Er trägt einen enganliegenden, weißen Rolli unter einem Jackett und einen britischen Mittelscheitel. Sein Blick ist traurig, verschattet. Es heißt, er komme aus Südwestdeutschland, studiere Germanistik und boxe. Der Autorenname – man denkt (je weiter die Lektüre fortschreitet, desto mehr) an den heiligen Sebastian und an dessen Martyrium, und an Dunkelheit – dies mag Zufall oder behutsam gewählt sein. Niemand in »unserer Szene« kennt einen S. Schwaerzel.
Schwaerzels Debütroman ist im Präsens gehalten. Bereits nach den ersten Seiten dieser tristen Gegenwartsbeschreibung stellt man lesend Assoziationen her: Es klingt nach Krachts Faserland, nach John Hoewers EuropaPowerBrutal, nach Houellebecq und Fightclub, auch nach American Psycho. Allerdings wirkt hier nichts epigonal, bloß nachahmend; es ist ein sehr eigener Sound. Authentisch nämlich – die Einladung mitten ins Hirn unseres Protagonisten wirkt!
Dieser Ich-Erzähler, der im Verlauf zum (Möchtegern-)Selbstmordattentäter eskalieren wird, ist nicht »schlecht aufgestellt«. Es gibt keine Traumata, sondern: Abitur und ein solides, normallinkes Elternhaus mit verhaltenen Weltrettungsambitionen. (Die Eltern hatten bezaubernde Erfahrungen in Somalia und überlegen nun, ein Kindchen von dort zu adoptieren.)
Aber es gibt: den puren Nihilismus. Unser Romanheld kennt keinerlei Ausrichtung ins Vertikale. Es gibt für ihn bloß viele Marken, die zählen, es geht um Follower auf Instagram, und es gilt vor allem der Durchmesser des Oberarmmuskels. Ein Körperfettanteil unter sechs Prozent: ein Traum! Unser Erzähler bewegt sich in der Bodybuilding-Szene. Gern exerziert er vor einem Ganzkörperspiegel.
Der »Front-Lat-Spread« gelingt nicht schlecht: »Es gibt Videos auf YouTube, die man sieht und direkt weiß, das will ich auch […]. In Wahrheit ist es nie so gut, wie man es sich vorstellt.« Wie er sich im Spiegel bewundert – und gleichzeitig haßt! Er hat halt dieses träumerisch »mollige« Gesicht. Seine Wohnung teilt er sich mit Diana, die nur offiziell »Transgender« ist und daher krankenkassenfinanziert über Testosteron-Supplements verfügt.
Weitere Testosterone greift Diana im Altersheim ab. Dort ist sie »Patin« etlicher Greise, die sich kassenbezahlt den Hormonspiegel regeln lassen. Diana streicht die Pillen ein und vercheckt sie an Bodybuilder wie unseren Berichterstatter. Der versucht sich als »Model«, dann als Fitneßcoach. Er weiß, daß er ein Loser ist mit seinen »pummeligen Wangen«. Die anderen legen Frauen reihenweise flach, die anderen haben ein viel besseres Verhältnis zwischen Deltamuskel und Trizeps, sie haben einen 47er-Oberarm. »In einem fitten Körper wohnt ein fitter Geist, lese ich in einem Instagram-Post«, sekundiert unser Erzähler.
Wie gern er diesem Ideal entgegenkäme! Und wie sehr er diese Imperative zugleich verabscheut. Er nennt sich »Faschist«, obwohl oder weil er weiß, daß er eine Null ist. Der Welt- und Lebensekel unseres Protagonisten drückt sich vielfältig aus. Mittels eines YouTube-Tutorials läßt er sich kurzerhand »homemade« vasektomieren. Schmerzen bedeuten ihm ohnehin nicht viel.
Im Gegenteil: Er ist süchtig danach! Einmal leiden für ein höheres Ziel! Nicht umsonst hat er dieses Mishima-Poster in seinem Zimmer hängen. Aber bitte – für was denn kämpfen, für was überhaupt weiterleben und letztlich eklig werden wie diese armseligen Windelgestalten im Seniorenstift? Die Großeltern von heute: nie einen Krieg erlebt; höchstes der Gefühle: ein Beatleskonzert. Was für eine beschissene Welt, dabei möchte man sich doch für eine Sache verschwenden! Diese verdammt »gähnend lange Periode des Friedens«!
Wo aber kein Krieg in Sicht ist, zettelt Schwaerzels Figur ihn schlicht an. Eine Milchflasche (wichtig, nicht Sojamilch!) im Supermarkt, zack, dem vermeintlichen Triebtäter über den Schädel gezogen. Ein Stoppschild – einfach ignoriert. Hier fließen Blut, Rotze, Kotze, aber keine Tränen. Wo soll er denn bitte hin mit seiner dummen Kraft? Irgendwo muß doch Erlösung dräuen, wenn man schon aufs Äußerste geht! Aber falsch – irgendwo wartet vielleicht nur eine behindertengerechte Wohnung …
Nein, nichts daran ist »aufbauend«. This is not a lovesong! Es ist Desillusion pur, Katharsis. Volker Zierke aus dem Jungeuropa-Umfeld, ähnlich erfreut von dem Stück wie die Rezensentin, hatte jüngst ein Interview mit Schwaerzel geführt. Es war … nicht erbaulich. Aber »was willste«? Houellebecq ist ja auch kein Sympath.
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Sebastian Schwaerzel: Schizoid Man, Castrum 2024, gebunden mit Schutzumschlag, 280 S., 25 € – hier bestellen.
Joerg
Ein Widerspruch zum vorletzten Absatz ("Spoilerwarnung"):
Der Protagonist zettelt den Krieg im Supermarkt mit der Milchflasche nicht einfach an. Er hat sich bis dahin in der Wohnung Dianas auf vielerlei Arten benutzen und mißbrauchen lassen. Der traurige Höhepunkt ist jedoch, dass ihn ein wildfremder Mann darin tatsächlich vergewaltigt und seine Gegenwehr mit Gürtelschnallenschlag ins Gesicht bricht. Diesen Mann sieht er durch Zufall in einem Supermarkt wieder und rächt sich brutal an ihm.(Vorher hatte er bereits ein Schwulenbars nach seinem Vergewaltiger gesucht.)
Im Laufe seiner Schilderungen geht der Erzähler nie ins Phantastische oder Surreale über (anders als beispielsweise in "Fight Club"). Daher muss ich als Leser davon ausgehen, dass sowohl die Vergewaltigung als auch diese tödliche Rache nicht nur in seinem Kopf stattgefunden haben. Mich wunderte daher am Ende des Buches, dass ihm die Polizei nicht deswegen auf die Schliche kam. Über die Kamera im Supermarkt und Ortung des Handys müsste das ja problemlos möglich gewesen sein.
Ein sehr fesselndes, aber auch hartes Buch.