Die 1961 in Marokko geborene Soziologin Eva Illouz, eine sephardische Jüdin, die auf englisch, französisch und deutsch schreibt, stimmt zwar zu, findet diese Tatsache jedoch schockierend, weil sie darin einen Verrat an der angeblich universalistisch-menschenrechtlichen Tradition des jüdischen Geistes sieht.
In ihrem liberalen Koordinatensystem sollen im Mittelpunkt der Demokratie »faire Institutionen« stehen und nicht etwa das namensgebende »Volk«. Israel sei eine »besonders explizite Version des ethnischen Demokratiemodells«, ungeachtet der zahlreichen ethnischen Minderheiten innerhalb seines Staatsgebietes.
Das Volk und sein jahrtausendealtes Anrecht auf ein bestimmtes Land sind in der Tat die zentrale Kategorie, auf der Israel gründet – nicht erst seit dem Aufstieg der Likud-Partei, sondern als »Blut und Boden«-Wurzel des zionistischen Projekts überhaupt, in dessen ersten Jahrzehnten vor und nach der Staatsgründung ein »nationalistischer Sozialismus« vorherrschte, wie Illouz mit Berufung auf Zeev Sternhell zu formulieren nicht zurückschreckt.
Israel ist in ihren Augen ein Land, das von »Rassismus« und »Diskriminierung« gegenüber Nichtjuden und von religiösem Fanatismus geprägt ist. Es wird vom »Rechtspopulismus« in seiner schlimmsten Form regiert, also durch ein demagogisches System, das sich »undemokratischer« Emotionen wie Angst, Abscheu und Ressentiment bedient, die nicht nur gegen den »anderen« (etwa den »Araber«), sondern auch gegen bestimmte Schichten im Inneren in Stellung gebracht werden.
So berichtet sie, daß die Likud-Partei einen enormen Teil ihrer Macht der Mobilisierung des Grolls der Mizrachim, der »orientalischen« Juden, auf die aschkenasischen (ost- und westeuropäischen) »Eliten« verdankt, die zwar historisch für die Gründung Israels verantwortlich sind, denen jedoch »Verrat« und Appeasement gegenüber den Arabern vorgeworfen wird. Die Mizrachim sind so etwas wie die »People of Color« unter den israelischen Juden, ökonomisch deutlich weniger erfolgreich, und sie besitzen einen langen Erfahrungsschatz an »Diskriminierung« seitens der »weißen« Juden. Dabei wird die Likud-Partei selbst von Aschkenasen dominiert, allen voran Netanjahu, der altem zionistischen »Adel« entstammt.
Abgesehen von ihren ermüdenden »Analyserastern«, gelingt Illouz jedoch mit Hilfe aufschlußreicher Interviews mit Israelis verschiedener politischer Färbung ein recht überzeugendes und abschreckendes Bild einer im permanenten Kampfmodus lebenden Gesellschaft, insbesondere was das an Paranoia grenzende Sicherheitsbedürfnis angeht, das es dem Staat ermöglicht, nicht nur den seit Jahrzehnten schikanierten arabischen Feind, sondern auch die eigenen Bürger zu kontrollieren: So sei die »israelische Bevölkerung mit Ausnahme Chinas wahrscheinlich die am stärksten überwachte der Welt.«
Hier spitzt man die Ohren, insbesondere angesichts der Tatsache, daß dieses Buch vor dem Überfall der Hamas 2023 geschrieben wurde. Hat der traumatisch überraschende Angriff nicht all jene bestätigt, die der Ansicht sind, Israel könne gar nicht sicher, gar nicht »illiberal« genug sein? Sein Nutzen für die dort herrschende politische Klasse liegt jedenfalls auf der Hand, was Anlaß zu so manchen Spekulationen geben könnte und gab.
Illouz’ utopische Fixierung auf den »Universalismus« führt jedoch zu einer bestürzenden Naivität gegenüber politischen Realitäten zugunsten klischierter Psychologisierungen. Die Versuche Netanjahus, unter den westeuropäischen »Rechtspopulisten« Verbündete zu gewinnen, erklärt sie sich etwa mit der geteilten »Angst vor Ausländern, die als ›anders‹ betrachtet werden.«
Dabei verkennt sie sowohl die verheerende Realität der Masseneinwanderung nach Europa als auch die Wurzel des israelisch-arabischen Konflikts, der auf eine koloniale Übernahme durch Einwanderung mit gewaltsamer Vertreibung der ansässigen Bevölkerung zurückgeht. Sie sitzt demselben Irrtum auf wie jene, die glauben, Israel und das einwanderungs- und »islamkritische« Europa stünden in einer gemeinsamen ideologischen Front, nur mit seitenverkehrter Wertung. Ein Likudnik hätte indes an dieser Stelle leichtes Spiel, darzulegen, daß der höchst realen palästinensischen Feindschaft gegenüber dem israelischen Staat und Volk nicht mit »brüderlichen« Angeboten von Bürger- und Menschenrechten beizukommen sei.
Haarsträubend kontrafaktisch ist ihre Darstellung der »Freunde« Netanjahus wie etwa Trump und Orbán, glühender Philosemiten, die sie allen Ernstes als »antisemitisch« bezeichnet. Sie berichtet fassungslos, daß 54 Prozent der in Israel lebenden französischen Juden für Zemmour gestimmt haben, ohne zu erwähnen, daß dieser selbst Jude ist. Sie wiederholt die dummen Märchen über »Charlottesville« und die »Altright« und prangert den »Opferdiskurs« der Rechtspopulisten an, ohne darauf einzugehen, daß selbiger doch vor allem eine Waffe linker (und jüdischer) Identitäts- und Machtpolitik ist.
Sollte man deswegen auch ihrer Darstellung der israelischen Rechten mißtrauen? Möglicherweise, aber man gewinnt als Leser doch den Eindruck, daß sie auf diesem Gebiet eher Bescheid weiß, als wenn sie handelsübliche rechte Buhmänner vorbeiziehen läßt.
Welcher Kompaß Illouz fehlt, ist leicht auszumachen: Als typische liberal-kosmopolitische Diasporajüdin mit einem geradezu religiösen Glauben an den »Universalismus« fällt es ihr offenbar schwer, zu begreifen, daß große Teile ihres Volkes heute gänzlich andere Vorstellungen als sie darüber haben, was für sie selbst gedeihlich und zukunftsweisend sei. Berufen sie sich nicht mit größerem Recht auf den Geist des Jüdischen als sie? Der Kern des Judentums ist nun einmal ethnozentrisch, während sein Universalismus einen äußerst problematischen Macht- und Absonderungsanspruch enthält (»Unser Gott ist auch euer Gott, aber wir sind sein erwähltes Volk«).
Ein der Orientierung dienlicheres »Raster« als das von Illouz verwendete wäre hier die von Artur Abramovych vorgeschlagene Dichotomie zwischen »National-« und »Diasporajuden«, die freilich, wie alle Vereinfachungen, auch ihre Tücken hat.
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Eva Illouz: Undemokratische Emotionen, Suhrkamp 2023. 259 S., 18 € – hier bestellen.
Adler und Drache
während sein Universalismus einen äußerst problematischen Macht- und Absonderungsanspruch enthält (»Unser Gott ist auch euer Gott, aber wir sind sein erwähltes Volk«)
Was ist daran so problematisch?
ML: Das ist doch offensichtlich.