Da geht einer von Grundbegriffen aus, die Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie aufgefächert hat, wendet sie leichtfüßig erzählend und zugleich mit der gebührenden Reflexionsdistanz auf solche Wörter an, die den gesellschaftlichen Diskurs gleichermaßen geschmeidig wie sperrig machen. Luhmann hätte gesagt, es handele sich um »symbolische Kommunikationsmedien«, die sowohl Komplexität reduzieren als auch neue Komplexität schaffen.
Ich hätte vor vierundzwanzig Jahren nachgeschlagen, wenn ich einen Artikel zu schreiben gehabt hätte, und mit Sicherheit Nassehi zitiert, kurz: das Buch als das Glossar herangezogen, das es sein will. Damals zitierte ich gern aus dem Luhmann-Lexikon von Detlef Krause, denn dort konnte ich sichergehen, neben den systemtheoretischen auch gesellschaftliche Grundbegriffe wie »Demokratie« oder »Krise« in der sperrigen Sprache einer ernüchternden Funktionslogik neu definiert zu finden.
»Krise?« »Krisen wird man immer sehen, wenn man mit der Doppelbrille von Sollwerten und historischem Bewußtsein auf die Gesellschaft blickt.« »Demokratie?« »Statt Selbstherrschaft des Volkes Spaltung der Spitze des politischen Systems in Regierung und Opposition« – so hochtheoretisch wie augenöffnend.
Von Bertolt Brecht stammen diese Sätze aus den 1930er Jahren: »Die Lage wird dadurch so kompliziert, daß weniger denn je eine einfache ›Wiedergabe der Realität‹ etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Krupp-Werke oder der AEG ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht.« Fortan mußte sie erst mit marxistischer, dann mit soziologischer Systemtheorie beschrieben werden, deren Grundbegriff derjenige der Funktion ist.
Auch Nassehi, Luhmannschüler und Professor für Soziologie in München, geht in seinem Vorwort zentral davon aus, daß eine funktionale Analyse, wie Luhmann in Soziale Systeme 1984 vorgegeben hat, »Relationierungen mit dem Ziel [benutzt], Vorhandenes als kontingent und Verschiedenartiges als vergleichbar zu erfassen«, und gibt dem Buch das Programm: »Die funktionalistische Methode betrachtet ihren Gegenstand als eine Lösung, bezieht diese auf systemrelative Probleme und entdeckt dabei Alternativen auf beiden Seiten.«
Nehmen wir als Beispiel den gesellschaftlichen Grundbegriff »Krise«. Nassehi geht an ihn zunächst wie versprochen funktionsanalytisch heran, das heißt, er definiert Krisen nicht inhaltlich als Abweichung von einem Sollzustand, sondern den Begriff »Krise« als Lösungsformel für ein gesellschaftliches Problem. »Die Klimakrise ist keine CO2-Krise, sondern eine Krise der gesellschaftlichen Form der Informationsverarbeitung und daher eine krisenhafte Überforderung mit sich selbst.«
Weiters beschreibt er die Funktion von »Krisen« mit einem treffenden Ausdruck Talcott Parsons’ als »Verlust des Latenzschutzes« (das heißt, etwas unbemerkt im Hintergrund Laufendes wird plötzlich unsicher und damit sichtbar) und kommt zu dem für eine funktionale Analyse typischen Schluß, daß Krisenkommunikation zuverlässig »Ordnung in die Unordnung« bringt, indem sie durch Benennbarkeit Lösungsperspektiven und politische Lagerbildung generiert.
So weit, so soziologisch. Man könnte sich als Vertreter eines bestimmten Lagers in einer der von Nassehi aufgeführten Krisen »von 9/11 über die Banken‑, Finanz- und Staatsschuldenkrise und die Flüchtlingskrise, bis hin zur Pandemie, dem Krieg in der Ukraine und der Energiekrise« nicht ernst genommen fühlen, weil der Funktionsanalytiker aus seiner Perspektive der »Beobachtung zweiter Ordnung« (Luhmann) locker so tun kann, als gäbe es überhaupt keinen Realgegenstand einer Krise, sondern nur verschiedene Strategien der Komplexitätsreduktion. Nach dem Motto: »Habt euch nicht so, ist doch alles nur gesellschaftsstabilisierende Krisenkommunikation!«
Worüber man nicht hinwegkommen kann, ist, daß Nassehi seine eigenen Theoriemaßstäbe verletzt. Erinnern wir uns: Vorhandenes als kontingent zu setzen und Alternativen auf beiden Seiten (dieser Setzung) zu entdecken soll die Methode sein. Ich bleibe beim Grundbegriff »Krise«: In der Aufzählung der Krisen kommt die »Klimakrise« nicht vor, denn »die Benennbarkeit dieser existentiellen Herausforderung als eine Krise erweckt den Eindruck, als müsse es ein Lösungskonzept geben, das eingegrenzt ist auf alles, was mit ›Klima‹ angesprochen ist. Das bedeutet aber genau genommen, daß die gesellschaftliche Praxis als Ganze in Frage steht oder wenigstens adressiert werden muß. Daß es ›nur‹ als eine Krise erscheint, stellt fast wieder so etwas wie Latenzschutz her. Wäre es doch nur eine Krise!«
Im Klartext: Nassehi hält die »Klimakrise« für eine Realität, die über alle Kommunikationsmedien, Komplexitätsreduzierereien und Diskurse erhaben ist. Sie ist anscheinend aus der Funktionale zurückgerutscht in Brechts »einfache Wiedergabe der Realität«. Und hier kann man das Buch zuschlagen. Denn was nützt eine noch so pfiffige, sich die Analyse aller sozialen Codierungen zutrauende und methodisch abgesicherte Theorie, wenn sie bei bestimmten Grundbegriffen die Analyse abbricht und ihren Maßstab unterläuft?
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Armin Nassehi: Gesellschaftliche Grundbegriffe. Ein Glossar der öffentlichen Rede, München: C. H. Beck 2023. 399 S., 29,90 €
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