London, Venedig, Wien, Berlin, Paris sind bevorzugte und dankbare Gegenstände solcher Unternehmen. Daß das ungleich kleinere Weimar sich trotz seiner bescheidenen Größe und des fehlenden Metropolencharakters für den deutschsprachigen Raum besonders anbietet, ist keine Frage. Kulturelle Bedeutung wird ja nicht durch räumliche Größenverhältnisse erzeugt.
Die zu umschiffende Gefahr ist freilich eine allzu große Goethe-und-Schiller-Lastigkeit, ein Auswalzen der Periode der Weimarer Klassik, über die ausgiebig und mehr als ausgiebig geschrieben worden ist. Der Leser kann erfreut feststellen, daß es Hesse gelungen ist, diese Falle zu vermeiden: »Goethe allerorten« heißt ein, aber eben nur ein Kapitel seines Buches, ein weiteres widmet sich unvermeidlicherweise Schiller als »belebende[m] Nachbar[n]«.
Diese beiden Abschnitte nehmen mit etwa achtzig Seiten einen vertretbaren Anteil am Gesamtumfang ein. Sie bieten nichts Neues, was bei diesem Thema auch nicht zu erwarten wäre, aber einen plastischen Überblick, der auch eindrucksvolle Nebenfiguren wie den verdienstvollen Verleger und Unternehmer Friedrich Justin Bertuch ins Licht setzt.
Besonders interessant dagegen das Davor und Danach der Schiller-Goethe-Konstellation. Zunächst: Das Jahr 1933 sagt jedem etwas, doch warum ausgerechnet 1756 als Beginn des Beschreibungszeitraums? Nun, in diesem Jahr heiratete Ernst August II. Constantin von Sachsen-Weimar-Eisenach, der Vater von »Goethes Herzog«, die nachmalig berühmte, aus der Familie der Welfen stammende Anna Amalia.
Der kränkliche Herzog starb schon zwei Jahre später, und Anna Amalia übernahm die Vormundschaft für zwei Söhne und, gegen interne Widerstände am Hofe, in Vertretung ihres minderjährigen Sohnes die Regentschaft des Herzogtums. Dieses weniger geläufige »Vorspiel« zur Klassik bietet Einblicke in die Genese eines Kulturstandorts von hohen Graden, in den Intrigantenstadl eines Hofes und die durchaus gegebenen Durchsetzungsmöglichkeiten einer (hoch-)adligen Frau.
Auch nach den Dioskuren-Kapiteln geht es anregend weiter: Sie widmen sich Maria Pawlowna, der Nachfolgerin Anna Amalias in der Rolle der kulturellen Taktgeberin, die den Schwerpunkt der Weimarer Kultur auf die Musik verlagerte, den Schopenhauers, also der erfolgreichen Unterhaltungsschriftstellerin Johanna und ihrem schwierigen Sohn, dem Auftreten Napoleons, dem Zuzug Franz Liszts, dem dahindämmernden Nietzsche, der 1900 in Weimar starb, wo seine Schwester Elisabeth das Nietzsche-Archiv einrichtete, und zahlreichen weiteren, oft nur scheinbaren »Nebenfiguren«.
Mit Harry Graf Kessler, der von 1903 bis 1906 als Direktor des Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe französische Impressionisten ausstellte, und dem Architekten Henry van de Velde, dessen Wohnhaus heute von der Klassik Stiftung Weimar als Museum genutzt wird, ist der Leser in der Moderne angekommen. Die Vielfalt an Ereignissen, Personen und Bezügen läßt sich auf knappem Raum nicht ansatzweise wiedergeben: Sie zeigt aber eindrucksvoll, welch kulturelle Strahlkraft sich aus vergleichsweise bescheidenen Anfängen entwickeln kann, und daran ändert auch das bedrückende letzte Kapitel nichts. Weimar bleibt, wie der Verfasser treffend formuliert, »ein Versprechen und eine Herausforderung« – manches antiquarisch geworden, jedoch keine tote Vergangenheit.
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Helge Hesse: Ein deutsches Versprechen. Weimar 1756 – 1933, Stuttgart: Reclam 2023. 283 S., 28 €
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