Japan war kein – im Nolteschen Sinne – faschistisches System. Allerdings ähnelte die Situation in Japan nach dem Ersten Weltkrieg der Lage in Italien, da auch in Japan, das die deutschen Kolonien in Asien erobert hatte, der Eindruck vorherrschte, um die Früchte des Sieges betrogen worden zu sein. Während sich Japan nach der Meji-Restauration 1868 in wenigen Jahrzehnten von einem rückständigen, mittelalterlichen Feudalstaat zur führenden Regionalmacht Ostasiens entwickelt hatte, begann nach 1918 Japans Aufstieg an seine Grenzen zu stoßen, da Großbritannien und die USA eine weitere Expansion des unerwünschten Emporkömmlings einzudämmen suchten. Japan mußte im Washingtoner Flottenabkommen eine demütigende Einschränkung seiner maritimen Rüstung hinnehmen. Die Diskriminierung durch die westlichen Mächte, wirtschaftliche Schwierigkeiten, die unter anderem regelrechte Hungerrevolten auslösten, und eine Krise des parlamentarischen Systems ließen die bisherige Orientierung am westlichen Modell obsolet werden.
Aus dieser kritischen Lage heraus entstanden wie in Europa nationalrevolutionäre Bewegungen: faschistische Parteien und zum Teil terroristische Geheimbünde. Diesen verschiedenen, in sich zerstrittenen Parteien gelang es aber nicht, sich eine echte Massenbasis zu verschaffen, Staatsstreichversuche der Geheimbünde wurden von den regulären Truppen niedergeschlagen. Ihr Einfluß war aber stark genug, das politische Klima zu radikalisieren, die politischen Parteien zu diskreditieren und dem Establishment den Weg eines militärischen Expansionismus aufzuzwingen. Nach der Ausschaltung des Parlaments gelangte die Führung des Staates in die Hände der Staatsbürokratie und des Militärs. Das japanische politische System im Zweiten Weltkrieg ähnelte weniger dem nationalsozialistischen Deutschland als vielmehr dem Deutschland des Jahres 1918, als Ludendorff eine Art Militärdiktatur ausübte.
Der japanische Imperialismus richtete sich vornehmlich auf China: während der dreißiger Jahre eroberte Japan weite Teile Chinas, wodurch es sich aber in einen Teufelskreis hineinmanövrierte. Je weiter Japan vordrang, desto drastischer wurde die mit spürbaren Boykottmaßnahmen einhergehende angloamerikanische Eindämmungspolitik, der man wiederum nur mit weiteren Eroberungen begegnen konnte, um die lebensnotwendigen Rohstoffe und Absatzmärkte zu sichern. Als 1941 die Situation kulminierte, versuchte die Militärführung durch einen Befreiungsschlag, den Angriff auf Pearl Harbour, der das amerikanische Militärpotential im Pazifik vollständig vernichten sollte, den Teufelskreis zu durchbrechen. Zwar wurden in der Tat einige amerikanische Schlachtschiffe und ein Großteil der landgestützten Flugzeuge durch den Überraschungscoup vernichtet, aber die amerikanischen Flugzeugträger, die sich auf hoher See befanden, blieben unversehrt. Mit diesen holten die USA ab dem Sommer 1942 zum Gegenschlag aus. Die USA erwiesen sich auch in dieser Phase des Krieges als die militärisch überlegene Macht. Als ab 1944 das enorme amerikanische Rüstungspotential zum Tragen kam, war Japans Schicksal besiegelt.
Die ersten amerikanischen Truppen, die zwei Wochen nach der Kapitulation eintrafen, betraten ein völlig verwüstetes Land: drei Millionen Japaner waren umgekommen, neun Millionen obdachlos, ein Drittel der nationalen Ressourcen zerstört. Die Japaner hungerten, waren erschöpft und verzweifelt. Sie machten die Militärs für die katastrophale Lage verantwortlich und sehnten sich nach einem Neubeginn. Insbesondere die Vertreter der Linken begrüßten die Amerikaner als Befreier.
Die Strategie der amerikanischen Besatzungspolitik beruhte auf zwei Grundannahmen: 1. Die Japaner sind ein orientalisches Volk. Sie handeln gruppenorientiert und sind autoritätsabhängig. Deshalb muß eine Reform von oben her erfolgen. Um den amerikanischen Reformbemühungen Legitimität zu verleihen, müssen diese im Einklang mit der obersten Autorität Japans, dem Kaiser, stehen. Um die Autorität des Kaisers zu bewahren, setzte der amerikanische Oberbefehlshaber MacArthur alles daran, die Frage nach der Kriegsschuld des Tenno zu unterbinden. 2. Im Gegensatz zur alliierten Kriegspropaganda und der Auffassung zuhause hielten die Besatzer den japanischen Volkscharakter nicht für grundsätzlich verderbt. Vielmehr sah man die Ursache des Krieges in den archaisch-feudalen Residuen und den Machenschaften des militärisch-industriellen Komplexes. Durch die Beseitigung dieser strukturellen Faktoren glaubte man den Reformen zum Erfolg verhelfen zu können. Diese beiden Annahmen – Schutz des Kaisers und Schuldzuweisung an eine durch die Niederlage sowieso schon diskreditierte Gruppe – kamen den Erwartungen und dem Selbstbild der Japaner entgegen, weshalb sie die Besatzungspolitik nicht nur widerstandslos akzeptierten, sondern sogar aktiv an der Umgestaltung mitarbeiteten. So hatte man beispielsweise schon vor dem Eintreffen der Amerikaner die Schulbücher von allen „ultranationalistischen“ Passagen gesäubert. Täglich gingen Reformentwürfe bei den Besatzungsbehörden ein. Den Bewußtseinswandel illustriert in besonders eindrücklicher Weise, daß ein Gesetzentwurf für ein arbeitnehmerfreundliches Arbeitsschutzgesetz von einem früheren Geheimpolizeichef eingebracht wurde. Das Zusammenspiel von Besatzern und Besiegten nahm teilweise sogar groteske Züge an. Im Tokyoter Kriegsverbrecherprozeß hatten beide Seiten sich auf die Sprachregelung geeinigt, daß der Kaiser von allen militärischen Vorgängen nur unzureichend unterrichtet gewesen sei und darum keine Verantwortung trüge. Als der Hauptangeklagte, Expremier Tojo Hideki bekannte, „keiner von uns hätte es gewagt, gegen den Willens des Kaisers zu handeln“, wirkte der US-Chefankläger auf einen Vertreter des Hofes ein, General Tojo zum Widerruf zu bewegen.
Im Gegensatz zu Deutschland wurde die amtierende Regierung nicht abgesetzt. Zwar wurden einige der besonders belasteten Politiker verhaftet und auch verurteilt und extreme Elemente durch gemäßigte Vorkriegspolitiker ersetzt, aber die Kontinuität der Führungsschicht und der Staatsbürokratie blieben erhalten. Diese Rücksichtnahme hat aber nichts damit zu tun, daß die Amerikaner nur die schlimmsten militaristischen Auswüchse beseitigen und ansonsten alles beim alten lassen wollten. General MacArthur, der über eine Machtfülle verfügte, von der ein amerikanischer Präsident nicht einmal zu träumen wagte, zögerte nicht, einen radikalen Umbau der japanischen Gesellschaft ins Werk zu setzen. Dies mußte die japanische Regierung erfahren, als ihr zögerlicher Verfassungsentwurf, der nur einige kosmetische Korrekturen der bestehenden Meji-Verfassung vorsah, von MacArthur vom Tisch gefegt wurde. Die neue Verfassung wurde innerhalb einer Woche komplett von amerikanischen Experten erstellt. Diese sah folgende einschneidende Veränderungen vor:
(1) Der Tenno wurde seiner gottgleichen Stellung beraubt und auf eine rein repräsentative Funktion als „Symbol der Einheit des Landes“ beschränkt.
(2) Der Adel und das adlige Oberhaus wurden abgeschafft.
(3) Ein Grundrechtskatalog, der den der amerikanischen Verfassung übertrifft, wurde eingeführt.
(4) Die großen wirtschaftlichen Konzerne (zaibatsu) wurden zerschlagen.
(5) Eine umfassende Landreform, die feudalen Großgrundbesitz auflöste und den Landbesitz auf ein Hektar reduzierte, wurde durchgeführt.
(6) Die Lage der Arbeitnehmer wurde dramatisch verbessert.
(7) Das Erziehungswesen wurde grundlegend modernisiert.
(8) Als besonderes Novum verzichtete Japan in dem berühmten Artikel 9 auf das Recht zur Kriegführung, wodurch sich Japan zu einem radikalen Pazifismus verpflichtete.
Vergleicht man das Verhältnis von Veränderung und Bewahrung in Westdeutschland und Japan, so zeigen sich bemerkenswerte Unterschiede: Während in Deutschland das politische System und die „deutsche Ideologie“ radikal beseitigt wurden, blieben das gesellschaftliche und wirtschaftliche System nahezu unverändert. In Japan dagegen wurde die Gesellschaft völlig umgekrempelt, die Wirtschaft in weiten Teilen umgestaltet (deutliche Erweiterung der Arbeitnehmerrechte, Dezentralisierung, stärkerer staatlicher Einfluß), während von den Gebäuden des politischen Systems und der grundlegenden Werte japanischer Geistigkeit gewissermaßen die Hälfte bestehen blieb: Kontinuität der politischen Klasse, die zwar reduzierte, aber in ihrem Kern unangetastete Rolle des Kaisers, Beibehaltung der traditionell japanischen Religion des Shintoismus, die aber ihrer politischen Funktion entkleidet wurde.
Der Reformeifer der unmittelbaren Nachkriegszeit begann nach 1948 merklich zu erlahmen. Dies hatte mehrere Gründe: Der Verlust der ökonomisch sehr wichtigen japanischen Kolonien, die Zerstörung der Infrastruktur, die investitionshemmende Unsicherheit hinsichtlich der angedrohten Reparationen, Inflation und Arbeitslosigkeit, Hungersnöte und die zahlreichen Streiks hatten Japan in eine wirtschaftliche Depression gestürzt. Nur massive amerikanische Hilfslieferungen konnten ein Abgleiten in völliges Chaos verhindern. Desweiteren nutzte die Linke, allen voran die überaus rührige kommunistische Partei, die neugewonnene Freiheit, um die Lage weiter zu radikalisieren. Sie schreckte auch vor einer Kritik am Tenno und den Besatzungsbehörden nicht zurück. Durch den Sieg Mao Tse Tungs und den Beginn des Koreakriegs drohte ganz Ostasien dem Kommunismus anheimzufallen. Daher entschlossen sich die Besatzungsbehörden, das Ruder herumzuwerfen: das Streikrecht wurde eingeschränkt, die Zensur verschärft und in einer großen Säuberungswelle, in der mehrere tausend Aktivisten ihre Stellung verloren, der Einfluß der Linken eingedämmt. Aber bereits vorher hatten viele japanische Kritiker auf das Paradox einer „Demokratisierung von oben“ hingewiesen: Wenn man unter Demokratie den freien Ausdruck des politischen Willens jedes einzelnen Bürgers versteht, wie soll man Demokratie erlernen, wenn sie von oben befohlen wird? Zu Recht wurde darauf aufmerksam gemacht, daß man MacArthur in gleicher Weise verehrte wie bislang den Kaiser und daß man in derselben Autoritätshörigkeit der Demokratiepropraganda folgte wie einst der Kriegspropaganda. Die zahlreichen Privilegien der mehreren hunderttausend Besatzungssoldaten, ihre Erfolge bei japanischen Frauen, die diffusen, stets aber drückenden Zensurbestimmungen (selbst Bilder des Fujiyama waren verboten), die fragwürdige Praxis der Kriegsverbrecherprozesse und so weiter ließen die anfängliche Amerikabegeisterung rasch abkühlen. Nach dem Friedensvertrag von 1952 und der dadurch wiedergewonnenen Souveränität verstärkte sich daher die – von manchen restaurativ genannte – Besinnung auf das Eigene. Zwar blieb die oktroyierte Verfassung, die im Gegensatz zum Grundgesetz per Parlamentsbeschluß hätte abgeschafft werden können, in Kraft, was aber kein Hinderungsgrund war, als Kriegsverbrecher verhaftete Leute wie Kishi Nobusuke zum Ministerpräsidenten (1957 – 1960) zu machen. Am deutlichsten zeigt sich die allmähliche Renationalisierung in der wachsenden Wertschätzung des Yasukunischreins. Der Yasukunischrein ist ein Shintotempel, welcher dem Gedenken an die gefallenen Soldaten dient. Aufgrund der ideologischen Funktionalisierung des Shintoismus hatten die Amerikaner Kulthandlungen aktiver Politiker verboten und die martialischen Gedenktafeln zubetonieren lassen. Im Laufe der Zeit wurde die Betonabdeckung entfernt, die Ahnenverehrung auf alle Kriegsverbrecher ausgedehnt und der Schrein schließlich sogar, trotz massiver Proteste aus dem Ausland, von etlichen Ministerpräsidenten aufgesucht.
Dies soll aber nicht heißen, daß die Japaner zum Nationalismus der Vorkriegszeit zurückgekehrt sind. Auch in Japan gab es eine Vergangenheitsbewältigung. Diese trat unter anderem in einer vielfältigen Erinnerungsliteratur zutage, die aber zumeist die eigene persönliche Schuld reflektierte und sich nicht zu einer Anklage gegen das Japanertum ausweitete. Die Beschäftigung mit den Greueln der Vergangenheit resultierte in der weitverbreiteten Auffassung von der Sinnlosigkeit des Krieges. Im sich daraus ergebenden verinnerlichten Pazifismus wird die Vergangenheit tatsächlich bewältigt, da die kritische Reflexion zu einem klar identifizierbaren und praktizierbaren Ziel gelangt und dadurch stillgestellt wird, während das Getriebe der bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung in zielloser Rotation perenniert.
Was in Deutschland nur Wunschtraum einiger intellektueller Außenseiter war, ist in Japan Wirklichkeit: Japan ist eine selbstbewußte Nation. Vielleicht hat am stärksten ausgerechnet MacArthur dazu beigetragen, als er gegen vielfältigen, auch japanischen Widerstand, Rücktritt und Strafverfolgung des Kaisers verhinderte. Wie es die neue Verfassung bekräftigt, verkörpert der Tenno die Einheit des Landes – auch über die Zeitläufe hinweg. Die reale Kontinuität von Kaiser Hirohitos Herrschaft fügte Vergangenheit und Gegenwart zu einer Einheit zusammen, während in der BRD der Mythos der Stunde Null die deutsche Geschichte vor 1945 zu einem Schreckbild des Bösen verteufelte. Den von den meisten Japanern geteilten Glauben an die Unerschütterlichkeit der Substanz Japans brachte Kaiser Hirohito in einem Gedicht anläßlich der Wiedergewinnung der Unabhängigkeit zum Ausdruck:
Tapfere Kiefer –
du erträgst den Schnee,
der auf dir lastet.
Unverändert ist deine Farbe.
Möge das Volk dir gleichen.