Deutsche in Rußland – ein Überblick

von Ellen Kositza, Erik Lehnert und Caroline Sommerfeld

PDF der Druckfassung aus Sezession 118/ Februar 2024

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Ruß­land­deut­sche

Wer sich über die Geschich­te der Ruß­land­deut­schen kun­dig machen möch­te, fin­det in den Eck­art­schrif­ten der Öster­rei­chi­schen Lands­mann­schaft (ÖLM) taug­li­ches Mate­ri­al (sie­he Kasten).

Alfred Eis­feld skiz­ziert die Umris­se: »Die Geschich­te der Ruß­land­deut­schen beginnt im wesent­li­chen mit der plan­mä­ßi­gen Ansied­lung deut­scher Bau­ern, die durch wirt­schaft­li­che Not, poli­ti­sche Unter­drü­ckung oder Beein­träch­ti­gung der Glau­bens­frei­heit in ihrer Hei­mat, unter Zarin Katha­ri­na II., die selbst deut­scher Abstam­mung war, als Kolo­nis­ten ins Land geru­fen wurden.

Wie in den ande­ren euro­päi­schen Ost- und Süd­ost­staa­ten bedeu­te­te auch für die Deut­schen in Ruß­land der Ers­te, beson­ders aber der Zwei­te Welt­krieg das Ende ihrer geschlos­se­nen Volks­grup­pe und der eige­nen Sied­lun­gen. Ins­ge­samt wur­den 1942 800 000 Deut­sche nach den asia­ti­schen Tei­len der UdSSR depor­tiert, über 400 000 waren bereits frei­wil­lig oder unfrei­wil­lig dort, wo sie, der ›akti­ven Unter­stüt­zung der deutsch-faschis­ti­schen Aggres­si­on‹ beschul­digt, bis 1955 wie Straf­ge­fan­ge­ne in Son­der­sied­lun­gen leben mußten.«

Der See­trans­port der von soge­nann­ten Beru­fern rekru­tier­ten deut­schen Kolo­nis­ten erfolg­te ab Lübeck oder Dan­zig und dau­er­te oft Wochen. »In der Hafen­stadt Ora­ni­en­baum, dem heu­ti­gen Lomo­nossow, leis­te­ten die Ein­wan­de­rer den Unter­ta­nen­eid, bevor sie wei­ter­ge­lei­tet wur­den« (Eis­feld 1986).

Spä­ter wur­den beson­ders Menon­ni­ten und Ami­sche ange­wor­ben, nach »Neu­ruß­land« zu über­sie­deln, vor allem mit der Aus­sicht, nicht zur Armee ein­be­ru­fen zu wer­den, da sie aus reli­giö­ser Stren­ge den Dienst an der Waf­fe ablehn­ten. »14 Fami­li­en aus die­ser Grup­pe wur­den in der stark geschwäch­ten Kolo­nie Alt-Schwe­den­dorf ange­sie­delt, 21 Fami­li­en grün­de­ten die Kolo­nie Dan­zig im Bezirk Jeli­za­wet­grad. Nach eini­gen Jah­ren wur­de die­se in Alt-Dan­zig umbe­nannt. […] Von den 100 ange­wor­be­nen Fami­li­en (einer wei­te­ren Kolo­nis­ten­grup­pe) star­ben unter­wegs zehn rest­los aus.« (ebd.)

Unter allen Katha­ri­na II. nach­fol­gen­den Zaren gab es wei­te­re gro­ße Ein­wan­de­rungs­wel­len, inzwi­schen wur­den auch die asia­ti­schen Gebie­te jen­seits der Wol­ga- und Schwarz­meer­ge­gend und die Kau­ka­sus­re­gi­on besie­delt. Die Deut­schen waren über­all bekannt für ihren Fleiß, ihre Sau­ber­keit und ihr Orga­ni­sa­ti­ons­ta­lent – doch rief dies auch Feind­schaft hervor.

»Mit dem Regie­rungs­an­tritt Alex­an­ders III. gewan­nen die Sla­wo­phi­len an Ein­fluß. Das Mot­to des Zaren ›Ruß­land muß den Rus­sen gehö­ren‹ erhob die Aus­län­der­feind­lich­keit zur Staats­po­li­tik und ver­stärk­te den Deut­schen­haß. Das Schlag­wort von der ›Ger­ma­ni­sie­rung‹ Wol­hyniens tauch­te immer wie­der auf.« (ebd.)

Deutsch war die Spra­che der ruß­land­deut­schen Schu­len und der Got­tes­diens­te, bis zum Zwei­ten Welt­krieg sprach ein gro­ßer Teil der Ruß­land­deut­schen kein Rus­sisch, da sie meist in rein deut­schen Ort­schaf­ten wohn­ten. Ihr Haupt­erwerbszweig war die Land­wirt­schaft, sie bewirt­schaf­te­ten drei Mil­lio­nen Hekt­ar mehr als die gesam­te land­wirt­schaft­li­che Nutz­flä­che des dama­li­gen Deut­schen Reiches.

Mit Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs wur­den die Deut­schen zu Fein­den des Rus­si­schen Rei­ches erklärt. Die Wolhynien­deutschen wur­den nach Sibi­ri­en depor­tiert, es gab zahl­rei­che »Deut­schen­po­gro­me«, von denen auch Alex­an­der Sol­sche­ni­zyn in sei­nem Roman Das Rote Rad. Novem­ber sech­zehn berich­tet.

Im Sowjet­kom­mu­nis­mus wur­de for­mal jeder Natio­na­li­tät ihre eige­ne Repu­blik zuge­teilt, so daß auch eine »Deut­sche Wol­ga­re­pu­blik« bestimmt wur­de und neun deut­sche »Ray­ons« (Land­krei­se) unter ande­rem in der Ukrai­ne, ­Geor­gi­en und Aser­bai­dschan. Die meis­ten Ruß­land­deut­schen waren aber from­me Chris­ten und daher nie­mals für den Bol­sche­wis­mus zu gewinnen.

»Tau­sen­de von deut­schen Bau­ern zogen damals mit ihren Fami­li­en nach Mos­kau, um die Aus­rei­se zu erzwin­gen. Immer­hin gelang es etwa 6000 Ruß­land­deut­schen, nach Mos­kau zu kom­men und dort die Aus­rei­se­er­laub­nis nach Süd­ame­ri­ka zu erhal­ten. Tau­sen­de ande­re wur­de des­we­gen ver­haf­tet und in die Ver­ban­nung geschickt« (ebd.)

Die Wol­hy­ni­en­deut­schen, die nach dem Ers­ten Welt­krieg aus der Ver­ban­nung in Sibi­ri­en zurück­keh­ren konn­ten, wur­den unter Sta­lin 1937 wie­der nach Sibi­ri­en depor­tiert, die deut­schen Ray­ons wur­den auf­ge­löst, genau­so wie die deut­schen Schu­len. Vie­le Leh­rer ersetz­ten die Sowjets durch emi­grier­te deut­sche Kom­mu­nis­ten, aber auch die­se wur­den groß­teils spä­ter ermor­det. Im Schick­sals­jahr 1941 ver­schlepp­te man dann die Ruß­land­deut­schen geschlos­sen in die kasa­chi­sche Step­pe. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg wur­den fast alle Ruß­land­deut­schen, die es in der Zwi­schen­zeit geschafft hat­ten, ins Deut­sche Reich zu flie­hen, von den West­al­li­ier­ten an die Sowjet­uni­on aus­ge­lie­fert und wegen »Ver­rats der sozia­lis­ti­schen Hei­mat« zu Zwangs­ar­beit ver­ur­teilt. (CS)

 

 

Bal­ten­deut­sche

Wenn man in der ers­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts in Deutsch­land von den »bal­ti­schen Pro­vin­zen« sprach, waren Est­land, Kur­land und Liv­land gemeint, das heu­ti­ge Est­land und Lett­land. Die bei­den bal­ti­schen Staa­ten tei­len seit dem Ende 18. Jahr­hun­dert ein gemein­sa­mes Schick­sal. Sie gehör­ten seit der letz­ten pol­ni­schen Tei­lung zu Ruß­land und erlang­ten erst am Ende des Ers­ten Welt­krie­ges und erneut 1990 ihre Unab­hän­gig­keit. Est­land gehör­te bereits seit 1721 größ­ten­teils zu Ruß­land und war vor­her dänisch gewesen.

Bei­de, Est­land und Lett­land, stan­den seit dem Mittel­alter unter deut­schem Ein­fluß, der sich einer­seits aus der Herr­schaft des Deut­schen Ordens und ande­rer­seits dem Erfolg der Han­se erklärt. Die deut­sche Ober­schicht stell­te Adel und Bür­ger­tum der Län­der, was dafür sorg­te, daß bei­de seit der Refor­ma­ti­on evan­ge­lisch sind. Die deut­sche Min­der­heit in Litau­en wur­de und wird nicht zu den Bal­ten­deut­schen gezählt, da sich ihre Geschich­te stark unterscheidet.

Das Deutsch­tum im Bal­ti­kum exis­tier­te also bereits, bevor die Rus­sen die Herr­schaft dort über­nah­men. Die ers­ten Deut­schen kamen im Zuge der Ost­sied­lung ins Land, nach­dem der Schwert­brü­der­or­den, der bereits 1237 im Deut­schen Orden auf­ging, Anfang des 13. Jahr­hun­derts die Gebie­te unter sei­ne Herr­schaft gebracht hat­te. Es waren aller­dings kei­ne Bau­ern, die ins Land kamen, son­dern Rit­ter, die sich bald als land­be­sit­zen­de Ober­schrift eta­blier­ten, zah­len­mä­ßig aller­dings kaum ins Gewicht fie­len. Anders sah es in den Städ­ten aus, die von Deut­schen gegrün­det wur­den und oft der Han­se ange­hör­ten. Hier stell­ten die Deut­schen nicht nur die Ober­schicht, son­dern auch die Bevölkerungsmehrheit.

Mit der rus­si­schen Herr­schaft konn­ten sich die Deut­schen zunächst gut arran­gie­ren, nicht zuletzt, weil schon lan­ge gute Han­dels­be­zie­hun­gen nach Ruß­land exis­tier­ten und der bal­ten­deut­sche Adel seit der Zeit Iwans des Schreck­li­chen in rus­si­schen Dienst stand. Jür­gen von Fah­rens­bach spiel­te eine her­aus­ra­gen­de Rol­le bei Iwans Sieg über die Tata­ren, Adam Johann von ­Kru­sen­s­tern war der Kom­man­deur der ers­ten rus­si­schen Welt­um­se­ge­lung, und Paul von ­Ren­nen­kampff ver­lor 1914 die Tan­nen­berg­schlacht. Die deut­sche Uni­ver­si­tät Dor­pat war eine der wich­tigs­ten Bil­dungs­stät­ten des Reiches.

1887 leb­ten in den bal­ti­schen Pro­vin­zen 165 000 Deut­sche, 1 070 300 Let­ten, 885 200 Esten und 128 900 Rus­sen. Seit 1906 wur­den dort zusätz­lich 20 000 deut­sche Kolo­nis­ten aus Ruß­land ange­sie­delt. Der länd­li­che Grund­be­sitz bestand in den Pro­vin­zen zu 40 bis 60 Pro­zent aus Groß­grund­be­sitz, von dem sich 80 bis 90 Pro­zent in deut­schem Besitz befanden.

Ende des 19. Jahr­hun­derts setz­te eine schar­fe Rus­si­fi­zie­rung­kam­pa­gne ein, mit der die kul­tu­rel­le Macht der Deut­schen gebro­chen wer­den soll­te. Rus­sisch wur­de zur Amts- und Lehr­spra­che, tra­di­tio­nel­le For­men der bal­ti­schen Gerichts­bar­keit wur­den ver­bo­ten. Der Druck der Rus­si­fi­zie­rung ver­schärf­te die sozia­len Kon­flik­te, indem der Haß der Unter­schich­ten gegen die Deut­schen gelenkt wurde.

Im Ers­ten Welt­krieg dien­ten vie­le Bal­ten­deut­sche in der rus­si­schen Armee. Zum Ende des Krie­ges fie­len vie­le Deut­sche bol­sche­wis­tisch und natio­na­lis­tisch moti­vier­ten Mord­ta­ten, dem »roten Ter­ror«, zum Opfer. Der Ver­such der Bal­ti­schen Land­wehr, die deut­schen Inter­es­sen im Bal­ti­kum zu wah­ren und die Bal­ten­deut­schen zu schüt­zen, miß­lang. Im Zuge der Erlan­gung der staat­li­chen Unab­hän­gig­keit wur­den die Deut­schen nach und nach ent­eig­net, vie­le ver­lie­ßen das Bal­ti­kum Rich­tung Westen.

Das Ende der Deut­schen im Bal­ti­kum wur­de mit der Unter­zeich­nung des deutsch-sowje­ti­schen Nicht­an­griffs­pakts ein­ge­läu­tet. In einem Zusatz­pro­to­koll war die Umsied­lung der Bal­ten­deut­schen ver­ein­bart wor­den. Die­se erfolg­te zwi­schen Okto­ber und Dezem­ber 1939 in die erober­ten west­pol­ni­schen Gebie­te (Warthe­gau). Anfang 1941 gab es eine zwei­te Umsied­lungs­wel­le ins Alt­reich. Heu­te leben nur noch weni­ge tau­send deut­sche Mut­ter­sprach­ler im Bal­ti­kum, von denen aber die wenigs­ten von Bal­ten­deut­schen abstam­men. (EL)

 

 

Deut­sche Stu­den­ten in Rußland

Das gegen­sei­ti­ge Inter­es­se am Erler­nen der je ande­ren Spra­che hat sowohl in Ruß­land als auch in Deutsch­land in den ver­gan­ge­nen drei Jahr­zehn­ten dras­tisch nach­ge­las­sen. Ent­schie­den sich 1992 noch rund 500 000 deut­sche Schü­ler für Rus­sisch als Wahl­pflicht­fach, waren es im Schul­jahr 2020/21 nur noch 94 000. Neue­re Zah­len lie­gen nicht vor. Ein Erfah­rungs­be­richt: Bei mei­nen älte­ren Kin­dern gab es im Gym­na­si­um stets zwei Rus­sisch­klas­sen – im Jahr­gang der jüngs­ten Toch­ter, weni­ge Wochen nach dem Angriff Ruß­lands auf die Ukrai­ne im Febru­ar 2022, wähl­ten sich von den rund hun­dert Schü­lern nur ein knap­pes Dut­zend des Jahr­gangs in »Rus­sisch« ein. Von den 94 000 bun­des­weit dürf­ten wir weit abge­rückt sein. In Ruß­land gibt es umge­kehrt heu­te rund 1,8 Mil­lio­nen Deutsch­ler­ner – auch die­se Zah­len sind in den ver­gan­ge­nen Jah­ren eingebrochen.

Zahl­rei­che, um nicht zu sagen: die meis­ten, deut­sche Uni­ver­si­tä­ten haben im Früh­jahr 2022 die insti­tu­tio­nel­le Koope­ra­ti­on mit rus­si­schen Uni­ver­si­tä­ren ein­ge­stellt. Das hat die Zahl der Stu­den­ten dezi­miert. In den Jah­ren zuvor schon lag die Zahl deut­scher Stu­den­ten in Ruß­land über Jah­re auf dem nied­ri­gen Niveau von rund 1500. Die Zulas­sungs­hür­den sind rela­tiv hoch, es wer­den unter ande­rem bes­se­re Sprach­kennt­nis­se ver­langt als im euro­päi­schen Ausland.

Die meis­ten Deut­schen stu­die­ren in St. Peters­burg, ein wei­te­rer Groß­teil in Mos­kau, die ande­ren ver­teil­ten sich über 52 wei­te­re Städ­te. Deut­sche in Ruß­land stu­die­ren zumeist Rus­sisch, gefolgt von Wirt­schafts- und Inge­nieurs­fä­chern. Stu­den­ten­wohn­hei­me (stan­dard­mä­ßig mit Mehr­bett­zim­mern!) sind spott­bil­lig, die Stu­di­en­ge­büh­ren rela­tiv nied­rig. Zum Ver­gleich: In den USA und Groß­bri­tan­ni­en, wo die Stu­di­en- und Miet­kos­ten bekannt­lich sehr hoch sind, stu­die­ren knapp 10 000 und 14 000 Deut­sche. In Chi­na sind es knapp 9000, in der Tür­kei gut 4000. (EK)

 

 

Aus­sied­ler

Gegen Ende der Sowjet­zeit begann die erneu­te Wan­de­rung der Ruß­land­deut­schen, dies­mal in umge­kehr­ter Rich­tung – nach Deutschland.

»Ruß­land­deut­sche, die den Ausreis­an­trag stell­ten, ver­lo­ren oft ihren Arbeits­platz, auch die Woh­nung, sie konn­ten des­we­gen bis zu 15 Tage ›in Poli­zei­ge­wahr­sam‹ genom­men wer­den, ande­re wur­den für meh­re­re Jah­re ins Gefäng­nis gesteckt, weil der Aus­rei­se­an­trag eine Belei­di­gung der Sowjet­uni­on sei. Wenn ein Sohn sei­ne Mili­tär­dienst­zeit erfüllt hat­te, durf­te er meh­re­re Jah­re lang nicht aus­wan­dern. Oft wur­den von den Aus­sied­lern hohe Geld­be­trä­ge (manch­mal in D‑Mark oder Dol­lar!) gefor­dert ›für die Rück­erstat­tung der Aus­bil­dung in der Sowjet­uni­on‹.« (Eber­bach 2003, sie­he Kasten)

In der Jel­zin-Ära stieg zuerst die Hoff­nung vie­ler Ruß­land­deut­scher, in den neu­en Repu­bli­ken unbe­hel­ligt leben und ihre Mut­ter­spra­che spre­chen zu dür­fen. Eine Wie­der­errich­tung der Wol­ga­re­pu­blik stand sogar in Aus­sicht, schei­ter­te aber, was eine Mas­sen­aus­wan­de­rung in die Bun­des­re­pu­blik aus­lös­te. 95 Pro­zent der Kau­ka­sus­schwa­ben bei­spiels­wei­se waren 25 Jah­re spä­ter in die alte Hei­mat über­sie­delt (vgl. Paul­sen 2016).

In den isla­mi­schen ehe­ma­li­gen Sowjet­re­pu­bli­ken (Kasach­stan, Usbe­ki­stan, Tadschi­ki­stan, Kir­gi­si­stan, Turk­me­ni­stan), stieg der Aus­wan­de­rungs­druck. Die Aus­ma­ße der Um- und Rück­sied­lun­gen, Flücht­lings­strö­me und De-fac­to-Säu­be­run­gen Anfang der 1990er Jah­re nahm der Wes­ten größ­ten­teils nicht zur Kenntnis.

In der BRD stieg nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung die Arbeits­lo­sig­keit, vie­le Mit­tel­deut­sche zogen in die west­li­chen Bun­des­län­der, die ver­spro­che­nen »blü­hen­den Land­schaf­ten« blie­ben eher kahl, und die meis­ten ehe­ma­li­gen DDR-Bür­ger woll­ten nach oft­mals trau­ma­ti­schen bio­gra­phi­schen Brü­chen kei­nes­falls neue »Rus­sen« will­kom­men hei­ßen. »Natür­lich woll­ten nun auch vie­le, die frü­her ihre deut­schen Vor­fah­ren ver­leug­net hat­ten, in den ›gol­de­nen Wes­ten‹, natür­lich gab es unter den Ruß­land­deut­schen Oppor­tu­nis­ten – wo gibt es sie nicht, gera­de in so schwe­ren Ver­hält­nis­se, wie es eigent­lich das gan­ze 20. Jahr­hun­dert für die Ruß­land­deut­schen brach­te?« (Eber­bach 2003)

Der Groß­teil der Aus­sied­ler hat­te ein idea­li­sier­tes Bild der alten Hei­mat – eine Mix­tur aus Preu­ßen, dem »Länd­le« oder Alt­würt­tem­berg, Drit­tem Reich, Wirtschaftswunderbundes­republik mit Voll­be­schäf­ti­gung, ame­ri­ka­ni­schem Kon­sum und Häus­le­bau­en, vor allem aber mit über­lie­fer­ter Volks­kul­tur und unzer­stör­tem christ­li­chen Glau­ben – und wur­de von der real ­exis­tie­ren­den BRD tief enttäuscht.

Ruß­land­deut­sche waren in den 90er Jah­ren schlicht unbe­lieb­te Aus­län­der: Das wie­der­ver­ei­nig­te Deutsch­land ver­füg­te weder auf poli­ti­scher Ebe­ne noch im Volk über irgend­ei­ne geis­ti­ge Reser­ve, um zu begrei­fen, daß es sich hier um Lands­leu­te han­del­te, die teil­wei­se gegen mas­si­ve Repres­sio­nen in der Sowjet­uni­on Tra­di­tio­nen, Spra­che und Glau­ben bewahrt hat­ten und eigent­lich ein Gewinn für Deutsch­land wären. Schon vor der Wen­de bezeich­ne­te ­Oskar ­Lafon­taine die Auf­nah­me von Ruß­land­deut­schen als »Deutsch­tü­me­lei«. Statt die Aus­sied­ler also zu »inte­grie­ren« (was wesent­lich leich­ter mög­lich gewe­sen wäre als bei allen ande­ren Migran­ten­grup­pen), hielt man sie für noch »abge­häng­ter« als die »Ossis«. (CS)

Mos­kau­deut­sche

Bereits lan­ge bevor die Deut­schen als Sied­ler nach Ruß­land kamen, gab es in den weni­gen gro­ßen Städ­ten deut­sche Gemein­den. Die­se wer­den gele­gent­lich als Mos­kau­deut­sche bezeich­net, auch wenn sich ihre Anwe­sen­heit nicht auf Mos­kau beschränk­te. Die­se Deut­schen leb­ten auch schon lan­ge vor Peter dem Gro­ßen in Ruß­land, der ihre Zahl aller­dings durch sei­ne Anwer­bun­gen deut­lich erhöh­te. Um 1670 sol­len 18 000 West­eu­ro­pä­er in Ruß­land gelebt haben, im 18. Jahr­hun­dert kamen min­des­tens 50 000 bis 80 000 Deut­sche dazu.

Bereits seit dem 12. Jahr­hun­dert exis­tier­te in Now­go­rod der Peter­hof, die Han­dels­nie­der­las­sung der deut­schen Han­se-Kauf­leu­te. Nach­dem Now­go­rod Ende des 15. Jahr­hun­derts in das Groß­fürs­ten­tum Mos­kau ein­ge­glie­dert wor­den war, kamen alle deut­schen Kauf­leu­te zunächst ins Gefäng­nis, weil in Reval zur sel­ben Zeit zwei Rus­sen hin­ge­rich­tet wor­den waren, spä­ter kamen eini­ge von ihnen nach Mos­kau. Gleich­zeit gab es ers­te Anwer­bun­gen von West­eu­ro­pä­ern. Unter der Herr­schaft Iwans des Schreck­li­chen ent­stand in der Nähe von Mos­kau eine ers­te Aus­län­der­sied­lung (Nemez­ka­ja Slo­bo­da), die wäh­rend der Zeit der Wir­ren zer­stört wurde.

Mit der Roma­now-Dynas­tie began­nen auf­grund mili­tä­ri­scher Not­wen­dig­kei­ten erneut Anwer­bungs­ver­su­che west­eu­ro­päi­scher Fach­leu­te. Man beschränk­te sich dabei auf den pro­tes­tan­ti­schen Nor­den Euro­pas, da man den Katho­li­ken wegen ihrer poli­ti­schen Agen­da und ihres Mis­si­ons­ei­fers miß­trau­te. Neben Kauf­leu­ten kamen Hand­wer­ker, die Unter­neh­men grün­de­ten und bei der Erschlie­ßung der Boden­schät­ze hal­fen, und Offi­zie­re, die das rus­si­sche Heer in Form brin­gen soll­ten. Den Aus­län­dern war es zunächst ­gestat­tet, sich in Mos­kau nie­der­zu­las­sen, dort Grund­stü­cke zu erwer­ben und Kir­chen zu errichten.

Rus­si­sche Geist­li­che und tra­di­tio­nell geson­ne­ne Rus­sen nah­men an den Frem­den Anstoß. 1652 muß­ten alle Frem­den Mos­kau ver­las­sen und außer­halb der Stadt­gren­zen sie­deln. Dort ent­stand eine neue »Nemez­ka­ja Slo­bo­da«, in der es bald 1000 Ein­woh­ner und 1680 bereits vier Kir­chen und die ers­te Apo­the­ke Ruß­lands gab. »Die Vor­stadt zeich­ne­te sich von vorn­her­ein durch Sau­ber­keit, hüb­sche Stra­ßen und Gas­sen aus; sie blüh­te immer wei­ter empor, und im Anfang des 18. Jahr­hun­derts mach­te sie nach den uns erhal­te­nen Abbil­dun­gen mit ihren Stein­bau­ten, ihren Bäu­men und Tei­chen einen gera­de­zu ele­gan­ten Ein­druck.« (Karl Stählin)

Die Deut­schen erfreu­ten sich der beson­de­ren Gunst der Zaren, so eta­blier­te der Pfar­rer Johann Gott­fried Gre­go­ry das Thea­ter­spiel am Zaren­hof. Deut­sche spiel­ten zunächst als Erzie­her und Bera­ter, spä­ter als hohe Beam­te und Mili­tärs eine her­aus­ra­gen­de Rol­le im rus­si­schen Staat. Peter der Gro­ße emp­fing hier vie­le Anre­gun­gen. Mit der Grün­dung von Peters­burg im Jahr 1703 und der Erhe­bung zur Haupt­stadt 1712 hat­te das städ­ti­sche Deutsch­tum in Ruß­land ein neu­es Zen­trum. Hein­rich Schli­e­mann leg­te hier den Grund­stock zu sei­nem Reich­tum, der ihm spä­ter sei­ne Gra­bun­gen ermög­lich­te. (EL)

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