So verfügt das Land aktuell über 48 Millionenstädte, 650 000 Dörfer, mehr als 2000 ethnische Gruppen, 3000 Kasten und 25 000 Subkasten, 122 Sprachen (davon 22 Amtssprachen in 13 Schriften), 1700 politische Parteien für die 900 Millionen Wahlberechtigten, fast 1000 TV-Kanäle und schließlich über mehr als 100 000 Zeitungen und Zeitschriften.
Als Teil der BRICS-Staaten spielt das mittlerweile einwohnerstärkste Land der Welt eine entscheidende Rolle bei der Transformation der Weltordnung – wenn auch noch nicht zu einem »Pluriversum« (Carl Schmitt), so doch zunehmend zu einer »nichthegemonialen Weltstruktur mit rivalisierenden Machtzentren« (Robert W. Cox). Es wäre absurd, würde durch diese geopolitische Realität das Interesse an Indien und seiner konkreten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verfaßtheit nicht anwachsen.
Daher ist es folgerichtig, Studien vorzulegen, die dem Leser Wissen über dieses Mosaik aus Völkern, Kasten und Religionen vermitteln. Der Hamburger Indologe Oliver Schulz macht sich auf, dies zu leisten. Als Journalist (Die Zeit, Die Welt) wählt er einen lockeren Ton und sehr persönliche Zugänge via eigene Reiseeindrücke. Das muß nicht per se ein Nachteil sein. Beim formulierten Anspruch im Untertitel (Indien als Geostratege, Wirtschaftsriese, Wissenslabor) wird es das aber bedauerlicherweise phasenweise doch. Jedenfalls dann, wenn Schulz im ersten Drittel des Buches seitenlange Ausführungen über lokale Konflikte zwischen indischen Muslimen und Hindus liefert, die er als Indienreisender immer wieder wahrnahm.
Das als Aufhänger: ein guter, subjektiver Einstieg. Das als Dauerschleife erschwert jedoch den Zugang zur objektiven Faktensammlung, die der Leser angesichts des Buchtitels erwarten dürfte. Die Fakten sind freilich vorhanden; man muß sie nur abseits der allgegenwärtigen Subjektivismen des Autors herausfiltern. Tut man dies, wird der Band doch noch zum Lehrbuch, zumindest als Einführung.
Daß die ersten 140 Seiten fast ausnahmslos aus Berichten über Tod, Dreck und Leid bestehen, mag dabei der angespannten Gemengelage im hindu-nationalistisch geprägten neuen Indien geschuldet sein; hernach erfährt man jene Details, die die Lektüre des Buches zu einem Gewinn machen. Denn Schulz bietet neben einem historischen Aufriß über indische Nachbarschaftskriege und Herausforderungen grenzpolitischer Art wissenswerte Zahlen und Statistiken zur indischen Ökonomie, die unter anderem von krassesten Ungleichzeitigkeiten geprägt ist: hier global wettbewerbstreibender IT-Hyperkapitalismus, dort Leben wie im 17. Jahrhundert.
Für deutsche Leser erhellend sind überdies jene Passagen, in denen der Autor das internationale Beziehungsgeflecht Indiens erläutert, das traditionell enge (militärstrategische) Kooperationen mit Rußland pflegt, gleichzeitig aber längst ein selbstbewußter wie enger Partner der USA geworden ist. Daß Neu-Delhi seinen Spielraum im Zeichen einer globalen Zuspitzung der China-Frage ausweitet, wird ebenso greifbar wie die – für internationale Beobachter – ulkige Sonderlage als Gas- und Ölzwischenhändler, der die Kontakte zu Moskau nutzt, um Profit aus der von Berlin selbstauferlegten antirussischen Sanktionspolitik der BRD zu schlagen.
Zu bemängeln bleibt, daß der finale Ausblick auf die »Wirtschaftsmacht Indien« lediglich ein Dutzend Seiten umfaßt. Gerade dieses Sujet wäre doch in Zeiten der Krise des westlerischen Globalismus zuallererst in den Fokus zu rücken, wenn sich der Leser über eine – vermeintliche oder tatsächliche – Neue Weltmacht Indien zu informieren gedenkt.
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Oliver Schulz: Neue Weltmacht Indien. Geostratege, Wirtschaftsriese, Wissenslabor, Frankfurt a. M.: Westend 2023. 224 S., 22 €
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