An Kant scheiden sich die Liberalkonservativen von den Traditionskonservativen. Dabei hat sich wohl kein Publizist vom Schlage eines Michael Klonovsky, Norbert Bolz oder Manfred Kleine-Hartlage durch Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft gearbeitet oder überhaupt mit dessen Schriften eingehend beschäftigt, und falls doch, versteht er sich jedenfalls nicht als Kantianer.
Wer als Konservativer für »westliche Werte« und das »Menschenrecht« auf Religionsfreiheit, Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Gedankenfreiheit und sexuelle Freiheit, wer für Demokratie und für bürgerliche Mündigkeit eintritt, tut dies, weil er auf den Schultern der Riesen der Aufklärung steht. Immanuel Kant, der vor 300 Jahren geboren wurde, ist nicht nur im deutschen Denk- und Sprachraum mit Abstand der einflußreichste aufklärerische Philosoph gewesen, sondern neben Jean-Jacques Rousseau auch derjenige, dessen Philosophie zum Nährboden des Bildungs‑, Rechts- und politischen Systems Europas wurde.
Die »Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte« der französischen Nationalversammlung vom 26. August 1789 dokumentiert mit dem Recht auf »Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung« (wobei die Freiheit darin bestehe, »das zu tun, was einem anderen nicht schadet«) Gedanken, die Kant in Was ist Aufklärung? (1786), in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) und in der »Rechtslehre« der Metaphysik der Sitten (1797) ausgeführt hat.
Liberalkonservative verteidigen die genannten »Werte« zum einen gegen den »Totalitarismus« (worunter auch der politische Islam subsumiert wird), zum anderen gegen jede Bevormundung des Individuums durch freiheitsberaubende Eingriffe in dessen Eigentum, Körper oder Denken. Anders als Linksliberale wollen sie traditionelle Werte wie Familie, Schöpfung, Eigentum, Heimat, Recht und Gesetz keinesfalls überwinden, da sie den Menschen mit Kant für »aus krummem Holze geschnitzt«, also nicht von Natur aus gut halten, weshalb er der gesellschaftlichen Ordnung bedarf.
Zur Religion in Gestalt des abendländischen Christentums haben Liberalkonservative ein gespaltenes Verhältnis: Insofern sie Kulturchristen sind, wollen sie die Religion nicht missen als Klammer des sozialen Zusammenhalts und als Quelle der europäischen Hochkultur in Musik, Malerei, Architektur und Literatur und einer nunmehr säkularisierten Ethik. Doch der christliche Glaube als Orthopraxie (also gottesfürchtige Lebensführung) und Orthodoxie (also Autorität der Kirche und ihrer Lehre) ist für sie genauso wie bezüglich des Islam unvereinbar mit den individuellen Freiheitsrechten als Ausdruck der Vernunft des Menschen.
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft dient zunächst als Ausgangspunkt zur Einführung in die Grundzüge des Kantischen Denkens. Von ihr ausgehend, läßt sich die Wirkung Kants auf die Liberalkonservativen andeuten. Um es noch einmal zu betonen: Kant ist – selten explizit, nur das berühmte »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen« wird oft zitiert, um so unverkennbarer jedoch implizit – ihr Philosoph!
Konzis faßt das theologische Lexikon Sacramentum Mundi Kants Religionsschrift zusammen: »Die Religion kann sich nach Kant nur in den Grenzen der bloßen Vernunft bewegen: Sie ist nichts anderes als Sittlichkeit. Das allgemeingültige Apriori der geoffenbarten Religion ist der moralische Vernunftglaube, zu dem jene nur eine propädeutische Präambel ist. Nicht eine göttliche Offenbarung, sondern der sittliche Imperativ ist in uns das Wort Gottes. Die Frage nach dem Wesen des Christentums wird zur Frage nach seiner geschichtslosen, rein menschlichen Idee, nach einem Christentum ohne Jesus und Kirche, ohne Heilsgeschichte.«
Im Original liest sich das so: »Der reine Religionsglaube ist zwar der, welcher allein eine allgemeine Kirche gründen kann; weil er ein bloßer Vernunftglaube ist, der sich jedermann zur Überzeugung mitteilen läßt; indessen daß ein bloß auf Facta gegründeter historischer Glaube seinen Einfluß nicht weiter ausbreiten kann, als so weit die Nachrichten, in Beziehung auf das Vermögen, ihre Glaubwürdigkeit zu beurteilen, nach Zeit- und Ortsumständen hingelangen können.«
Die wahre Kirche, die Kant immerhin anerkennen will, erfordert zu ihrer Errichtung, die noch nicht geschehen sei (!), »das Prinzip der Freiheit, sowohl das innere Verhältnis ihrer Glieder untereinander, als auch das äußere der Kirche zur politischen Macht, beides in einem Freistaat (also weder Hierarchie, noch Illuminatism, eine Art von Demokratie, durch besondere Eingebungen, die, nach jedes seinem Kopfe, von andrer ihrer verschieden sein können).«
Noch ein drittes Stück, dann dürfte dem Leser klar sein, wes Geistes Kind der große Königsberger ist: »Das Leitband der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen, welches zu seiner Zeit gute Dienste tat, wird nach und nach entbehrlich, ja endlich zur Fessel, wenn er in das Jünglingsalter eintritt. Solange er (die Menschengattung) ›ein Kind war, war er klug wie ein Kind‹ und wußte mit Satzungen, die ihm ohne sein Zutun auferlegt worden, auch wohl Gelehrsamkeit, auch eine der Kirche dienstbare Philosophie zu verbinden; ›nun er aber ein Mann wird, legte er ab, was kindisch ist‹. Der erniedrigende Unterschied zwischen Laien und Klerikern hört auf, und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein jeder zwar dem Gesetz gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber auch zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen ansehen muß, der alle unter einer gemeinschaftlichen Regierung unsichtbarerweise in einem Staate verbindet, welcher durch die sichtbare Kirche vorher dürftig vorgestellt und vorbereitet war.«
Die Stelle, auf die Kant hier anspielt, findet sich im ersten Paulusbrief an die Korinther (1 Kor 13,11) und geht über in die Worte: »Noch ist mein Erkennen nur Stückwerk; doch dereinst werde ich erkennen, wie auch ich ganz erkannt ward«. Sie bezieht sich also ex analogia scripturae nicht auf die phylogenetische Menschheitsentwicklung oder den kulturellen Fortschritt beim Ablegen widervernünftiger, kindischer Abhängigkeiten. Vielmehr sagt der Apostel: In diesem Leben erkennen wir die himmlischen Dinge nicht unmittelbar, erst in der himmlischen Herrlichkeit haben wir eine unmittelbare Anschauung und Erkenntnis.
Kant verlegt die Erkenntnis aus der Ideenwelt in die Sinnenwelt, macht aus einem transzendentalen Gegenstand einen nur empirisch erfaßbaren. Nur der Mensch in der Geschichte gewinnt durch Aufklärung, also Fortschreiten in der Anwendung der praktischen Vernunft, überhaupt Erkenntnis. Das wahre Wesen der Welt, das »Ding an sich«, können wir niemals erklären, die Welt des Scheins ist unsere Welt. Daher verwirft er die Theologie als »Zauberlaterne der Hirngespinste« ebenso wie die dogmatische Metaphysik, die über die Erfahrung hinauslangen muß.
Nur die praktische Vernunft beeinflusse den Willen und stelle Postulate (erkenntnisnotwendige Forderungen) auf, die der Mensch aus Vernunftgründen anerkennen müsse, lehrt uns Kant. Die Grundlage der Sittlichkeit sei die sittliche Autonomie des Menschen; das Gewissen, das Pflichtgefühl und die Achtung vor dem Sittengesetz führten zum moralischen Verhalten. Kants »Kategorischer Imperativ« ist gerade deshalb in der Moderne so ungeheuer wirkmächtig geworden, weil er das moralische Handeln des Menschen von Gott trennt. Statt dessen liefert diese Formel eine Begründung, die jederzeit von jedem Menschen eingesehen werden kann, indem er sich abstrakt an die Stelle jedes denkbaren anderen Menschen setzt.
Historische Bindungen (die Hegel später die »Sittlichkeit der Sitte« nennen wird), empirische Erfahrungen, moralische Gefühle, Gewohnheit, Erziehung und der »moralische Schein« im gesellschaftlichen Verkehr können genausowenig wie die Religion herhalten als überzeugende Gründe, warum der einzelne Mensch moralisch handeln soll. Er kann aus sich selbst heraus gut sein, wenn er nur erkennt, daß er notwendigerweise aus Pflicht handeln muß. Notwendigerweise heißt hier: aus mit Hilfe des Verstandes eingesehener »Achtung für das Gesetz«, womit Kant das »moralische Gesetz in mir« meint, das er am Schluß seiner Kritik der praktischen Vernunft (1788) apostrophiert: »Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen, außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erste fängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sinnenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung, darin ich stehe, ins unabsehlich-Große mit Welten über Welten und Systemen von Systemen, überdem noch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängt von meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlichkeit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahre Unendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbar ist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mit allen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht, wie dort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und notwendiger Verknüpfung erkenne.«
Kant ist der »Alleszermalmer« genannt worden, weil er den Rationalismus und die Metaphysik, die traditionellen Gottesbeweise sowie die platonische und scholastische Ontologie (die Lehre vom objektiven Seinsgrund) verworfen hat zugunsten des menschlichen Subjekts.
Damit wirkte er nicht nur eminent auf den Deutschen Idealismus, auf die rechtspositivistische Schule des Neukantianismus, auf das Hegelsche und nachhegelianische Geschichtsdenken und die Ästhetik, sondern vor allem auf die liberale Staatsphilosophie des 19. Jahrhunderts (Marburger Schule) und den liberalen Katholizismus. Doch seine Wirkung bahnt sich auch noch andere Wege: Kant ist nach deren Eigenaussage auch »der bedeutendste Philosoph für die Freimaurerei«. Die Autonomie des Sittengesetzes könne, so Otto Heinichen, »als Grundgedanke aller Grundgedanken der Freimaurerei bezeichnet werden«. »In der Johannisloge werden die drei ›Großen Gedanken‹, Kants Forderungen der praktischen Vernunft, Gott – Freiheit – Unsterblichkeit, dargestellt.«
Das Streben der Völker nach der Freiheit »hat ihr unzerstörbares Prinzip in dem ersten und grundlegenden Gesetz, kraft dessen die Menschheit sich schrittweise von den Banden der Kindheit loszumachen trachtet, je nachdem, wie die Völker mit der Befreiung der Intelligenz durch das wachsende und sich entwickelnde Christentum sozusagen das Mannesalter erreichen«, schrieb der Priester und Ordensgründer Félicité de Lamennais (1782 – 1854) in seinem Werk Essai sur l’indifférence en matière de religion. Lamennais bezog sich darin vor allem auf Voltaire und Rousseau und versuchte, den Katholizismus mit liberalem und progressivem Gedankengut der Aufklärung zu verknüpfen, sein Grundriß einer Philosophie (1841) bezieht sich bis in die Begrifflichkeit hinein auf Kant. Es nähme mich nicht wunder, wenn seine oben wiedergegebene Fortschrittsmetapher aus der Religionsschrift des deutschen Aufklärers stammte.
Lamennais’ Indifferentismus als Spielart des aufkommenden Liberalismus wurde von Papst Gregor XVI. als Irrlehre verurteilt. Im päpstlichen Rundschreiben Mirari vos (1832) formuliert er gegen ihn: »Aus der Quelle dieser verderblichen Gleichgültigkeit fließt jene törichte und irrige Meinung – oder noch besser jener Wahnsinn, es solle für jeden die Freiheit des Gewissens verkündet und erkämpft werden. […] Aber welch schlimmeren Tod kann es für ›die Seele geben als die Freiheit des Irrtums?‹, so sagte Augustinus. Denn wenn der Zügel zerbrochen ist, mit dem die Menschen auf den Pfaden der Wahrheit gehalten werden, dann stürzt ihre ohnehin zum Bösen geneigte Natur rasend schnell in den Abgrund, und wir sehen wahrhaftig den Höllenpfuhl offen, aus dem Johannes (Apk 9,3) den Rauch aufsteigen sah […]. Staatswesen, die in Reichtum, Macht und Ruhm blühten, fielen durch dieses eine Übel erbärmlich zusammen, nämlich durch die zügellose Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Neuerungssucht.«
Hier haben wir den verzweifelten traditionskonservativen Versuch, das Eindringen des Kantischen Rationalismus, Progressismus und Fideismus in das Christentum rückwirkend zu verhindern. Wenn Meinungs‑, Rede- und Religionsfreiheit einem Gemeinwesen eingeschrieben werden, erhält das individuelle Gewissen nicht etwa die ihm gebührende Freiheit, sondern es wird freigelassen, um haltlos in den Abgrund des Bösen zu stürzen und das Staatswesen am Ende mitzureißen.
Immanuel Kants Forderung nach Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen«, klingt in den Ohren eines Liberalkonservativen wie Schillers »Ode an die Freude«, die des konservativen Traditionalisten vernehmen darunter ein leises Zischen aus dem Höllenpfuhl.
Denn letzterem dämmert, daß die Wirkungsgeschichte Kants nicht nur zu Poppers, Habermas’ und Rawls’ staatstheoretischem Linksliberalismus und zur globalistischen Menschenrechtsideologie erheblich beigetraten hat, sondern daß auch dem Zweiten Vatikanischen Konzil in den 1960er Jahren die »Versöhnung mit den Prinzipien von 1789« erst über den Transmissionsriemen der Kantischen Philosophie gelingen konnte. »Bloßer Vernunftglaube«, »eine Art von Demokratie« in der Kirche (»der erniedrigende Unterschied zwischen Laien und Klerikern hört auf«), die Historisierung des überkommenen »Leitbandes der heiligen Überlieferung mit seinen Anhängseln, den Statuten und Observanzen« – die Elemente lassen sich Stück für Stück in den Konzilsdokumenten wiederfinden.
Unter der Überschrift »Mehr Kant wagen« steht auf der Netzpräsenz der liberalkonservativen Zeitschrift Cicero geschrieben: »Der Liberalismus, der es in Deutschland immer schwer hatte, kann und sollte sich verstärkt auf Deutschlands größten Philosophen berufen; – auf Immanuel Kant. Von ihm läßt sich lernen, daß eine liberale politische Theorie ohne Gottesbezug auskommen kann, den Glauben an Gott aber auch nicht ausschließen muß.«
Der Liberalkonservative sieht nicht, daß die vernünftige Toleranz des Glaubens an Gott ebendiesen Glauben an Gott performativ zerstört. In den zugespitzten Worten Papst Leos XIII.: »Unter dem verführerischen Namen der Kultfreiheit proklamieren sie die legale Apostasie der Gesellschaft.« Ich zweifle, ob Kant diese Konsequenz seiner Philosophie gutgeheißen hätte. Ich unmündiges Individuum heiße sie nicht gut, bin aber außerstande, sie kraft meines »Verstandes ohne Leitung eines anderen« aufzuhalten.