Die Schuld und der Stolz

PDF der Druckfassung aus Sezession 119/ April 2024

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Eine »Umwer­tung aller Wer­te« setzt die Rela­ti­vi­tät von Wer­ten vor­aus. Wären sie abso­lut gül­tig, lie­ßen sie sich nicht ent- oder aufwerten.

Sie wären dann außer­dem kei­ne Wer­te: Denn dem Wert ist der Ver­gleich, das Bewer­ten bereits durch die Bezeich­nung mit­ge­ge­ben. Es ist daher selbst­ver­ständ­lich, daß etwas wie die »Nati­on« zu ver­schie­de­nen Zei­ten unter­schied­li­che Wert­schät­zun­gen erfah­ren hat. Nietz­sche hat mit der Ent­deckung die­ses Mecha­nis­mus den Schlüs­sel zu den Welt­an­schau­ungs­kämp­fen des 20. Jahr­hun­derts gelie­fert, in denen Wer­te wie Ras­se und Klas­se gegen Geld und Gleich­heit ange­tre­ten waren. Er selbst tat die Wer­te nicht ab, son­dern schätz­te die anti­ken, die aris­to­kra­ti­schen Wer­te, die er vom Nihi­lis­mus bedrängt und ent­wer­tet sah.

Auch wenn sich in der Erkennt­nis der Rela­ti­vi­tät der Wer­te die Schwä­che einer Kul­tur offen­bart, denn immer­hin ist ihr die unhin­ter­frag­ba­re Selbst­ver­ständ­lich­keit abhan­den gekom­men, han­delt es sich, wenn man Nietz­sche folgt, den­noch nicht um ein rei­nes Deka­denz­phä­no­men. Denn aus der Rela­ti­vi­tät folgt, daß der Wett­kampf um die Wer­te eröff­net ist: Jeder wird ver­su­chen, die sei­nen mög­lichst mäch­tig zur Gel­tung kom­men zu lassen.

Die wich­tigs­te Metho­de ist, die eige­nen Wer­te in einem unhin­ter­frag­ba­ren Licht erschei­nen zu las­sen, indem man ihnen eine schon lan­ge wäh­ren­de Gül­tig­keit zuschreibt. Dazu braucht es die Geschichts­schrei­bung. Sie dien­te schon zu allen Zei­ten dazu, eine bestimm­te Sicht auf die Gegen­wart oder eine dies­be­züg­li­che Agen­da zu rechtfertigen.

Der Angriff auf die Herr­schaft der alten wei­ßen Män­ner, die durch eine diver­se Gesell­schaft des any­thing goes ersetzt wer­den soll, macht da kei­ne Aus­nah­me. Beson­ders eif­rig war in die­ser Hin­sicht in den letz­ten Jah­ren der bri­ti­sche Archäo­lo­ge David Wen­grow. Sein Grund­ge­dan­ke: Wenn man durch eth­no­lo­gi­sche und archäo­lo­gi­sche Befun­de zei­gen kann, daß der Staat dem Wesen des Men­schen zuwi­der­läuft, fällt es leich­ter, ihn in der Gegen­wart zu zer­stö­ren. Er wie­der­holt damit das Vor­ge­hen der Auf­klä­rer vor der Fran­zö­si­schen Revolution.

Vor die­sem Hin­ter­grund ist klar, wozu ein Buch wie Der Wes­ten. Die neue Geschich­te einer alten Idee geschrie­ben wur­de. Es geht um die Umwer­tung der »alten Idee« des Wes­tens. Tat­säch­lich macht die Autorin, die Archäo­lo­gin Naoí­se Mac Sweeney, aus ihrer Absicht kei­nen Hehl.

Ihre The­se ist erwart­bar schlicht: Der »Wes­ten« sei ein Mythos zur Recht­fer­ti­gung von Impe­ria­lis­mus und Ras­sis­mus. Und: Die­ser Mythos wider­spre­che den heu­ti­gen west­li­chen Wer­ten wie Gleich­heit, Men­schen­rech­te, Libe­ra­lis­mus und Tole­ranz. Die Autorin kann sich also nicht damit zufrie­den­ge­ben, daß bereits eine Umwer­tung der Wer­te statt­ge­fun­den hat, und sie will nicht akzep­tie­ren, daß frü­her ande­re Wer­te gal­ten. Sie will zei­gen, daß der Wes­ten eigent­lich schon immer die woken Din­ge glaub­te und daß nur ein paar Dun­kel­män­ner dafür sorg­ten, sie in Ver­ges­sen­heit gera­ten zu las­sen. Sweeney will die woke Ideo­lo­gie legi­ti­mie­ren, indem sie deren lan­ge Exis­tenz nach­weist, und sie will damit gleich­zei­tig die »Iden­ti­täts­kri­se« des Wes­tens heilen.

Unter »Wes­ten« ver­steht Sweeney den bri­ti­schen und anglo­ame­ri­ka­ni­schen Bereich, alles ande­re fin­det kei­ne Berück­sich­ti­gung. »Der Ursprungs­my­thos des Wes­tens stellt des­sen Geschich­te so dar, daß er die atlan­ti­sche Moder­ne bruch­los über die euro­päi­sche Auf­klä­rung, den lich­ten Glanz der Renais­sance und die Fins­ter­nis des Mit­tel­al­ters auf ihren Ursprung in der klas­si­schen Welt Roms und Grie­chen­lands zurück­führt.« Die­se Erzäh­lung sei falsch, weil sie auf einer poli­ti­schen Agen­da beru­he und daher Ereig­nis­se und Per­so­nen selek­tiv aus­ge­wählt habe. Sie will die­se Geschich­te umschrei­ben – natür­lich nicht, indem sie die Geschich­te ver­fälscht, son­dern »Tat­sa­chen berück­sich­tigt, die aus der kon­ven­tio­nel­len Erzäh­lung« stets ver­bannt wor­den seien.

Mit erfri­schen­der Offen­heit gibt Sweeney zu, daß sie die Geschich­te im Sin­ne ihrer Agen­da umschrei­ben wol­le, weil sie der Mei­nung ist, daß die­se bes­ser zu den »Grund­sät­zen des moder­nen Wes­tens« pas­se. In vier­zehn Kapi­teln behan­delt sie mehr oder weni­ger bekann­te Gestal­ten der Welt­ge­schich­te, die sie in ein neu­es Licht rückt. Das Spek­trum reicht von Hero­dot, aus dem sie einen Ideo­lo­gen des bun­ten Mit­ein­an­ders macht, über die Bos­to­ner Skla­vin Phil­lis Wheat­ley, die Ende des 18. Jahr­hun­derts in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten mit eini­gen Gedich­ten für Auf­se­hen sorg­te, bis zum Lite­ra­tur­kri­ti­ker und Begrün­der der Post­co­lo­ni­al Stu­dies, Edward Said, ihrem eigent­li­chen Gewährs­mann, in des­sen Fuß­stap­fen sie offen­sicht­lich tre­ten möch­te. Said hat­te schon in den 1970er Jah­ren damit begon­nen, die Erzäh­lung der west­li­chen Zivi­li­sa­ti­on zu dekon­stru­ie­ren, sie dabei aber immer noch als unge­bro­che­ne kul­tu­rel­le Genea­lo­gie akzep­tiert. Mit ande­ren Wor­ten: Es genügt der Autorin nicht, eine Gegen­er­zäh­lung zu pla­zie­ren, die alte Erzäh­lung muß auch zer­stört werden.

Die­se gan­ze Neu­er­zäh­lung des Wes­tens ist von zwei Vor­aus­set­zun­gen abhän­gig. Ers­tens muß Iden­ti­tät ein Kon­strukt sein, das man dekon­stru­ie­ren und neu kon­stru­ie­ren kann. Und zwei­tens muß die alte Iden­ti­tät mora­lisch dis­qua­li­fi­ziert wer­den, um dem West­ler kei­ne Mög­lich­keit zu las­sen, sich gegen die neue Erzäh­lung zu ent­schei­den. Das wird mit der Behaup­tung der his­to­ri­schen Schuld des Wes­tens, die er durch Ras­sis­mus und Impe­ria­lis­mus auf sich gela­den habe, versucht.

Schuld setzt vor­aus, daß die Frei­heit bestand, sich anders zu ent­schei­den: Man muß also wil­lent­lich falsch abge­bo­gen sein. Und natür­lich muß die­se Schuld eine Norm­ver­let­zung ent­hal­ten. Mit ande­ren Wor­ten: Die Ver­gan­gen­heit hat gegen Nor­men ver­sto­ßen, die von der Autorin heu­te als ver­bind­lich ange­se­hen wer­den, in der Ver­gan­gen­heit aber schon ver­bor­gen exis­tier­ten. Dies ist eine gänz­lich ande­re Auf­fas­sung von Geschich­te als die bis­lang übli­che. Danach schrei­ben die Sie­ger die Geschich­te, die eine Abfol­ge von Erfol­gen und Mißer­fol­gen ist und nicht von Schuld und Unschuld. Es stellt sich die Fra­ge, auf wel­chem Fun­da­ment die Idee ruht, daß es so etwas wie eine kol­lek­ti­ve his­to­ri­sche Schuld geben kön­ne, die man im Zwei­fel wie­der­gut­ma­chen müsse.

Daß ein­zel­ne schuld­haft agie­ren, indem sie Geset­ze über­tre­ten oder gegen die Inten­ti­on ihrer Gemein­schaft han­deln, ist noch leicht ein­seh­bar. Daß Kol­lek­ti­ve schul­dig wer­den kön­nen, ist schon schwe­rer zu begrün­den, und man muß dazu vom juris­ti­schen Begriff der Schuld abse­hen und zu einem poli­ti­schen gelan­gen. Das geschah im Zuge von Demo­kra­ti­sie­rung und Mas­sen­ge­sell­schaft, in der zuneh­mend alle Per­so­nen, zunächst Män­ner, an der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung betei­ligt waren. Napo­le­on konn­te man noch als Allein­ver­ant­wort­li­chen ins Exil schi­cken, und die fran­zö­si­sche Nati­on konn­te an der Nach­kriegs­ord­nung mit­wir­ken. Im ame­ri­ka­ni­schen Bür­ger­krieg ging das nicht mehr, hier ver­schmol­zen Gesell­schaft und Heer zu einer Kriegs­par­tei, die ent­spre­chend kol­lek­tiv haf­ten mußte.

Die »Wen­dung zum dis­kri­mi­nie­ren­den Kriegs­be­griff« ver­än­der­te die Kon­stel­la­ti­on auch in Euro­pa. Denn wenn ein Krieg mora­lisch zum Kampf Gut gegen Böse auf­ge­la­den wird, stellt sich die Schuld­fra­ge. Dem­entspre­chend wur­de an Deutsch­land nach dem Ers­ten Welt­krieg ein Exem­pel sta­tu­iert. Deutsch­land wur­de für alle Ver­lus­te und Schä­den ver­ant­wort­lich gemacht, weil die Schuld am Krieg an Deutsch­land fest­ge­macht wur­de und die Sie­ger in der Lage waren, den Ver­lie­rer zur Akzep­tanz die­ses Vor­wurfs zu zwingen.

Aller­dings wur­de der Schuld­vor­wurf von den Deut­schen damals nicht akzep­tiert. Die Schein­hei­lig­keit des Vor­wurfs und die mora­li­sche Über­heb­lich­keit der Sie­ger waren zu offen­sicht­lich, das Ver­trau­en in die ehe­ma­li­ge Füh­rung noch intakt. Die Revi­si­on des Ver­sailler Dik­tats war die geschichts­po­li­ti­sche For­de­rung, auf die sich über die Lager hin­weg alle eini­gen konn­ten. Das führ­te schließ­lich zu einer Regie­rung, die sich die­ser Revi­si­on am ent­schie­dens­ten ver­schrie­ben hat­te und deren hohe Zustim­mungs­wer­te durch die prak­ti­sche Umset­zung der Revi­si­on zu erklä­ren sind.

Nach 1945 über­lie­ßen die Alli­ier­ten die Deut­schen nicht noch ein­mal sich selbst, son­dern sorg­ten dafür, daß die Schuld zu einem Iden­ti­täts­merk­mal der Deut­schen wur­de. Armin Moh­ler hat die­sen Pro­zeß unter­sucht und dabei drei Pha­sen unter­schie­den. Die ers­te Pha­se bestand unmit­tel­bar nach der bedin­gungs­lo­sen Kapi­tu­la­ti­on in den Kriegs­ver­bre­cher­pro­zes­sen, der Ent­na­zi­fi­zie­rung und der begin­nen­den Umer­zie­hung. Die zwei­te Pha­se begann nach Moh­ler mit der Ver­kün­di­gung der Tru­man-Dok­trin im März 1947, nach der die Ein­däm­mung des sowje­ti­schen Ein­flus­ses Ziel aller Poli­tik sein soll­te. Für die Deut­schen bedeu­te­te das eine Inte­gra­ti­on in die west­alliierten Struk­tu­ren und ein Nach­las­sen der Vergangenheitsbewältigung.

Es ist sicher kein Zufall, daß weni­ge Woche vor der Ver­kün­di­gung der Tru­man-Dok­trin durch die Alli­ier­ten die Auf­lö­sung Preu­ßens bekannt­ge­ge­ben wur­de. Damit war ein his­to­risch Schul­di­ger am Zwei­ten Welt­krieg nam­haft gemacht wor­den, was der zukünf­ti­gen Bun­des­re­pu­blik als Gegen­ent­wurf zu Preu­ßen den Weg nach Wes­ten erleich­ter­te. In der SBZ hat­ten die Sowjets von Anfang an dar­auf gesetzt, eini­ge Schul­di­ge zu iden­ti­fi­zie­ren, akti­ve NS-Kader, Kapi­ta­lis­ten und Jun­ker, die man ver­trieb oder bestraf­te, um so das Rest­volk von Schuld­kom­ple­xen frei­zu­hal­ten. In der DDR hielt man bis zum Schluß an der Legen­de fest, daß die »Nazis« im West­teil des Lan­des sit­zen wür­den. Dort begann seit den 1960er Jah­ren die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung in ihre drit­te Pha­se über­zu­ge­hen. Moh­ler legt den Beginn auf das Jahr 1959, als sich die Super­mäch­te annä­her­ten und in Deutsch­land die ers­ten Haken­kreuz­schmie­re­rei­en auf­tauch­ten. Die­se dien­ten als Beleg dafür, daß die Umer­zie­hung noch längst nicht abge­schlos­sen war, was den Auf­stand der Söh­ne gegen die Väter im Rah­men der 1968er-Revol­te erklärt.

Bis zur Wie­der­ver­ei­ni­gung gab es nun alle Jah­re einen mehr oder weni­ger gro­ßen His­to­ri­ker­streit, der sich in der Regel um die Fra­ge dreh­te, ob die Deut­schen allein schuld an den Ereig­nis­sen des Ers­ten und des Zwei­ten Welt­kriegs waren oder ob es einen poli­ti­schen Kon­text gab, der sie ent­las­te­te. In der Regel stan­den sich dabei zwei Frak­tio­nen gegen­über. Auf der einen Sei­te His­to­ri­ker, die sich um quel­len­mä­ßig beleg­ba­re Befun­de bemüh­ten, und auf der ande­ren Sei­te Intel­lek­tu­el­le, die die­se For­schungs­er­geb­nis­se aus geschichts­po­li­ti­schen Grün­den für schäd­lich hiel­ten und des­halb öffent­lich skandalisierten.

Im Ergeb­nis hat­te sich die Mehr­heit der Deut­schen in den 1980er Jah­ren einer »frei­wil­li­gen Schuld­haft« unter­wor­fen. Als durch die deut­sche Wie­der­ver­ei­ni­gung die deut­sche Tei­lung als Stra­fe für die Schuld am Zwei­ten Welt­krieg abge­gol­ten war, wur­de »Ausch­witz« zum Grün­dungs­fun­da­ment der Bun­des­re­pu­blik erklärt und in der Fol­ge ent­spre­chend sakra­li­siert. Damit wur­de eine Fra­ge beant­wor­tet, die Moh­ler schon Ende der 1980er Jah­re gestellt hat­te: Wie kann man über­haupt ohne Stolz leben? Oder: Woher soll der Stolz kom­men, wenn die Ver­gan­gen­heit ein Hort des Bösen ist?

Die Lösung liegt nahe: Die Schuld selbst muß zur Ant­wort auf die Sinn­fra­ge wer­den, ohne die eine Gesell­schaft nicht exis­tie­ren kann. Die­se Übung gelingt um so leich­ter, je grö­ßer und außer­ge­wöhn­li­cher die Schuld ist, je mehr sie sich von ande­ren his­to­ri­schen Schuld­kom­ple­xen unter­schei­det. Die Behaup­tung der Sin­gu­la­ri­tät der Ver­bre­chen und die der Kol­lek­tiv­schuld der Deut­schen haben in die­sem Sin­ne eine neue Aus­er­wählt­heit der Deut­schen begrün­det, eine nega­ti­ve zwar, aber eine, die sie von allen ande­ren unterscheidet.

Die Vor­tei­le die­ses Schuld­stol­zes lie­gen auf der Hand. Er bie­tet ein Gemein­schafts­po­ten­ti­al für ein Kol­lek­tiv, das zwar von außen als Täter­na­ti­on gese­hen wird, sich selbst aber nicht mit die­sem Täter­sein iden­ti­fi­zie­ren muß. Er bie­tet einen neu­en sozia­len Mythos, der dem Kol­lek­tiv den nöti­gen Schwung ver­leiht, poli­tisch zu han­deln. Und er stat­tet das Kol­lek­tiv mit einer über­le­ge­nen Moral aus: Wer sich ernied­rigt, will erhöht wer­den (und er wird erhöht). Poli­tisch wird so eine neue Hand­lungs­frei­heit gewon­nen, weil sich mit der mora­li­schen Begrün­dung von Poli­tik fast jede Hand­lung recht­fer­ti­gen läßt.

Mit die­ser Hal­tung konn­te Deutsch­land zum Vor­bild in der west­li­chen Welt wer­den. Die Nei­gung, sich für ver­gan­ge­ne Taten schul­dig zu füh­len und bei den Opfern um Ver­zei­hung zu bit­ten, ist mitt­ler­wei­le zu einem welt­wei­ten Phä­no­men gewor­den. Das kor­re­liert mit einem Phä­no­men, das die Vor­aus­set­zun­gen für eine nahe­zu welt­wei­te Akzep­tanz die­ses Vor­ge­hens geschaf­fen hat: Der Wes­ten besteht aus post­he­roi­schen Gesell­schaf­ten, die ihre Sinn­stif­tung nicht mehr über die Erin­ne­rung an die Hel­den erfah­ren, die für ihre Nati­on star­ben, son­dern die­se Moral der Ver­gan­gen­heit als falsch und über­wun­den ableh­nen. Hel­den­tum und natio­na­ler Opfer­mut haben kei­ne Vor­bild­wir­kung mehr, der Staat ver­kommt zur Versorgungsanstalt.

Lan­ge Jah­re sah es so aus, als wür­de der Holo­caust zur welt­weit ein­zi­gen Schuld­re­li­gi­on wer­den, der sich alle west­li­chen Län­der unter­wer­fen wür­den. Die­se Ten­denz ist nicht mehr ganz so ein­deu­tig aus­zu­ma­chen. Zum einen hat der Holo­caust Kon­kur­renz aus der Drit­ten Welt bekom­men. Die Opfer des Kolo­nia­lis­mus sind nicht geneigt, zu akzep­tie­ren, daß die Lei­den ihrer Vor­fah­ren weni­ger schwer wie­gen sol­len als die der Juden. Sie leh­nen an ers­ter Stel­le die Sin­gu­la­ri­tät ab, eta­blie­ren dadurch nicht nur neue Leid­kol­lek­ti­ve, son­dern wei­ten auch die Zahl der schul­di­gen Natio­nen aus. Ver­glei­che wer­den dadurch nor­mal, die Bunt­heit for­dert auch hier Diver­si­tät. Zum ande­ren ste­hen post­he­roi­sche Gesell­schaf­ten in Kon­kur­renz zu heroi­schen Gesell­schaf­ten. Dabei ist nicht nur, wie noch vor zwan­zig Jah­ren, der Isla­mis­mus zu nen­nen, son­dern auch Chi­na und Ruß­land tre­ten auf den Plan und sind nicht geneigt, sich dem west­li­chen Schuld­kult zu unter­wer­fen. Daß sie allei­ne dadurch für die Oppo­si­ti­on im Wes­ten zu einem attrak­ti­ven Gesell­schafts­mo­dell wer­den, ist ein wich­ti­ger Aspekt.

Ein Buch wie das ein­gangs behan­del­te von Mac Sweeny sieht die­se Gefahr durch­aus, wenn sie Chi­na ein Geschichts­mo­dell zum Vor­wurf macht, das von neben­ein­an­der exis­tie­ren­den Kul­tu­ren aus­geht, die sich nicht ver­mi­schen. Hier wird die Mög­lich­keit, sich dem west­li­chen Diver­si­ty-Kult zu ent­zie­hen, als Gefahr für die welt­wei­te Durch­set­zung die­ser Ideo­lo­gie gese­hen. Dem­entspre­chend erfolgt die Fein­mar­kie­rung: »Für man­che ist die­se Plu­ra­li­tät der Iden­ti­tä­ten ein Pro­blem […]. Aber für eine neue Gene­ra­ti­on kann die­se Plu­ra­li­tät auch eine Quel­le der Stär­ke und des Stol­zes sein.«

Für Nietz­sches The­se der Umwer­tung aller Wer­te bie­tet die Gegen­wart genü­gend Bele­ge. In der Umwer­tung der Schuld von etwas, das einen viel­leicht demü­tig macht, zu etwas, auf das man stolz ist, liegt auch der Beleg dafür, daß der »Wil­le zur Macht« vor nichts halt­macht. Wer das Bekennt­nis zur Schuld nur für eine Schwä­che hält, unter­schätzt die­sen Mecha­nis­mus. Die Zer­stö­rung der Ver­gan­gen­heit soll die letz­te Mög­lich­keit der his­to­ri­schen Rück­ver­si­che­rung abschneiden.

Was offen bleibt, ist die Fra­ge, wie weit die­se Ideo­lo­ge­me in einer Welt tra­gen, in der sie nicht allein exis­tie­ren und kei­nes­falls Kon­sens sind. Im Sin­ne des »Wil­lens zur Macht« bleibt nur der Weg, für die welt­wei­te Gel­tung die­ser Wer­te zu sorgen.

 

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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