Slobodian argumentiert, daß Marktradikale – also Libertäre und Anarchokapitalisten – seit Jahrzehnten versuchen, Möglichkeiten zu finden, wie sie ökonomische Fragen der demokratischen Willensbildung entziehen können.
Mileis Plan, einen nationalen Notstand auszurufen, um seine »Schocktherapie« durchzusetzen und geltende Gesetze auszuhebeln, kann als weiterer Versuch in dieser Richtung gelten. Im Notstand könnte Präsident Milei über Fragen entscheiden, die aktuell nur vom Parlament geregelt werden dürfen.
Das Thema des Buches ist also ohne Zweifel hochaktuell. Ist es tatsächlich unmöglich geworden, freiheitliche wirtschaftliche Reformen durchzuführen, ohne die Demokratie einzuschränken? Oder kann andererseits der Kapitalismus nicht ohne Demokratie existieren?
Leider setzt sich Slobodian allenfalls am Rande mit den theoretischen Positionen zum Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Demokratie auseinander. Der Untertitel der deutschen Ausgabe des Buches täuscht die Leser in diesem Punkt nicht. Es geht tatsächlich darum, »wie« Marktradikale die Welt in Zonen zerlegen wollen, kaum jedoch um das »Warum«.
Alle Kapitel sind Fallstudien und beschreiben zumeist einen historischen Versuch, wie libertäre Denker und Aktivisten Zonen schaffen wollten oder wollen, in denen die ansässigen Bürger nicht nach herkömmlicher Art von einem Staat regiert werden, sondern möglichst behandelt werden wie Kunden eines Unternehmens. Nach der Vorstellung der Marktradikalen sollen diese Zonen dann idealerweise untereinander konkurrieren, wobei die potentiellen Bewohner und Unternehmer mit den Füßen darüber abstimmen, welche Zonen die besten Dienstleistungen und die besten juristischen Rahmenbedingungen bieten.
Hinter den von Slobodian beschriebenen Projekten steht der Gedanke, daß eine Konkurrenz derartiger Jurisdiktionen eine disziplinierende Wirkung auf diese hätte und insofern eine Alternative zur klassischen Demokratie darstellen könnte. Frei nach dem Motto: Wir brauchen kein politisches Mitbestimmungsrecht, wenn wir uns die Bedingungen, unter denen wir leben, wie im Supermarkt frei aussuchen können. Slobodian wählt allerdings nicht den Weg, sich mit diesem Gedankengang theoretisch auseinanderzusetzen. Statt dessen hat er sich dafür entschieden, die beteiligten Personen und Projekte in ein schlechtes Licht zu rücken und damit zu diskreditieren.
Die libertären Protagonisten werden in der Einleitung als eine »rechte Guerilla« vorgestellt, die den Nationalstaat Zone für Zone zurückerobern und – aufgepaßt – »zersetzen« will. Nun mag das Verhältnis zwischen einer rechten Gesinnung und dem Nationalstaat im englischsprachigen Raum eine andere sein als in Mitteleuropa. An dieser Stelle hätte eine bessere Wortwahl bei der Übersetzung Abhilfe schaffen können. Was jedoch sicherlich woanders ähnlich ist wie in Deutschland, ist die Tatsache, daß man Menschen unmöglich macht, wenn man sie als rechts, sexistisch, rassistisch, ausbeuterisch und ähnliches brandmarkt.
Regelmäßig finden sich in Slobodians Ausführungen Details, deren einziger Zweck es ist, die von ihm so genannten Marktradikalen persönlich bloßzustellen. Murray Rothbard, Llewellyn Rockwell Jr., Hans-Hermann Hoppe und andere mit dem Ludwig von Mises Institute (USA) verknüpfte Personen stellt Slobodian einseitig als Befürworter der Rassensegregation vor. Ihr »Skript des rassifizierten Ausstiegs«, ihre »Revolte gegen die Gleichheit der Menschen«, ihre »Fixierung auf das Thema Hautfarbe« und ihr Plädoyer für ein »Rassenbewußtsein« müssen diese Männer für jeden redlich denkenden Menschen zu Personis non gratis machen. So lautet offenbar der Gedankengang Slobodians, der angesichts seiner Unterstellungen auf eine inhaltliche Auseinandersetzung verzichten zu können glaubt.
Ähnlich geht Slobodian im Kapitel über Südafrika vor. Die dort zu Zeiten der Apartheid eingerichteten Homelands werden als »Konzentrationslager« für Schwarze bezeichnet, welche als billige Arbeitskräfte dienen sollten. Daß in den achtziger Jahren liberale Ökonomen darangingen, aus diesen Homelands Freihandelszonen oder Exportproduktionszonen zu machen, rechnet ihnen Slobodian trotzdem nicht hoch an. Im Gegenteil, er unterstellt ihnen, die bestehenden Strukturen nutzen zu wollen, »ohne dabei allzu rassistisch zu wirken«. Was hier wie in anderen Kapiteln fehlt, ist eine Auseinandersetzung mit der Idee an sich. Was waren oder sind denn die Alternativen? Wohin hat denn der von Nelson Mandela ausgerufene Weg zu Frieden und Harmonie zwischen den Rassen auf Grundlage eines allgemeinen Wahlrechts in einem demokratischen Südafrika geführt? Dazu hört man von Slobodian nichts.
Wer sich für die Geschichte von Sonderwirtschaftszonen in China, Dubai, Südafrika oder Singapur interessiert, kann einiges in diesem Buch erfahren. Wer verstehen will, was die Argumente für oder gegen die Begrenzung von Demokratie in und durch Sonderwirtschaftszonen sind, wird nicht viel lernen.
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Quinn Slobodian: Kapitalismus ohne Demokratie. Wie Marktradikale die Welt in Mikronationen, Privatstädte und Steueroasen zerlegen wollen, Berlin: Suhrkamp 2023. 423 S., 32 €
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