.«
Dem sterbenden Dürer, dem über seine Taubheit verzweifelnden Beethoven wandte sich Münchhausen ebenso zu wie Kant – »ein Zwerg, gebückt, unsäglich mager«, dabei »ein Ewiger«, der in seiner stillen Stube »Gesetze sucht!«
Zu den wenigen Dichtungen, die sich gegenwärtig zumindest noch in größeren Anthologien finden, zählt »Jenseits«, bekannt wiederum nach der Eingangszeile »Jenseits des Tales standen ihre Zelte«. Der Text hat als Fahrtenlied Karriere gemacht, gern und unredlich auch unter Auslassung der vierten Strophe, die man nur unter größter Anstrengung nicht homoerotisch zu lesen vermag. Von wohlmeinender Seite unserer Tage wird beklagt, daß eingängige, augenzwinkernde Münchhausen-Dichtungen fälschlich in den Rang eines pars pro toto erhoben worden seien, die als Charakteristikum seines Schaffens insgesamt jedoch wenig geeignet sind, allen voran die »Lederhosen-Saga« (»Es war ein schwarzbrauner Hirsch, / Großvater schoß ihn auf der Pirsch / Und weil seine Decke so derb und dick, / Stiftete er ein Familienstück. […] Denn Geschlechter kommen, Geschlechter vergehen, / Hirschlederne Reithosen bleiben bestehen«).
Börries Freiherr v. Münchhausen kommt am 20. März 1874 in Hildesheim zur Welt. Auf den Gütern der Familie verbringt er seine Jugend, das Studium führt ihn nach Heidelberg, München, Berlin und Göttingen. Dem väterlichen Wunsch folgend, schließt er das juristische Studium ab, 1899 wird er mit der Arbeit »Über die Pflicht zur Anzeige« promoviert. Münchhausens Studium gilt nicht allein der wenig geliebten Juristerei.
Die Kunstakademie in München besucht er, in Berlin kommen Philosophie und Literaturgeschichte hinzu, auch Naturwissenschaften; das Interessenspektrum ist breit. Das Dichterische ist das Ziel, an orientierenden Vorbildern ist neben Gottfried August Bürger, Theodor Fontane und anderen der Schweizer Conrad Ferdinand Meyer hervorzuheben.
In Göttingen ruft der junge Münchhausen eine »Akademie« ins Leben, sammelt Gleichgesinnte, den 1772 gegründeten »Göttinger Hainbund« hat man wohl als Vorläufer vor Augen. »Wir waren eine fröhliche Gesellschaft damals«, erinnert sich Münchhausen 1941. Eine Reihe von Namen zählt er auf, etwa Kuno von Hardenberg, Carl Bulcke, Ludwig Finckh, Levin Ludwig Schücking, Agnes Miegel oder Lulu von Strauß und Torney. Literarisch-künstlerisch oder wissenschaftlich werden alle der Genannten hervortreten.
Mit Schücking unterhält Münchhausen einen fast fünfzigjährigen, lesenswerten, publiziert vorliegenden Briefwechsel. Seine Beziehungen zu den beiden Dichterinnen beschränken sich nicht auf das Literarische, ein Kostverächter ist er diesbezüglich nie, auch nicht nach seiner 1902 erfolgten Heirat mit Anna von Breitenbuch. Münchhausen verantwortet mehrere Bände des jährlich erscheinenden Göttinger Musen-Almanachs. Ein Liebäugeln mit dem »Berliner Literaturbetrieb« bleibt eine kurze Episode. Die Moderne, der Naturalismus, gar der Expressionismus sind seine Sache nicht, um so mehr das Tradierte und die Neoromantik.
Die Notwendigkeit, eine Arbeit zur Sicherung seines Lebensunterhalts aufzunehmen, besteht für ihn nicht. Seit 1902 lebt er auf dem Rittergut Sahlis bei Kohren, südlich von Leipzig. In den Reihen des sächsischen Garde-Reiter-Regiments nimmt er am Krieg teil, zuletzt als Rittmeister. Zunächst im Osten, wird er 1916 gesundheitsbedingt ins Auswärtige Amt versetzt. Seit 1920 residiert er auf Schloß Windischleuba bei Altenburg.
Standesbewußt und dabei liebeswürdig gibt er sich, der Begriff des Grandseigneurs fällt im Zusammenhang mit seinem Namen. Über längere Zeiträume getrübte Stimmungen bleiben allerdings nicht aus. Niedergedrückt vom Gefühl des Untergangs der alten Welt zeigt sich Münchhausen im 1919 entstandenen Gedicht »Abgesessen«, Bild sind ihm seine Garde-Reiter: »Wer heute müde aus dem braunen Sattel steigt, / Dem hat das Leben die dunkelste Stunde gezeigt, / Wer heute den Fuß über die dampfende Kruppe hebt, / Hat den finstersten Tag der Reiter heruntergelebt!« Einen schweren persönlichen Schlag wird dann 1934 der Unfalltod seines einzigen Sohnes bedeuten; Münchhausen fügt seiner Titulatur in der Folge oft »Der letzte seines Stammes« hinzu, was Böswillige seiner Eitelkeit zurechnen.
Reichlich Kontakte und Freundschaften pflegt er, er lädt auf seinen Besitz, für Ehrungen ist er sehr empfänglich. Eine philosophische Ehrendoktorwürde ist 1924 darunter, Kammerherr der Herzogin von Sachsen-Altenburg ist er bereits 1909 geworden und Domherr von St. Marien zu Wurzen 1920. Um der von ihm abgelehnten literarischen Moderne auch institutionell entgegenzutreten, ruft er 1932, gemeinsam mit Hans von der Gabelentz, die Deutsche Dichterakademie, den »Wartburgkreis«, ins Leben. Erwin Guido Kolbenheyer, Hans Grimm, Emil Strauß und Hanns Johst sind ihm hier verbunden, und immer noch Agnes Miegel.
In die Dichtersektion der Preußischen Akademie der Künste rückt er erst Mitte 1933 auf, nach der Verdrängung der den NS-Machthabern unliebsamen Mitglieder. Wer Bedarf nach eindeutiger politischer Einordnung hat, dem macht es Münchhausen schwer. Gottfried Benn bekämpft er auf das heftigste, im Zuge seines – vergeblichen – Bemühens um Autonomie der Akademie ist er reichlich Angriffen der NS-Presse ausgesetzt. Die »gültigen Erfolge dieser Zeit« bejaht er, den »Stacheldraht um die Garbe der geistigen Freiheit« sieht er als hohen Preis dafür. Das Judentum beschäftigt ihn früh. 1900 erscheint sein Werk Juda, die Dichtungen schöpfen ihren Stoff aus der hebräischen Bibel.
Der Münchhausen freundschaftlich verbundene Ephraim Moses Lilien gestaltet das äußerst erfolgreiche Buch. Münchhausen gibt sich als Zionist, Theodor Herzl zollt ihm Bewunderung, und Münchhausen wiederum bedichtet Herzl (»Du führtest dein Volk aus der Fremde ins Vaterland«). Anläßlich des Pogroms von Kischinjow 1903 verfaßt er »Die Hesped-Klage«. 1919 fragt er Schücking: »Bedrückt nicht auch Dich diese ganz ausschließliche Leitung germanischen Geschicks durch semitische Intelligenzen und – Charaktere?!«
Die von ihm ausgemachte Bedrohung des Geisteslebens treibt ihn zu verschiedenen, mitunter drastischen Stellungnahmen. Er legt jedoch mehrfach, nicht nur im Schreiben an Schücking, Wert darauf, zu unterstreichen, daß er »nicht Antisemit« sei. 1936 verwendet er sich dafür, jüdische Namensänderungen rückgängig zu machen. Widersprüche? Meinungsumschwünge? Opportunismus? Oder doch konsistent? Für Münchhausen ist das Jüdische eine Welt für sich, die eine Welt für sich bleiben sollte.
Den Endsieg-Glauben trägt er lange vor sich her. Am 16. März 1945 wählt er in Windischleuba den Freitod. Bereits 1896 hat er den Wusch geäußert: »Zur Sichelstunde will ich sagen können, / Was ich mir tat an allen Tagen gönnen: / Bin faltergleich durch Lenzesluft geflogen / Und habe jeder Blume Duft gesogen«.
Mag sein, daß es geglückt ist.