Jedoch wird bereits auf den ersten Seiten von Bernd Stegemanns Essay klar, daß so profund und bestens sortiert dann doch noch nicht nachgedacht wurde. Stopp – hatten wir nicht aus eigenem Hause unsere entsprechenden kaplaken? Nämlich tote weiße männer lieben von Sophie Liebnitz und Die Hierarchie der Opfer von Martin Lichtmesz? Hatten wir!
Weil Stegemann (*1967, Dramaturg, Professor etc.) selbst einer aus dem eingemachten Juste milieu ist, scheut er es, solche Vorarbeiten zu zitieren. Weshalb, wird bei der Lektüre klar. Denn: Mit ihren identitätspolitischen Vorgaben erdrosselt sich die Linke selbst. Stegemann wäre ja auch dumm, diesen Prozeß an seiner eigenen Person zu exerzieren! Also hat er den Weg zwischen Geschmeidigkeit und radikaler Direktheit gewählt. Tendenz zu letzterem. Wie klug, wie lesenswert!
Politik, hält der Autor fest, ist zunächst immer identitätsbezogen. Stets geht es um »uns« gegen »die anderen«. Es kommt darauf an, solche trennscharfe Radikalität zu zügeln, sprich, sie zu zivilisieren. Problematisch: Jene Linken, die heute vehement Identitätspolitik betreiben (WIR Schwarze! WIR Queere! Usw. usf.), leugnen, überhaupt »Identitätspolitik« zu betreiben. Und mit dieser politischen Strategie, die laut Stegemann zum Kerngeschäft des neolinken Arsenals gehöre, fange das ganze paradoxe Dilemma erst an. Daß diese hyperaktive Wühlerei a) paradox und b) ein »toxisches« (es gehört Mut dazu, dies zu behaupten!) Dilemma ist – das sind die Faktoren, die er mustergültig und hellwach herausarbeitet.
Zuverlässig immer arbeite die identitätsfixierte Linke mit »doppelten Standards«: »Wenn jedes Wir für sich eigene Regeln beansprucht und allen anderen Wir-Gruppen die Berechtigung auf die gleichen Regeln abspricht, sind Einigungen nicht mehr möglich. Wer die Interessen der anderen Seite nur noch unter der Perspektive der Feindschaft sieht, der ist zur Verständigung nicht mehr bereit.« Den linken Identitätseiferern geht es aber nicht darum, daß vor dem Gesetz alle gleich seien und der rationale Gehalt eines Argumentes gelte – nein, ihnen geht es um ein neues, quasireligiöses »Wahrheitsregime«. Stegemann geht weit über eine Zeitdiagnose (solche Bücher gibt es mittlerweile zuhauf, oft sind sie langweilig, weil jeder sieht, was zu sehen ist) hinaus.
Ein Grundproblem der Linken sieht er im »Ressentiment«. Elegant bemüht Stegemann nicht den notorischen Nietzsche, sondern Aristoteles: »Zornig wird, wer Mangel leidet und dessen Mangel man Geringschätzung entgegenbringt. Und aus dem Zorn entsteht das Ressentiment, wenn der Zorn keinen Weg findet, um seine Lage verändern zu könne. Das Ressentiment ist der innere Zorn, der die Seele vergiftet.« Damit ist eigentlich alles über die Gemütslage der heutigen Linken gesagt.
Warum hat nun – Kapitel 2 bei Stegemann – die Linke diese Identitätspolitik der alten Klassenpolitik vorgezogen? Ein springender Punkt! Es gibt einfach weniger klassische / klassistische Ungleichheit! Und: »Je weniger Ungleichheit es gibt, desto sensibler wir danach gefahndet.« Identitätspolitik habe gegenüber »nüchterner« (Stegemann) Klassenpolitik zudem den Vorteil, daß sie mit »heißen Gefühlen« der Kränkung, Empörung und Rachsucht operieren könne. Stegemann erkennt sogar, inwiefern die identitätspolitische Methode mit dem »woken Kapitalismus« Hand in Hand geht. Markenbranding läuft heutzutage über solche kruden Anerkennungsfragen; Stichworte »Regenbogenbinde« oder »Greenwashing«.
Darüber hinaus wirft Stegemann dem tonangebenden linken Mainstream eine enorme Komplexitätsreduktion vor – was heißt denn bitte der Identitätsmarker »alter weißer Mann«? Zu Recht beklagt er hiermit einen Rückfall in »Machttechniken der Vormoderne« – damals zogen bekanntermaßen Frauen (Hexen!) und Ungläubige (etc.) den Schwarzen Peter. Sollen das nun also – quasi »bätschi!« – die weißen Männer nachempfinden? Es wäre ein Rückfall in die Schwarze Pädagogik, findet Stegemann, der wirklich sein Ohr dicht am Puls hat.
Zu größter Form läuft der Autor ab seinem 7. Kapitel auf. Hier – da haben wir noch mehr als die Hälfte des dichten Bändchens vor uns! – fächert er diverse »Kipp-Punkte der Identitätspolitik« auf: Opfermanagement, magische Sprache, Critical Race Theory, Cancel Culture etc. pp. Hier bleibt kein Auge trocken, und Stegemann hat wirklich ein feines Sezierbesteck!
Ja, einige Schwächen hat dieser fulminante Essay dann doch. Punktuell (selten) setzt Stegemann Knackpunkte der linken Identitätspolitik mit denen der rechten Identitären zusammen. Hier wird er ganz ungefähr, sehr unkonkret und zerstreut – denn es paßt ja nicht wirklich. Das »Wir« der Rechten konstituiert und äußert sich radikal anders als das tönerne »Wir« der (per se) intersektionalen Linken. Es wirkt, als müsse er »diesen Punkt« (daß auch Rechte bös sein können) wenigstens kurz abhandeln.
Und: Sein mehrmaliger Rekurs ausgerechnet auf Jürgen Habermas wirkt nahezu lächerlich. Sich beim halbblinden Vater des »herrschaftsfreien Diskurses« zu bedienen, bei diesem schwurbelnden Eumel – das wäre nicht nötig gewesen. Kopf hoch, Stegemann! Den Habermas haben Sie doch längst überwunden. Alles ist gut, dieses Buch sowieso.
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Bernd Stegemann: Identitätspolitik, Berlin: Matthes & Seitz 2023. 111 S., 12 €
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