Seine tatsächlichen »Vergehen« bestanden darin, aus West-Berlin erhaltene Texte verbreitet, dem RIAS Artikel über die Stimmung unter den Studenten übergeben und für die Verteilung von Flugblättern gesorgt zu haben. All dies war übrigens von der Verfassung der DDR gedeckt, die – theoretisch – die freie Meinungsäußerung garantierte. Allerdings erfolgte die Anklage aufgrund der – konstruierten – Vorwürfe nach sowjetischem Recht.
Ebenso konstruiert wurde eine »Belter-Gruppe«, um durch die vorgebliche Geschlossenheit Bedrohlichkeit zu inszenieren. Diese »Gruppe«, ein knappes Dutzend Studenten, wandte sich, in Unterschätzung der sich immer weiter verfestigenden Diktatur, »gegen die Auflösung der studentischen Selbstverwaltung, gegen die Verschulung der Universität, den nicht wissenschaftlichen, sondern politischen und ideologischen Eingriff in Studiengang und Studieninhalte, gegen die Studienplatz- und Stipendienvergabe nicht aufgrund von Leistungen, sondern abhängig von sozialer Herkunft und politischer Einstellung, gegen die Aufhebung der Freiheit von Lehre und Forschung«, wie der Autor Klaus-Rüdiger Mai zusammenfaßt.
Als Illustration für das rigorose Durchgreifen der Besatzer, die hier »ihre« DDR-Staatsmacht unterstützten, mag dienen, daß auch ein junger Tischler, in dessen Wohnung lediglich einige Broschüren aufbewahrt wurden, als »Mitglied« der »Belter-Gruppe« angesehen wurde und eine langjährige Strafe in einem Sowjet-Lager verbüßen mußte. Für Belters Eltern und für die Öffentlichkeit blieb dessen Verfahren geheim, er war schlicht verschollen, sein Weg konnte erst im Zuge des 1989 beginnenden politischen Umbruchs rekonstruiert werden.
Mai läßt immer wieder deutlich erkennen, daß ihm das Totalitäre, die Diktatur jeglicher Couleur zuwider ist, ebenso wie diejenigen, die sich in den Dienst derartiger Ideen stellen. Mit seinem Buch Der kurze Sommer der Freiheit hat er allerdings nicht, wie der Untertitel »Wie aus der DDR eine Diktatur wurde« vermuten lassen könnte, eine umfassende Darstellung der sowjetischen Besatzungszone und der ersten Jahre der daraus gebildeten DDR vorgelegt.
Er schildert vor allem studentische Selbstbehauptungsversuche dieser Zeit an der Universität Leipzig gegen den letztlich erfolgreichen kommunistischen »Sturm auf die Festung Wissenschaft«. Eine Hypothek des Werkes sind Redundanzen und ein gewisses Ungleichgewicht. Punktuell werden Entwicklungen, die mit den Leipziger Vorgängen nur bedingt in Zusammenhang stehen, relativ ausführlich dargestellt, etwa das vergebliche Bemühen der DDR-Parteien LDPD und CDU um einen eigenen politischen Weg.
Die Kapitel über die »Belter-Gruppe«, mit sehr ausführlichen Zitaten aus den Verhören und dem Prozeß, umfassen reichlich die Hälfte des Bandes – damit dominieren diese Passagen die weiteren, nicht minder bedeutenden Vorgänge etwas stark. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, das Ganze sei ursprünglich anders konzipiert gewesen und dann unter Zeitdruck zu Ende geführt worden.
Bezog Belter die Universität erst mit Gründung der DDR, so waren in den Jahren zuvor schon Leipziger Studenten aktiv geworden, um im Glauben an eine entstehende Demokratie die immer weiter eingeschränkte Freiheit zu verteidigen. Von SED und sowjetischen Besatzern wurden sie massiv bekämpft und zu absurd hohen Strafen verurteilt. Eine ungute Rolle bei mehreren Vorgängen spielte Manfred Gerlach, der später letzter Staatsratsvorsitzender der DDR werden sollte. So etwa bei einer Falle, die dem Theologiestudenten Werner Ihmels gestellt wurde. Ihmels, der am Anfang in der FDJ mitgearbeitet, dann aber Christen zum Austritt geraten hatte, starb in der Haft. Der damals wohl fast legendäre liberale Studentenratsvorsitzende Wolfgang Natonek, dessen Verdrängung mittels Wahl nicht gelang, geriet ebenso in die Fänge der Sowjet-Justiz.
Mai, der immer wieder die Quellen sprechen läßt, ist es erklärtermaßen ein Anliegen, die kaum gepflegte Erinnerung an die Studenten anzumahnen, die die kommunistische Diktatur bekämpft haben. Über das Andenken hinaus sieht Mai das Potential, durch entsprechende Schicksale »universelle Mechanismen – wie Diktatur entsteht und wie Diktatur die Macht aufrechterhält« – sichtbar zu machen.
Die Parallelen zu heutigen Vorgängen sind unübersehbar, etwa wenn Mai davon spricht, daß Begriffe besetzt und in ihr Gegenteil verkehrt wurden, oder erzählt, wie eine nicht genehm ausgegangene Wahl rückgängig gemacht wurde. Ein großer Unterschied besteht allerdings: Damals gab es mit »dem Westen« einen freieren Teil Deutschlands, in den man wechseln konnte, wenn der Druck unerträglich wurde.
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Klaus-Rüdiger Mai: Der kurze Sommer der Freiheit. Wie aus der DDR eine Diktatur wurde, Freiburg i. Br.: Herder 2023. 315 S., 22 €
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