Armin Nassehi: Gesellschaftliche Grundbegriffe

Hätte ich dieses Buch, sagen wir, 2000 in die Hände bekommen, wäre ich selig gewesen.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Da geht einer von Grund­be­grif­fen aus, die Niklas Luh­mann in sei­ner Sys­tem­theo­rie auf­ge­fä­chert hat, wen­det sie leicht­fü­ßig erzäh­lend und zugleich mit der gebüh­ren­den Refle­xi­ons­di­stanz auf sol­che Wör­ter an, die den gesell­schaft­li­chen Dis­kurs glei­cher­ma­ßen geschmei­dig wie sper­rig machen. Luh­mann hät­te gesagt, es han­de­le sich um »sym­bo­li­sche Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­en«, die sowohl Kom­ple­xi­tät redu­zie­ren als auch neue Kom­ple­xi­tät schaffen.

Ich hät­te vor vier­und­zwan­zig Jah­ren nach­ge­schla­gen, wenn ich einen Arti­kel zu schrei­ben gehabt hät­te, und mit Sicher­heit Nas­sehi zitiert, kurz: das Buch als das Glos­sar her­an­ge­zo­gen, das es sein will. Damals zitier­te ich gern aus dem Luh­mann-Lexi­kon von Det­lef Krau­se, denn dort konn­te ich sicher­ge­hen, neben den sys­tem­theo­re­ti­schen auch gesell­schaft­li­che Grund­be­grif­fe wie »Demo­kra­tie« oder »Kri­se« in der sper­ri­gen Spra­che einer ernüch­tern­den Funk­ti­ons­lo­gik neu defi­niert zu finden.

»Kri­se?« »Kri­sen wird man immer sehen, wenn man mit der Dop­pel­bril­le von Soll­wer­ten und his­to­ri­schem Bewußt­sein auf die Gesell­schaft blickt.« »Demo­kra­tie?« »Statt Selbst­herr­schaft des Vol­kes Spal­tung der Spit­ze des poli­ti­schen Sys­tems in Regie­rung und Oppo­si­ti­on« – so hoch­theo­re­tisch wie augenöffnend.

Von Ber­tolt Brecht stam­men die­se Sät­ze aus den 1930er Jah­ren: »Die Lage wird dadurch so kom­pli­ziert, daß weni­ger denn je eine ein­fa­che ›Wie­der­ga­be der Rea­li­tät‹ etwas über die Rea­li­tät aus­sagt. Eine Pho­to­gra­phie der Krupp-Wer­ke oder der AEG ergibt bei­na­he nichts über die­se Insti­tu­te. Die eigent­li­che Rea­li­tät ist in die Funk­tio­na­le gerutscht.« Fort­an muß­te sie erst mit mar­xis­ti­scher, dann mit sozio­lo­gi­scher Sys­tem­theo­rie beschrie­ben wer­den, deren Grund­be­griff der­je­ni­ge der Funk­ti­on ist.

Auch Nas­sehi, Luh­mann­schü­ler und Pro­fes­sor für Sozio­lo­gie in Mün­chen, geht in sei­nem Vor­wort zen­tral davon aus, daß eine funk­tio­na­le Ana­ly­se, wie Luh­mann in Sozia­le Sys­te­me 1984 vor­ge­ge­ben hat, »Rela­tio­nie­run­gen mit dem Ziel [benutzt], Vor­han­de­nes als kon­tin­gent und Ver­schie­den­ar­ti­ges als ver­gleich­bar zu erfas­sen«, und gibt dem Buch das Pro­gramm: »Die funk­tio­na­lis­ti­sche Metho­de betrach­tet ihren Gegen­stand als eine Lösung, bezieht die­se auf sys­tem­re­la­ti­ve Pro­ble­me und ent­deckt dabei Alter­na­ti­ven auf bei­den Seiten.«

Neh­men wir als Bei­spiel den gesell­schaft­li­chen Grund­be­griff »Kri­se«. Nas­sehi geht an ihn zunächst wie ver­spro­chen funk­ti­ons­ana­ly­tisch her­an, das heißt, er defi­niert Kri­sen nicht inhalt­lich als Abwei­chung von einem Soll­zu­stand, son­dern den Begriff »Kri­se« als Lösungs­for­mel für ein gesell­schaft­li­ches Pro­blem. »Die Kli­ma­kri­se ist kei­ne CO2-Kri­se, son­dern eine Kri­se der gesell­schaft­li­chen Form der Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung und daher eine kri­sen­haf­te Über­for­de­rung mit sich selbst.«

Wei­ters beschreibt er die Funk­ti­on von »Kri­sen« mit einem tref­fen­den Aus­druck Tal­cott Par­sons’ als »Ver­lust des Latenz­schut­zes« (das heißt, etwas unbe­merkt im Hin­ter­grund Lau­fen­des wird plötz­lich unsi­cher und damit sicht­bar) und kommt zu dem für eine funk­tio­na­le Ana­ly­se typi­schen Schluß, daß Kri­sen­kom­mu­ni­ka­ti­on zuver­läs­sig »Ord­nung in die Unord­nung« bringt, indem sie durch Benenn­bar­keit Lösungs­per­spek­ti­ven und poli­ti­sche Lager­bil­dung generiert.

So weit, so sozio­lo­gisch. Man könn­te sich als Ver­tre­ter eines bestimm­ten Lagers in einer der von Nas­sehi auf­ge­führ­ten Kri­sen »von 9/11 über die Banken‑, Finanz- und Staats­schul­den­kri­se und die Flücht­lings­kri­se, bis hin zur Pan­de­mie, dem Krieg in der Ukrai­ne und der Ener­gie­kri­se« nicht ernst genom­men füh­len, weil der Funk­ti­ons­ana­ly­ti­ker aus sei­ner Per­spek­ti­ve der »Beob­ach­tung zwei­ter Ord­nung« (Luh­mann) locker so tun kann, als gäbe es über­haupt kei­nen Real­ge­gen­stand einer Kri­se, son­dern nur ver­schie­de­ne Stra­te­gien der Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on. Nach dem Mot­to: »Habt euch nicht so, ist doch alles nur gesell­schafts­sta­bi­li­sie­ren­de Krisenkommunikation!«

Wor­über man nicht hin­weg­kom­men kann, ist, daß Nas­sehi sei­ne eige­nen Theo­rie­maß­stä­be ver­letzt. Erin­nern wir uns: Vor­han­de­nes als kon­tin­gent zu set­zen und Alter­na­ti­ven auf bei­den Sei­ten (die­ser Set­zung) zu ent­de­cken soll die Metho­de sein. Ich blei­be beim Grund­be­griff »Kri­se«: In der Auf­zäh­lung der Kri­sen kommt die »Kli­ma­kri­se« nicht vor, denn »die Benenn­bar­keit die­ser exis­ten­ti­el­len Her­aus­for­de­rung als eine Kri­se erweckt den Ein­druck, als müs­se es ein Lösungs­kon­zept geben, das ein­ge­grenzt ist auf alles, was mit ›Kli­ma‹ ange­spro­chen ist. Das bedeu­tet aber genau genom­men, daß die gesell­schaft­li­che Pra­xis als Gan­ze in Fra­ge steht oder wenigs­tens adres­siert wer­den muß. Daß es ›nur‹ als eine Kri­se erscheint, stellt fast wie­der so etwas wie Latenz­schutz her. Wäre es doch nur eine Krise!«

Im Klar­text: Nas­sehi hält die »Kli­ma­kri­se« für eine Rea­li­tät, die über alle Kom­mu­ni­ka­ti­ons­me­di­en, Kom­ple­xi­täts­re­du­zie­re­rei­en und Dis­kur­se erha­ben ist. Sie ist anschei­nend aus der Funk­tio­na­le zurück­ge­rutscht in Brechts »ein­fa­che Wie­der­ga­be der Rea­li­tät«. Und hier kann man das Buch zuschla­gen. Denn was nützt eine noch so pfif­fi­ge, sich die Ana­ly­se aller sozia­len Codie­run­gen zutrau­en­de und metho­disch abge­si­cher­te Theo­rie, wenn sie bei bestimm­ten Grund­be­grif­fen die Ana­ly­se abbricht und ihren Maß­stab unterläuft?

– –

Armin Nas­sehi: Gesell­schaft­li­che Grund­be­grif­fe. Ein Glos­sar der öffent­li­chen Rede, Mün­chen: C. H. Beck 2023. 399 S., 29,90 €

 

Die­ses Buch kön­nen Sie auf antaios.de bestellen. 

 

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)