Kant – wie wir ihn lesen

PDF der Druckfassung aus Sezession 119/ April 2024

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

An Kant schei­den sich die Libe­ral­kon­ser­va­ti­ven von den Tra­di­ti­ons­kon­ser­va­ti­ven. Dabei hat sich wohl kein Publi­zist vom Schla­ge eines Micha­el Klo­novs­ky, Nor­bert Bolz oder Man­fred Klei­ne-Hart­la­ge durch Imma­nu­el Kants Kri­tik der rei­nen Ver­nunft gear­bei­tet oder über­haupt mit des­sen Schrif­ten ein­ge­hend beschäf­tigt, und falls doch, ver­steht er sich jeden­falls nicht als Kantianer.

Wer als Kon­ser­va­ti­ver für »west­li­che Wer­te« und das »Men­schen­recht« auf Reli­gi­ons­frei­heit, Pres­se­frei­heit, Mei­nungs­frei­heit, Gedan­ken­frei­heit und sexu­el­le Frei­heit, wer für Demo­kra­tie und für bür­ger­li­che Mün­dig­keit ein­tritt, tut dies, weil er auf den Schul­tern der Rie­sen der Auf­klä­rung steht. Imma­nu­el Kant, der vor 300 Jah­ren gebo­ren wur­de, ist nicht nur im deut­schen Denk- und Sprach­raum mit Abstand der ein­fluß­reichs­te auf­klä­re­ri­sche Phi­lo­soph gewe­sen, son­dern neben Jean-Jac­ques Rous­se­au auch der­je­ni­ge, des­sen Phi­lo­so­phie zum Nähr­bo­den des Bildungs‑, Rechts- und poli­ti­schen Sys­tems Euro­pas wurde.

Die »Erklä­rung der Men­schen- und Bür­ger­rech­te« der fran­zö­si­schen Natio­nal­ver­samm­lung vom 26. August 1789 doku­men­tiert mit dem Recht auf »Frei­heit, Eigen­tum, Sicher­heit und Wider­stand gegen Unter­drü­ckung« (wobei die Frei­heit dar­in bestehe, »das zu tun, was einem ande­ren nicht scha­det«) Gedan­ken, die Kant in Was ist Auf­klä­rung? (1786), in sei­ner Schrift Die Reli­gi­on inner­halb der Gren­zen der blo­ßen Ver­nunft (1793) und in der »Rechts­leh­re« der Meta­phy­sik der Sit­ten (1797) aus­ge­führt hat.

Libe­ral­kon­ser­va­ti­ve ver­tei­di­gen die genann­ten »Wer­te« zum einen gegen den »Tota­li­ta­ris­mus« (wor­un­ter auch der poli­ti­sche Islam sub­su­miert wird), zum ande­ren gegen jede Bevor­mun­dung des Indi­vi­du­ums durch frei­heits­be­rau­ben­de Ein­grif­fe in des­sen Eigen­tum, Kör­per oder Den­ken. Anders als Links­li­be­ra­le wol­len sie tra­di­tio­nel­le Wer­te wie Fami­lie, Schöp­fung, Eigen­tum, Hei­mat, Recht und Gesetz kei­nes­falls über­win­den, da sie den Men­schen mit Kant für »aus krum­mem Hol­ze geschnitzt«, also nicht von Natur aus gut hal­ten, wes­halb er der gesell­schaft­li­chen Ord­nung bedarf.

Zur Reli­gi­on in Gestalt des abend­län­di­schen Chris­ten­tums haben Libe­ral­kon­ser­va­ti­ve ein gespal­te­nes Ver­hält­nis: Inso­fern sie Kul­tur­chris­ten sind, wol­len sie die Reli­gi­on nicht mis­sen als Klam­mer des sozia­len Zusam­men­halts und als Quel­le der euro­päi­schen Hoch­kul­tur in Musik, Male­rei, Archi­tek­tur und Lite­ra­tur und einer nun­mehr säku­la­ri­sier­ten Ethik. Doch der christ­li­che Glau­be als Orthop­ra­xie (also got­tes­fürch­ti­ge Lebens­füh­rung) und Ortho­do­xie (also Auto­ri­tät der Kir­che und ihrer Leh­re) ist für sie genau­so wie bezüg­lich des Islam unver­ein­bar mit den indi­vi­du­el­len Frei­heits­rech­ten als Aus­druck der Ver­nunft des Menschen.

Die Reli­gi­on inner­halb der Gren­zen der blo­ßen Ver­nunft dient zunächst als Aus­gangs­punkt zur Ein­füh­rung in die Grund­zü­ge des Kan­ti­schen Den­kens. Von ihr aus­ge­hend, läßt sich die Wir­kung Kants auf die Libe­ral­kon­ser­va­ti­ven andeu­ten. Um es noch ein­mal zu beto­nen: Kant ist – sel­ten expli­zit, nur das berühm­te »Habe Mut, dich dei­nes eige­nen Ver­stan­des zu bedie­nen« wird oft zitiert, um so unver­kenn­ba­rer jedoch impli­zit – ihr Philosoph!

Kon­zis faßt das theo­lo­gi­sche Lexi­kon Sacra­men­tum Mun­di Kants Reli­gi­ons­schrift zusam­men: »Die Reli­gi­on kann sich nach Kant nur in den Gren­zen der blo­ßen Ver­nunft bewe­gen: Sie ist nichts ande­res als Sitt­lich­keit. Das all­ge­mein­gül­ti­ge Aprio­ri der geof­fen­bar­ten Reli­gi­on ist der mora­li­sche Ver­nunft­glau­be, zu dem jene nur eine pro­pä­deu­ti­sche Prä­am­bel ist. Nicht eine gött­li­che Offen­ba­rung, son­dern der sitt­li­che Impe­ra­tiv ist in uns das Wort Got­tes. Die Fra­ge nach dem Wesen des Chris­ten­tums wird zur Fra­ge nach sei­ner geschichts­lo­sen, rein mensch­li­chen Idee, nach einem Chris­ten­tum ohne Jesus und Kir­che, ohne Heilsgeschichte.«

Im Ori­gi­nal liest sich das so: »Der rei­ne Reli­gi­ons­glau­be ist zwar der, wel­cher allein eine all­ge­mei­ne Kir­che grün­den kann; weil er ein blo­ßer Ver­nunft­glau­be ist, der sich jeder­mann zur Über­zeu­gung mit­tei­len läßt; indes­sen daß ein bloß auf Fac­ta gegrün­de­ter his­to­ri­scher Glau­be sei­nen Ein­fluß nicht wei­ter aus­brei­ten kann, als so weit die Nach­rich­ten, in Bezie­hung auf das Ver­mö­gen, ihre Glaub­wür­dig­keit zu beur­tei­len, nach Zeit- und Orts­um­stän­den hin­ge­lan­gen können.«

Die wah­re Kir­che, die Kant immer­hin aner­ken­nen will, erfor­dert zu ihrer Errich­tung, die noch nicht gesche­hen sei (!), »das Prin­zip der Frei­heit, sowohl das inne­re Ver­hält­nis ihrer Glie­der unter­ein­an­der, als auch das äuße­re der Kir­che zur poli­ti­schen Macht, bei­des in einem Frei­staat (also weder Hier­ar­chie, noch Illu­mi­na­tism, eine Art von Demo­kra­tie, durch beson­de­re Ein­ge­bun­gen, die, nach jedes sei­nem Kop­fe, von and­rer ihrer ver­schie­den sein können).«

Noch ein drit­tes Stück, dann dürf­te dem Leser klar sein, wes Geis­tes Kind der gro­ße Königs­ber­ger ist: »Das Leit­band der hei­li­gen Über­lie­fe­rung mit sei­nen Anhäng­seln, den Sta­tu­ten und Obser­van­zen, wel­ches zu sei­ner Zeit gute Diens­te tat, wird nach und nach ent­behr­lich, ja end­lich zur Fes­sel, wenn er in das Jüng­lings­al­ter ein­tritt. Solan­ge er (die Men­schen­gat­tung) ›ein Kind war, war er klug wie ein Kind‹ und wuß­te mit Sat­zun­gen, die ihm ohne sein Zutun auf­er­legt wor­den, auch wohl Gelehr­sam­keit, auch eine der Kir­che dienst­ba­re Phi­lo­so­phie zu ver­bin­den; ›nun er aber ein Mann wird, leg­te er ab, was kin­disch ist‹. Der ernied­ri­gen­de Unter­schied zwi­schen Lai­en und Kle­ri­kern hört auf, und Gleich­heit ent­springt aus der wah­ren Frei­heit, jedoch ohne Anar­chie, weil ein jeder zwar dem Gesetz gehorcht, das er sich selbst vor­schreibt, das er aber auch zugleich als den ihm durch die Ver­nunft geof­fen­bar­ten Wil­len anse­hen muß, der alle unter einer gemein­schaft­li­chen Regie­rung unsicht­ba­rer­wei­se in einem Staa­te ver­bin­det, wel­cher durch die sicht­ba­re Kir­che vor­her dürf­tig vor­ge­stellt und vor­be­rei­tet war.«

Die Stel­le, auf die Kant hier anspielt, fin­det sich im ers­ten Pau­lus­brief an die Korin­ther (1 Kor 13,11) und geht über in die Wor­te: »Noch ist mein Erken­nen nur Stück­werk; doch der­einst wer­de ich erken­nen, wie auch ich ganz erkannt ward«. Sie bezieht sich also ex ana­lo­gia scrip­turae nicht auf die phy­lo­ge­ne­ti­sche Mensch­heits­ent­wick­lung oder den kul­tu­rel­len Fort­schritt beim Able­gen wider­ver­nünf­ti­ger, kin­di­scher Abhän­gig­kei­ten. Viel­mehr sagt der Apos­tel: In die­sem Leben erken­nen wir die himm­li­schen Din­ge nicht unmit­tel­bar, erst in der himm­li­schen Herr­lich­keit haben wir eine unmit­tel­ba­re Anschau­ung und Erkenntnis.

Kant ver­legt die Erkennt­nis aus der Ideen­welt in die Sin­nen­welt, macht aus einem tran­szen­den­ta­len Gegen­stand einen nur empi­risch erfaß­ba­ren. Nur der Mensch in der Geschich­te gewinnt durch Auf­klä­rung, also Fort­schrei­ten in der Anwen­dung der prak­ti­schen Ver­nunft, über­haupt Erkennt­nis. Das wah­re Wesen der Welt, das »Ding an sich«, kön­nen wir nie­mals erklä­ren, die Welt des Scheins ist unse­re Welt. Daher ver­wirft er die Theo­lo­gie als »Zau­ber­la­ter­ne der Hirn­ge­spins­te« eben­so wie die dog­ma­ti­sche Meta­phy­sik, die über die Erfah­rung hin­aus­lan­gen muß.

Nur die prak­ti­sche Ver­nunft beein­flus­se den Wil­len und stel­le Pos­tu­la­te (erkennt­nis­not­wen­di­ge For­de­run­gen) auf, die der Mensch aus Ver­nunft­grün­den aner­ken­nen müs­se, lehrt uns Kant. Die Grund­la­ge der Sitt­lich­keit sei die sitt­li­che Auto­no­mie des Men­schen; das Gewis­sen, das Pflicht­ge­fühl und die Ach­tung vor dem Sit­ten­ge­setz führ­ten zum mora­li­schen Ver­hal­ten. Kants »Kate­go­ri­scher Impe­ra­tiv« ist gera­de des­halb in der Moder­ne so unge­heu­er wirk­mäch­tig gewor­den, weil er das mora­li­sche Han­deln des Men­schen von Gott trennt. Statt des­sen lie­fert die­se For­mel eine Begrün­dung, die jeder­zeit von jedem Men­schen ein­ge­se­hen wer­den kann, indem er sich abs­trakt an die Stel­le jedes denk­ba­ren ande­ren Men­schen setzt.

His­to­ri­sche Bin­dun­gen (die Hegel spä­ter die »Sitt­lich­keit der Sit­te« nen­nen wird), empi­ri­sche Erfah­run­gen, mora­li­sche Gefüh­le, Gewohn­heit, Erzie­hung und der »mora­li­sche Schein« im gesell­schaft­li­chen Ver­kehr kön­nen genau­so­we­nig wie die Reli­gi­on her­hal­ten als über­zeu­gen­de Grün­de, war­um der ein­zel­ne Mensch mora­lisch han­deln soll. Er kann aus sich selbst her­aus gut sein, wenn er nur erkennt, daß er not­wen­di­ger­wei­se aus Pflicht han­deln muß. Not­wen­di­ger­wei­se heißt hier: aus mit Hil­fe des Ver­stan­des ein­ge­se­he­ner »Ach­tung für das Gesetz«, womit Kant das »mora­li­sche Gesetz in mir« meint, das er am Schluß sei­ner Kri­tik der prak­ti­schen Ver­nunft (1788) apo­stro­phiert: »Zwei Din­ge erfül­len das Gemüt mit immer neu­er und zuneh­men­den Bewun­de­rung und Ehr­furcht, je öfter und anhal­ten­der sich das Nach­den­ken damit beschäf­tigt: Der bestirn­te Him­mel über mir, und das mora­li­sche Gesetz in mir. Bei­de darf ich nicht als in Dun­kel­hei­ten ver­hüllt, oder im Über­schweng­li­chen, außer mei­nem Gesichts­krei­se, suchen und bloß ver­mu­ten; ich sehe sie vor mir und ver­knüp­fe sie unmit­tel­bar mit dem Bewußt­sein mei­ner Exis­tenz. Das ers­te fängt von dem Plat­ze an, den ich in der äußern Sin­nen­welt ein­neh­me, und erwei­tert die Ver­knüp­fung, dar­in ich ste­he, ins unab­seh­lich-Gro­ße mit Wel­ten über Wel­ten und Sys­te­men von Sys­te­men, über­dem noch in gren­zen­lo­se Zei­ten ihrer peri­odi­schen Bewe­gung, deren Anfang und Fort­dau­er. Das zwei­te fängt von mei­nem unsicht­ba­ren Selbst, mei­ner Per­sön­lich­keit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wah­re Unend­lich­keit hat, aber nur dem Ver­stan­de spür­bar ist, und mit wel­cher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sicht­ba­ren Wel­ten) ich mich nicht, wie dort, in bloß zufäl­li­ger, son­dern all­ge­mei­ner und not­wen­di­ger Ver­knüp­fung erkenne.«

Kant ist der »Alles­zer­mal­mer« genannt wor­den, weil er den Ratio­na­lis­mus und die Meta­phy­sik, die tra­di­tio­nel­len Got­tes­be­wei­se sowie die pla­to­ni­sche und scho­las­ti­sche Onto­lo­gie (die Leh­re vom objek­ti­ven Seins­grund) ver­wor­fen hat zuguns­ten des mensch­li­chen Subjekts.

Damit wirk­te er nicht nur emi­nent auf den Deut­schen Idea­lis­mus, auf die rechts­po­si­ti­vis­ti­sche Schu­le des Neu­kan­ti­a­nis­mus, auf das Hegel­sche und nach­he­ge­lia­ni­sche Geschichts­den­ken und die Ästhe­tik, son­dern vor allem auf die libe­ra­le Staats­phi­lo­so­phie des 19. Jahr­hun­derts (Mar­bur­ger Schu­le) und den libe­ra­len Katho­li­zis­mus. Doch sei­ne Wir­kung bahnt sich auch noch ande­re Wege: Kant ist nach deren Eigen­aus­sa­ge auch »der bedeu­tends­te Phi­lo­soph für die Frei­mau­re­rei«. Die Auto­no­mie des Sit­ten­ge­set­zes kön­ne, so Otto Hei­ni­chen, »als Grund­ge­dan­ke aller Grund­ge­dan­ken der Frei­mau­re­rei bezeich­net wer­den«. »In der Johan­nis­lo­ge wer­den die drei ›Gro­ßen Gedan­ken‹, Kants For­de­run­gen der prak­ti­schen Ver­nunft, Gott – Frei­heit – Unsterb­lich­keit, dargestellt.«

Das Stre­ben der Völ­ker nach der Frei­heit »hat ihr unzer­stör­ba­res Prin­zip in dem ers­ten und grund­le­gen­den Gesetz, kraft des­sen die Mensch­heit sich schritt­wei­se von den Ban­den der Kind­heit los­zu­ma­chen trach­tet, je nach­dem, wie die Völ­ker mit der Befrei­ung der Intel­li­genz durch das wach­sen­de und sich ent­wi­ckeln­de Chris­ten­tum sozu­sa­gen das Man­nes­al­ter errei­chen«, schrieb der Pries­ter und Ordens­grün­der Féli­ci­té de Lamen­nais (1782 – 1854) in sei­nem Werk Essai sur l’indifférence en matiè­re de reli­gi­on. Lamen­nais bezog sich dar­in vor allem auf Vol­taire und Rous­se­au und ver­such­te, den Katho­li­zis­mus mit libe­ra­lem und pro­gres­si­vem Gedan­ken­gut der Auf­klä­rung zu ver­knüp­fen, sein Grund­riß einer Phi­lo­so­phie (1841)  bezieht sich bis in die Begriff­lich­keit hin­ein auf Kant. Es näh­me mich nicht wun­der, wenn sei­ne oben wie­der­ge­ge­be­ne Fort­schritts­me­ta­pher aus der Reli­gi­ons­schrift des deut­schen Auf­klä­rers stammte.

Lamen­nais’ Indif­fe­ren­tis­mus als Spiel­art des auf­kom­men­den Libe­ra­lis­mus wur­de von Papst Gre­gor XVI. als Irr­leh­re ver­ur­teilt. Im päpst­li­chen Rund­schrei­ben Mira­ri vos (1832) for­mu­liert er gegen ihn: »Aus der Quel­le die­ser ver­derb­li­chen Gleich­gül­tig­keit fließt jene törich­te und irri­ge Mei­nung – oder noch bes­ser jener Wahn­sinn, es sol­le für jeden die Frei­heit des Gewis­sens ver­kün­det und erkämpft wer­den. […] Aber welch schlim­me­ren Tod kann es für ›die See­le geben als die Frei­heit des Irr­tums?‹, so sag­te Augus­ti­nus. Denn wenn der Zügel zer­bro­chen ist, mit dem die Men­schen auf den Pfa­den der Wahr­heit gehal­ten wer­den, dann stürzt ihre ohne­hin zum Bösen geneig­te Natur rasend schnell in den Abgrund, und wir sehen wahr­haf­tig den Höl­len­pfuhl offen, aus dem Johan­nes (Apk 9,3) den Rauch auf­stei­gen sah […]. Staats­we­sen, die in Reich­tum, Macht und Ruhm blüh­ten, fie­len durch die­ses eine Übel erbärm­lich zusam­men, näm­lich durch die zügel­lo­se Mei­nungs­frei­heit, Rede­frei­heit, Neuerungssucht.«

Hier haben wir den ver­zwei­fel­ten tra­di­ti­ons­kon­ser­va­ti­ven Ver­such, das Ein­drin­gen des Kan­ti­schen Ratio­na­lis­mus, Pro­gres­sis­mus und Fide­is­mus in das Chris­ten­tum rück­wir­kend zu ver­hin­dern. Wenn Meinungs‑, Rede- und Reli­gi­ons­frei­heit einem Gemein­we­sen ein­ge­schrie­ben wer­den, erhält das indi­vi­du­el­le Gewis­sen nicht etwa die ihm gebüh­ren­de Frei­heit, son­dern es wird frei­ge­las­sen, um halt­los in den Abgrund des Bösen zu stür­zen und das Staats­we­sen am Ende mitzureißen.

Imma­nu­el Kants For­de­rung nach Auf­klä­rung als »Aus­gang des Men­schen aus der selbst­ver­schul­de­ten Unmün­dig­keit. Unmün­dig­keit ist das Unver­mö­gen, sich sei­nes Ver­stan­des ohne Lei­tung eines ande­ren zu bedie­nen«, klingt in den Ohren eines Libe­ral­kon­ser­va­ti­ven wie Schil­lers »Ode an die Freu­de«, die des kon­ser­va­ti­ven Tra­di­tio­na­lis­ten ver­neh­men dar­un­ter ein lei­ses Zischen aus dem Höllenpfuhl.

Denn letz­te­rem däm­mert, daß die Wir­kungs­ge­schich­te Kants nicht nur zu Pop­pers, Haber­mas’ und Rawls’ staats­theo­re­ti­schem Links­li­be­ra­lis­mus und zur glo­ba­lis­ti­schen Men­schen­rechts­ideo­lo­gie erheb­lich bei­getra­ten hat, son­dern daß auch dem Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zil in den 1960er Jah­ren die »Ver­söh­nung mit den Prin­zi­pi­en von 1789« erst über den Trans­mis­si­ons­rie­men der Kan­ti­schen Phi­lo­so­phie gelin­gen konn­te. »Blo­ßer Ver­nunft­glau­be«, »eine Art von Demo­kra­tie« in der Kir­che (»der ernied­ri­gen­de Unter­schied zwi­schen Lai­en und Kle­ri­kern hört auf«), die His­to­ri­sie­rung des über­kom­me­nen »Leit­ban­des der hei­li­gen Über­lie­fe­rung mit sei­nen Anhäng­seln, den Sta­tu­ten und Obser­van­zen« – die Ele­men­te las­sen sich Stück für Stück in den Kon­zils­do­ku­men­ten wiederfinden.

Unter der Über­schrift »Mehr Kant wagen« steht auf der Netz­prä­senz der libe­ral­kon­ser­va­ti­ven Zeit­schrift Cice­ro geschrie­ben: »Der Libe­ra­lis­mus, der es in Deutsch­land immer schwer hat­te, kann und soll­te sich ver­stärkt auf Deutsch­lands größ­ten Phi­lo­so­phen beru­fen; – auf Imma­nu­el Kant. Von ihm läßt sich ler­nen, daß eine libe­ra­le poli­ti­sche Theo­rie ohne Got­tes­be­zug aus­kom­men kann, den Glau­ben an Gott aber auch nicht aus­schlie­ßen muß.«

Der Libe­ral­kon­ser­va­ti­ve sieht nicht, daß die ver­nünf­ti­ge Tole­ranz des Glau­bens an Gott eben­die­sen Glau­ben an Gott per­for­ma­tiv zer­stört. In den zuge­spitz­ten Wor­ten Papst Leos XIII.: »Unter dem ver­füh­re­ri­schen Namen der Kult­frei­heit pro­kla­mie­ren sie die lega­le Apo­sta­sie der Gesell­schaft.« Ich zweif­le, ob Kant die­se Kon­se­quenz sei­ner Phi­lo­so­phie gut­ge­hei­ßen hät­te. Ich unmün­di­ges Indi­vi­du­um hei­ße sie nicht gut, bin aber außer­stan­de, sie kraft mei­nes »Ver­stan­des ohne Lei­tung eines ande­ren« aufzuhalten.

Caroline Sommerfeld

Caroline Sommerfeld ist promovierte Philosophin und dreifache Mutter.

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