Die Bodensteiner Klippen sind für den Familienausflug eine echte Herausforderung. Wer hier mit Kindern wandert, braucht keinen Escape-Room oder das betreute Kraxeln in der Boulder- oder Kletterhalle.
Die Anreise führt über Bockenem vorbei an einem Tierfriedhof und dem »Wohnmobil- und Campingpark Ambergau« in tiefe Waldeinsamkeit. Hier liegt die Weihestätte der deutschen Jägerschaft. Ein in den Fels gemeißeltes Relief zieht die Kinder in den Bann. Es zeigt den heiligen Hubertus, Schutzpatron der Jäger und meines ehemaligen Schülers und derzeitigen Arbeitsministers Hubertus Heil.
Der stattliche Hubertus kniet nicht vor der IG-Metall, sondern einem kapitalen Bock. Dieser trägt ein Kreuz zwischen seinem Geweih. Nein, das Relief wurde nicht von »Jägermeister Braunschweig« gesponsert. Und der Jäger mit dem Gesicht Stefan Georges kippt keinen Kräuterlikör. Er beugt die Knie und betet an. Nicht den Hirsch, sondern den Herrn des Lebens. In der Abgeschiedenheit des Hainberges hat sich ein Wunder ereignet.
Eine alte Inschrift bringt es auf den Punkt: »solitudo sola beatitudo«. Etwas frei übersetzt: Das einfache Leben in der Abgeschiedenheit ist der einzige Weg zur Glückseligkeit! Ernst Wiechert hat es in Das einfache Leben (1939), einem Roman der Inneren Emigration, beschrieben.
Die Familie befindet sich im ehemaligen Jagdrevier der Bischöfe von Hildesheim. Ich habe zwei Jahre Zivildienst geleistet und kann selbst im Film kein Blut sehen. Halali und Hubertusmesse blieben mir fremd. Aber ich weiß, daß gerade diese Gegend mit ihren zahlreichen Wildschweinen der ordnenden Hand des Jägers bedarf. Auch das Leben in Abgeschiedenheit ist Bedrohungen ausgesetzt.
Hier im Ambergau wird eine Variante der alten Legende erzählt. In alter Zeit, als an Sonn- und Feiertagen die Menschen noch zur Kirche gingen, ritt Hubertus mit lautem Getöse zur Jagd. Er preschte als wilder Jäger durch die Reihen der Kirchenbesucher und tönte während der Eucharistie in sein Horn. Die Hundemeute jaulte wie besessen. Kakophonie galt als Musik der Teufel. Engel singen dagegen in Harmonie. Der Frevel erreichte am Karfreitag seinen Höhepunkt, als Hubertus seinen Speer auf einen Zwölfender warf.
Legenden verbreiten Optimismus. Jene Langschläfer, die mit ausgebeulter Jogginghose zur Zeit des Gottesdienstes den nächsten Supermarkt besuchen und den siebten Tag mit ihren Kindern daddelnd am iPhone verbringen, können erlöst werden. Wenn der Herr es will. Im Fall von Hubertus wollte er es. Der Speer verwandelte sich noch im Flug in ein leuchtendes Kreuz und landete zwischen dem Geweih. Heute jagt die deutsche Bischofskonferenz den Platzhirschen des Zeitgeistes hinterher.
Die Hubertushöhle neben dem Relief war ursprünglich keine Stätte für zechende Fürstbischöfe, sondern eine Einsiedelei. Wer hält heute noch die Stille aus? Überall tauschen Menschen elektronisch versandte Nichtigkeiten aus und übersehen die Wunder am Wegesrand. Orte wie diesen besucht die Familie selbstverständlich ohne GPS mit einer topographischen Karte. Wandern und Schauen gehören zusammen. Heute gehört die Stätte zu den wirklich geheimen Plätzen im südlichen Niedersachsen. Mitte der dreißiger Jahre wurde sie als Weihestätte der Deutschen Jägerschaft entweiht.
Der Gaujägermeister von Braunschweig, Friedrich Alpers, stand neben dem Reichsjägermeister Hermann Göring vor dem Relief. Groß prangte das Symbol der braunen Jäger: Der Kopf des Hirsches mit einer Swastika zwischen dem Geweih. Kreuz und Hakenkreuz zu vereinen war das Ziel der Deutschen Christen in der Kirche Luthers. Göring hielt 1936 und 1937 auf dem Hainberg die Festreden über Artenvielfalt und Ökologie nach dem Reichsnaturschutzgesetz (1935).
Das ehemalige Gasthaus im alten Forsthaus wurde unlängst renoviert und kann für Veranstaltungen aller Art gemietet werden. Die Informationstafeln verschweigen die Vergangenheit des Ortes. Auf dem Felsen über dem heiligen Hubertus und dem Hirsch haben sich einige Fürstbischöfe anläßlich ihres Besuches mit Namen verewigen lassen. Eine Inschrift lautet »memento mori«. Tyrannen halten sich für unsterblich.
In der Kreatur war dem Jäger Hubertus der Herr der Welt erschienen. Fangen wir wieder an, unseren Kindern und Enkelkindern von seinen Wundern zu erzählen! Überall vor der Haustür begegnet uns Geschichte. Überall lockt der Waldgang. Der wahre Waldgänger aber entzieht sich dem Bund mit dem Zeitgeist – damals wie heute.