Nach einem ersten Jubelschrei und einigen Worten an die versammelten Parteifreunde und Wahlkämpfer tritt Björn Höcke aus der ersten Reihe heraus auf die Seite und senkt den Kopf.
Er ist erleichtert, ohne Zweifel, und er weiß, daß er wieder Geschichte geschrieben hat: Er ist nun der erste Chef eines Landesverbands der AfD, der bei einer Wahl zur stärksten Kraft geworden ist.
Aber Höcke wird auch der bisher einzige mehr als klare Wahlsieger in der Geschichte der Bundesrepublik sein, mit dessen Partei die anderen, abgeschlagenen Parteien Koalitionsgespräche von vornherein ausgeschlossen haben – nicht taktisch und als Teil eines politischen Geplänkels, sondern ganz und gar, grundsätzlich, “unverhandelbar”.
Höcke wird der erste glasklare Wahlsieger sein, der nicht regieren darf.
Sehen wir also einen Höcke, der erleichtert darüber ist, daß die Ochsentour des Wahlkampfs gemeistert und die Ernte eingefahren ist? Oder sehen wir denjenigen, der an die Führung einer riesigen Fraktion denkt, an die Sperrminorität, die ihm ein Gestalten durch Verhindern ermöglicht, und daran, daß nun die Abgeschlagenen sich ihren “Regierungsauftrag” zurechtquatschen? Wir sehen beides.
Auch in Sachsen ist die AfD über 30 Prozent stark geworden und wird mit einer Fraktion in den Landtag einziehen, der zunächst eine Sperrminorität zugerechnet, dann aber wieder abgenommen wurde. Sperrminorität zu besitzen, bedeutet, Verfassungsänderungen verhindern zu können und bei der Benennung höchster Richter gefragt werden zu müssen. Beides ist wesentlich, beides bedeutet, daß man berücksichtigt werden muß und in den politischen Tauschhandel einsteigen kann.
Die neue Berechnung der Sitze im Sächsischen Landtag erfolgte am Montag, nachdem auf einen Softwarefehler hingewiesen worden war. Sie hat wohl Hand und Fuß, wurde manuell geprüft und sollte als transparentes Verfahren von einem Mathematiker nachvollzogen werden. Jörg Urban äußerte sich bereits in diesem Sinne:
Wie wollen haargenau wissen, was genau schiefgelaufen ist. Wir verlangen eine exakte Fehleranalyse und haben bereits Kontakte zu wissenschaftlich arbeitenden Demoskopen und Mathematikern aufgenommen, die diesen Vorgang nachprüfen werden. Sollte es zu Unregelmäßigkeiten kommen, leiten wir juristische Schritte ein.
Aber stärkste Partei ist die AfD in Sachsen nicht geworden, obwohl sie in den Wahlumfragen lange so gehandelt wurde. Natürlich war ihr die CDU stets dichter auf den Fersen als den Parteifreunden in Thüringen. Und natürlich hat Jörg Urban von hohem Niveau aus noch einmal drei Prozentpunkte zugelegt. Aber in Thüringen waren es eben neun Prozent, obwohl das Bündnis Sahra Wagenknecht hier viel stärker abschnitt als in Sachsen.
Der Thüringer Erfolg der AfD hat Gründe. Höcke und seine Leute haben ihre Partei plastisch herausgemeißelt. Die AfD ist dort greifbar geworden, wo sie von sich ein rundes, durchdachtes, zuversichtliches Bild zeichnen konnte. Sie hat sich als Volkspartei präsentiert und wirklich Marktplätze gefüllt, etwas, das keine andere Partei vermag.
In Nordhausen beispielsweise war das mit Händen zu greifen. Dort veranstaltete der Landesverband der AfD eines von dutzenden Familienfesten, die Höcke persönlich besuchte. Buden und Stände, Musik und Reden, halbe Schulklassen mit Deutschlandfahnen und AfD-Wimpeln, Selfiestimmung und ein ständiges Sichbegrüßen, manchmal noch überrascht, weil man plötzlich den Nachbarn entdeckte, oft aber schon wie verabredet für einen Gang über ein Volksfest.
Auf der Bühne übergab ein eloquenter, bestgelaunter Moderator das Mikrophon an die Direktkandidatin Kerstin Düben-Schaumann, die einen Frisiersalon führt und sehr authentisch wirkt. Sie reichte wiederum an Jörg Prophet weiter, der erst vor Monaten als “Einer gegen Alle” nur knapp nicht zum AfD-Oberbürgermeister von Nordhausen gewählt wurde und nun im Umland antritt. Jeder kennt ihn.
Beide Nordhäuser gewannen am Sonntag Direktmandate, denn sie verkörpern das Alternative, und die Probleme waren und sind offensichtlich: Überfremdung, Innere Sicherheit, Kostenexplosion, soziale Unsicherheit, dem Experiment aus Berlin ausgesetzt, ohne echte Opposition dagegen. Die Stimmung, daß nun doch etwas möglich sei, fand bei der AfD in Thüringen auch einen Ort: Ihren Kandidaten fehlt das Glatte, zumindest in Nordhausen traten sie volksnah auf, gehören zu denjenigen, die sie vertreten werden.
Und natürlich: Der CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt ist ein dankbarer Gegner im Vergleich zu Michael Kretschmer aus Sachsen. Dafür war es in Thüringen schwerer, die Eisenacher Oberbürgermeisterin Katja Wolf und ihr BSW als Schein-Alternative weit genug von sich abzugrenzen. Das BSW hat kaum Stimmen von der AfD abgeworben, aber Wechselwähler, die noch vor acht Monaten zur AfD gewandert wären, sozusagen ein Feld früher abgefangen.
Das BSW ist als eine Ausgründung der Linken Fleisch vom Fleische. Das wurde noch am Wahlabend deutlich, als Katja Wolf den Antifa-Sprech übernahm, Voigt als dem Wahlsieger innerhalb des Blocks “aller demokratischen Parteien” gratulierte und damit die AfD kategorisch ausschloß.
Nun hört man aus Sachsen und Thüringen die Signale. In beiden Bundesländern will die CDU mit dem BSW koalieren. Das BSW wird sich von seinen wenigen weltanschaulichen Radikalpositionen verabschieden müssen. Etwas Symbolpolitik wird bleiben, aber das reicht nicht mehr weit. Es wird also weitergehen wie bisher, nur anders heißen.
Der entscheidende Aspekt des Erfolgs in Thüringen ist Höcke selbst. Er hat seinem Landesverband beigebracht, daß es nicht ausreiche, an die CDU von vor zwanzig Jahren zu erinnern. Er hat begriffen, daß Selbstverharmlosung keine Strategie ist, sondern eine Falle sein kann. Wer vom Wechsel erzählt, muß ihn verkörpern, muß signalisieren, ausstrahlen, daß es sich lohnen werde, alternativ zu wählen.
Höcke und seine Mannschaft haben begriffen, daß die CDU bei Wahlen der Hauptgegner ist. Weltanschaulich mögen es nach wie vor die Grünen sein, aber sie sind so sehr eine städtische Klientelpartei, daß sie dort, wo die AfD abräumt, keine Rolle spielen. Man konkurriert nicht wirklich, denn man begegnet sich kaum.
Der CDU aber begegnet man. In fast allen Wahlkreisen gab es einen Zweikampf mit ihr um das Direktmandat. Mario Voigt hat seines gegen die AfD-Frau Wiebke Muhsal verloren, und auch Höcke hat seines nicht geholt. Er zieht als Spitzenkandidat über die Liste in den Landtag ein.
Ich sitze mit Daniel Haseloff, dessen Sieg im Kampf um das Direktmandat in Sömmerda sich abzeichnet, am Geländer auf der unteren Terrasse des Restaurants, in dem die Wahl-Party stattfindet, und sehe, wie ihn die mögliche Niederlage Höckes im Wahlkreis Greiz erschüttert.
Er macht sich keine Sorge um den Einzug Höckes in den Landtag – es wird mindestens zwei Listenplätze geben, die “ziehen”, und wenn nicht, dann wird einer Platz machen und auf sein Mandat verzichten; es ist die Ungerechtigkeit, die Haseloff anfrißt.
Das zivilgesellschaftlich finanzierte und gegen “rechts” ausgerichtete Kampagnen-Netzwerk Campact hat rund eine Million Euro in den Wahlkampf in Thüringen investiert, und dieses Engagement hatte zwei Ziele: Zum einen sollte der Einzug der Grünen in den Landtag deswegen unbedingt gelingen, weil dadurch die Sperrminorität der AfD fast sicher verhindert hätte werden können. Der Einzug der Grünen hätte den Landtag vergrößert und damit auch die Sitzeanzahl des notwendigen Drittels.
Zweitens war die Campact-Initiative ausdrücklich gegen Höcke als Person gerichtet und sollte durch Unterstellungen und Kriminalisierungen abschreckend auf diejenigen Wähler wirken, die zwar den Wechsel wollten, aber nicht mutig genug waren, das vermeintlich Böse zu wählen. In einer Pressemitteilung hatte Campact seine Maßnahmen lange vor der Wahl skizziert:
Campact wird die eigenen Unterstützer*innen hierfür per E‑Mail anschreiben und informieren, Anzeigen online ausspielen und den Thüringer Grünen über 60 Plakatwände in Erfurt und Jena überlassen, die Campact für eine eigene Kampagne bereits gebucht hatte. Zusätzlich wird Campact für ihre Mobilisierungskampagne im ländlichen Raum u.a. Postwurfsendungen verteilen, Anzeigen online und in Umsonstzeitungen schalten sowie Plakatwände nutzen.
Man darf davon ausgehen, daß alleine in den Wahlkreis Greiz, in dem Höcke antrat, über 150 000 € aus dem Campact-Budget geflossen sind. Unter anderem hat der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, 350 000 Briefe an Thüringer Wähler aussenden lassen, in denen er Höcke eine Mitverantwortung dafür unterstellte, daß es in den KZs zu Schmierereien und anderen Delikten gekommen sei.
Finanziert hat diese Briefsendungen unter anderem Campact, und natürlich müßte ein Anwalt prüfen, ob es sich bei diesen vielen Vorgängen nicht längst um verdeckte Parteien- und Wahlkampffinanzierung und, im Falle staatlich finanzierter Stiftungsdirektoren, um eine Verletzung des Neutralitätsgebots handelte.
Aber Höcke und andere, die in den vergangenen Jahrzehnten der engmaschigen Verknüpfung solcher Netzwerke untereinander haben zusehen können, wissen, daß juristische Fall-Erfolge nichts am grundsätzlichen Problem ändern würden: an einer staatsnahen Struktur, die weltanschaulich gegen fast alles aufgestellt ist, wofür die AfD vor zehn Jahren antrat und seither kämpft.
Haseloff jedenfalls verzweifelt, während wir am Geländer stehen, fast darüber, daß demjenigen, “der uns alle mitgerissen und für uns alle so sehr gekämpft hat”, die persönliche Genugtuung wohl nicht zuteil würde, selbst gegen die ganze Wucht einer inhaltlich dreckigen Kampagne dennoch das Mandat direkt erobert zu haben.
Der Wahlsieger steht fest. Nun prasselt es Ratschläge. Was nicht alles zu tun sei! Noch Tage vor der Wahl erzählten mir zwei CDU-Männer (einer mit Mandat, einer nicht mehr), daß die Werte-Union Hans-Georg Maaßens das Zünglein an der Waage spielen werde und daß es sehr, sehr sinnvoll sein könnte, ihn noch vor dem Sonntag auf der Bühne als denjenigen zu präsentieren, der vermittelnd ministeriabel zwischen CDU und AfD stehen könne. (Die Werte-Union sahnte in Thüringen 0,6, in Sachsen 0,3 Prozent der Stimmen ab.)
In Sachsen und Thüringen ließen sich sehr viele CDU-Wähler mit dem Argument mobilisieren, daß damit die AfD verhindert werde – oder wenigstens ihre Sperrminorität. Aber in Sachsen wurde dennoch aus den Reihen der AfD gleich nach der Wahl die Forderung laut, nichts läge näher als ein Bündnis mit dieser Partei.
Nach wie vor gibt es Stimmen, die ein Problem in der Polarisierung sehen, mithilfe derer Höcke seine Alternative gegen die “Kartellparteien” zu einem historischen Wahlsieg führte: Wer so konfrontiere, dürfe sich nicht wundern, daß hinterher niemand koalieren wolle. Der Publizist Robin Alexander äußerte sich so, und man fragt sich immer, ob diese Leute blind und taub sind für das, was die Front aus Altparteien, Staat und Zivilgesellschaft gegen den einzigen Gegner auffährt, der nicht klein beigeben wollte und wird.
Höcke spielt viele Spiele nicht mit, von denen all jene, die von diesen Spielen profitieren, denken, daß jeder sie am Ende mitspiele. Welcher Landesverband, welcher Wahlsieger wäre nicht eitel genug, sich am Abend von möglichst vielen Kameras und Mikrophonen umstellen zu lassen und seine Kraft und Stärke auf allen Sendern ausgeleuchtet zu sehen?
Höcke und seine Leute sind so nicht. Als sich Medienvertreter in die Wahlparty hineinzuklagen beginnen, also dorthin, wo aus ihrer Sicht derjenige feiern würde, den es zu entstellen galt – da erklärt Höcke die Veranstaltung zur Privatsache nur für geladene Gäste.
Man ging also auf den Eingang des Restaurants zu, durch lagernde, ratlose, wartende, um einen Insider-Abend gebrachte Journalisten. Sie erhielten kein Interview, keine O‑Töne, sie hatten sich aufgeteilt, aber auch diejenigen, die im Landtag auf Höcke warteten, bekamen nicht viel zu hören – von Großzügigkeit und Schwamm-drüber-Geste des Siegers keine Spur, denn zuviel Gülle war ausgekippt, zu viel Dreck geworfen worden.
Als Höcke gegen halb neun von seinen Terminen im Landtag zurückkommt, macht er mit seinen eigenen Leuten noch ein paar Selfies und führt ein paar Gespräche. Dann läßt man ihn in Ruhe essen. Er weiß zu diesem Zeitpunkt bereits, daß er mehr als ein Drittel der Sitze haben wird und daß er selbst in den Landtag eingezogen ist.
Natürlich freut es mich, daß Höcke mich vor allem aufsucht, wenn er nicht pragmatisch, sondern grundsätzlich sprechen möchte, und noch anders: wenn er seine Ruhe haben will. Wir müssen nämlich nicht immer reden.
So war es dann am späteren Abend noch einmal, und ich kann sagen, daß mir in dieser knappen halben Stunde, in der wir auf einem Grasstreifen unterhalb des Biergartens saßen, eines erneut klar wurde: Höcke ist nicht Politiker, weil dies sein Lebensziel war; er ist zu einem der bekanntesten Männer der deutschen Politik geworden, weil er diesen Weg für notwendig hält. Höcke ist ein sehr guter Politiker, ohne nur Politiker zu sein.
Er fragte mich, ob ich der Meinung sei, es falle ausreichend genug auf, daß er nicht in jeder Wahlkampfrede dasselbe sage; daß er auch über die Jahre hinweg nicht nur strategisch argumentiere, sondern als jemand, der wirklich lese, wirklich nachdenke, wirklich weiterkommen wolle, geistig; ob das auffalle, daß er jemand sei, der den Zuhörern, den Wählern davon berichten wolle, worüber er nachdenke und welche Fragen er habe.
Ich antwortete, daß das nicht ausreichend genug auffalle, denn es könne in einer Zeit wie unserer gar nicht so auffallen, wie man es sich wünsche. Die Gesellschaft des Spektakels habe eine Durchlaufgeschwindigkeit erreicht, in der für die Ruhe des Sprechens, Zuhörens, Abwägens, des Verstehenwollens und Nachdenkens kaum mehr Platz vorhanden sei.
In aller Differenziertheit und Ambivalenz gehört und verstanden zu werden, das sei für uns noch schwieriger als für andere: Hunderte Stellensucher seien unterwegs, um jeden Satz und jede Rede auf die eine denunzierbare Phrase zu durchleuchten. Du, Björn, bist von Wänden umstellt, die den Blick auf Dich verstellen sollen. In diese Wände haben diejenigen, die es sich anmaßen, Gucklöcher gestemmt, die wiederum nur freigeben, was sie vorsehen.
Das ist nur eine Beschreibung, und sie ist nicht nostalgisch: Den denunziatorischen Anspruch, den die Presse von sich selbst hat, wird man so rasch nicht verändern können. Der Wunsch lautet: Wir alle sollten ausführen können, was wir zu sagen haben, denn das wenigste ist Parole. Aber Höcke ist Pragmatiker genug, um zu wissen, wann es sich lohnt, sich etwas anderes, besseres vorzustellen.
lxndr
Voigt und Ramelow jetzt mal spiegelverkehrt im Erfurter Landtag, lol😃