Wer darüber hinaus die Vereinbarkeit muslimischer Einwanderung mit dem aufgeklärten säkularen deutschen Staat – also sowohl mit der deutschen Gesellschaft als auch mit dem deutschen Rechtswesen – anzuzweifeln wagt, dem wird mit massiver Kritik und dem Vorwurf wahlweise der Islamophobie oder des Rassismus geantwortet. Den Islamwissenschaftler Tilman Nagel hindert dies nicht daran, in seinem neuen Buch die gängige Unterteilung des Islams in politisch und unpolitisch zu negieren.
Bereits im Ritualrecht, so Nagel, sei die dem Islam innewohnende untrennbare Verbindung von Staat und Religion angelegt. Ein unpolitischer Islam sei »Fiktion der zeitgenössischen Westler«. Zur Verdeutlichung seines Standpunktes wählt er das islamische Kontaktgebet und den Gebetsruf. Dem Leser wird der gewaltige Unterschied zwischen einem freien christlichen Gebet und dem streng und bis in kleinste Bewegungen vorgegebenen islamischen Pflichtgebet deutlich.
Der von Nagel behaupteten Bedeutung islamischer Gebete als reiner Ausdruck der Knechtschaft gegenüber Gott würde von muslimischer Seite heftig widersprochen werden – Muslime sehen sie recht einhellig dialogisch als »Gespräch mit Gott«. Die politische Ebene des Kontaktgebets verortet Nagel unter anderem in den Aufrufen zum gemeinsamen Gebet: Muslime sollten wenn möglich in der Gemeinschaft, nicht allein, beten und, so Nagel: Jeder Muslim folge dem Anspruch, diese muslimische Gemeinschaft über die gesamte Welt zu verbreiten; Gott sei ohnehin der Herrscher über diese Welt. Ein anderes Rechtssystem als das islamische sei demzufolge nichtig und vernichtenswert.
Der Versuch, vom betenden Muslim aufgrund der Aufforderung zum gemeinschaftlichen Gebet und der dem Islam scheinbar eigenen Überzeugung, der eigene Gott sei der einzig wahre (ist das nicht das Grundkonzept jeder Religion und Ideologie?), den Bogen zum islamischen Weltherrschaftsanspruch zu schlagen, führt zu jener Auslegung des Islams, die im westlichen Diskurs Islamismus genannt wird.
Ansätze für eine säkulare oder demokratische Praktizierung des Islams gibt es in verschiedene Richtungen, auch in Deutschland, etwa an den Studienorten für islamische Theologie. Auch in muslimischen Ländern wird in repräsentativen Umfragen die Vereinbarkeit von Demokratien und Islam erstaunlich oft bejaht.
Nagels Ausführungen zum Gebetsruf sind schlüssiger. Hier räumt er nicht nur mit gängigen Mythen auf, etwa: Der Gebetsruf sei elementarer Bestandteil des Gebets und daher von der Religionsfreiheit gedeckt. Sondern er erläutert auch die politische Dimension, die ein über Lautsprecher in deutschen Städten getätigter Ruf des Muezzins beinhaltet: Mit seiner Ausrufung gehe immer auch der Anspruch auf das entsprechende Gebiet einher, die Aufforderung, diese Macht anzuerkennen und zum Islam zu konvertieren.
Daß das »Gott ist größer« (Allahu akbar) an sich eine politische Botschaft sei (dieser Überzeugung ist Nagel), wird in der westlichen Islamwissenschaft nicht umsonst heiß diskutiert, ebenso, daß der Gebetsruf eventuell erst durch seine Anwendung im fremden, nichtmuslimischen Land eine politische Funktion enthalte. Dieser Teil des Buches verdeutlicht auch die von Nagel im Exkurs »Falsche Analogien und das Hirngespinst eines unpolitischen Islams« (ab S. 87) erläuterten Unterschiede zwischen islamischem Gebetsruf und christlichem Glockengeläut: hier ein nach muslimischer Tradition von Gott gegebener Aufruf zum Gebet, dort ein nicht exklusiv christliches Einläuten verschiedener Tageszeiten.
Nagels Buch bietet einen guten Einblick in die grundlegenden Unterschiede zwischen Islam und Christentum, die in der deutschen Islamwissenschaft (in Frankreich und Amerika ist der Diskurs ein völlig anderer!) zu wenig Beachtung finden. Teils wirkt es, als ziele das Büchlein auf Leser mit geringem islamrechtlichen Wissen ab: Daß etwa jeder Muslim nach Belieben die herrschende Regierung bekämpfen könne und die Gesetze eines nichtislamischen Staates für Muslime belanglos und ungültig seien, widerspricht Rechtsgutachten (Fatwas) muslimischer Behörden, solange diese Gesetze nicht zur Sündhaftigkeit führten.
Die ungenaue Übersetzung einiger Hadithe oder die Behauptung, Ehrenmorde seien islamischer Natur, zeichnen ein abschreckendes Bild der Religion. Spätestens wenn Nagel muslimischen Gelehrten unterstellt, Widersprüche in der islamischen Theologie wissentlich durch peinliche Ritentreue zu überdecken, begibt er sich auf ein Niveau, das eher von polemischen Predigern wie Zakir Naik zu erwarten wäre, der etwa Priestern und Päpsten vorwirft, die Falschheit des Christentums zu erkennen, Christen aber absichtlich fehlzuleiten. (Außerdem findet ein Diskurs über das Spannungsverhältnis freier Wille vs. Prädestination nach wie vor innerhalb der muslimischen Gelehrsamkeit statt – anders als von Nagel angedeutet.)
Die kritische Auseinandersetzung mit dem Islam, insbesondere mit dem Versuch, massenhaft muslimische Einwanderer in ein fremdes System einzugliedern und sie dann auch noch zu hofieren, könnte ohne große Schwierigkeiten hieb- und stichfest geführt werden. Nagel gelingt diese Kritik unzureichend.
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Tilman Nagel: Das islamische Pflichtgebet und der Gebetsruf. Eine ritualrechtliche Untersuchung nebst einem Exkurs über falsche Gleichsetzungen, Dresden: Basiliskenpresse 2024. 125 S., 19,60 €
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