Eine »Umwertung aller Werte« setzt die Relativität von Werten voraus. Wären sie absolut gültig, ließen sie sich nicht ent- oder aufwerten.
Sie wären dann außerdem keine Werte: Denn dem Wert ist der Vergleich, das Bewerten bereits durch die Bezeichnung mitgegeben. Es ist daher selbstverständlich, daß etwas wie die »Nation« zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Wertschätzungen erfahren hat. Nietzsche hat mit der Entdeckung dieses Mechanismus den Schlüssel zu den Weltanschauungskämpfen des 20. Jahrhunderts geliefert, in denen Werte wie Rasse und Klasse gegen Geld und Gleichheit angetreten waren. Er selbst tat die Werte nicht ab, sondern schätzte die antiken, die aristokratischen Werte, die er vom Nihilismus bedrängt und entwertet sah.
Auch wenn sich in der Erkenntnis der Relativität der Werte die Schwäche einer Kultur offenbart, denn immerhin ist ihr die unhinterfragbare Selbstverständlichkeit abhanden gekommen, handelt es sich, wenn man Nietzsche folgt, dennoch nicht um ein reines Dekadenzphänomen. Denn aus der Relativität folgt, daß der Wettkampf um die Werte eröffnet ist: Jeder wird versuchen, die seinen möglichst mächtig zur Geltung kommen zu lassen.
Die wichtigste Methode ist, die eigenen Werte in einem unhinterfragbaren Licht erscheinen zu lassen, indem man ihnen eine schon lange währende Gültigkeit zuschreibt. Dazu braucht es die Geschichtsschreibung. Sie diente schon zu allen Zeiten dazu, eine bestimmte Sicht auf die Gegenwart oder eine diesbezügliche Agenda zu rechtfertigen.
Der Angriff auf die Herrschaft der alten weißen Männer, die durch eine diverse Gesellschaft des anything goes ersetzt werden soll, macht da keine Ausnahme. Besonders eifrig war in dieser Hinsicht in den letzten Jahren der britische Archäologe David Wengrow. Sein Grundgedanke: Wenn man durch ethnologische und archäologische Befunde zeigen kann, daß der Staat dem Wesen des Menschen zuwiderläuft, fällt es leichter, ihn in der Gegenwart zu zerstören. Er wiederholt damit das Vorgehen der Aufklärer vor der Französischen Revolution.
Vor diesem Hintergrund ist klar, wozu ein Buch wie Der Westen. Die neue Geschichte einer alten Idee geschrieben wurde. Es geht um die Umwertung der »alten Idee« des Westens. Tatsächlich macht die Autorin, die Archäologin Naoíse Mac Sweeney, aus ihrer Absicht keinen Hehl.
Ihre These ist erwartbar schlicht: Der »Westen« sei ein Mythos zur Rechtfertigung von Imperialismus und Rassismus. Und: Dieser Mythos widerspreche den heutigen westlichen Werten wie Gleichheit, Menschenrechte, Liberalismus und Toleranz. Die Autorin kann sich also nicht damit zufriedengeben, daß bereits eine Umwertung der Werte stattgefunden hat, und sie will nicht akzeptieren, daß früher andere Werte galten. Sie will zeigen, daß der Westen eigentlich schon immer die woken Dinge glaubte und daß nur ein paar Dunkelmänner dafür sorgten, sie in Vergessenheit geraten zu lassen. Sweeney will die woke Ideologie legitimieren, indem sie deren lange Existenz nachweist, und sie will damit gleichzeitig die »Identitätskrise« des Westens heilen.
Unter »Westen« versteht Sweeney den britischen und angloamerikanischen Bereich, alles andere findet keine Berücksichtigung. »Der Ursprungsmythos des Westens stellt dessen Geschichte so dar, daß er die atlantische Moderne bruchlos über die europäische Aufklärung, den lichten Glanz der Renaissance und die Finsternis des Mittelalters auf ihren Ursprung in der klassischen Welt Roms und Griechenlands zurückführt.« Diese Erzählung sei falsch, weil sie auf einer politischen Agenda beruhe und daher Ereignisse und Personen selektiv ausgewählt habe. Sie will diese Geschichte umschreiben – natürlich nicht, indem sie die Geschichte verfälscht, sondern »Tatsachen berücksichtigt, die aus der konventionellen Erzählung« stets verbannt worden seien.
Mit erfrischender Offenheit gibt Sweeney zu, daß sie die Geschichte im Sinne ihrer Agenda umschreiben wolle, weil sie der Meinung ist, daß diese besser zu den »Grundsätzen des modernen Westens« passe. In vierzehn Kapiteln behandelt sie mehr oder weniger bekannte Gestalten der Weltgeschichte, die sie in ein neues Licht rückt. Das Spektrum reicht von Herodot, aus dem sie einen Ideologen des bunten Miteinanders macht, über die Bostoner Sklavin Phillis Wheatley, die Ende des 18. Jahrhunderts in den Vereinigten Staaten mit einigen Gedichten für Aufsehen sorgte, bis zum Literaturkritiker und Begründer der Postcolonial Studies, Edward Said, ihrem eigentlichen Gewährsmann, in dessen Fußstapfen sie offensichtlich treten möchte. Said hatte schon in den 1970er Jahren damit begonnen, die Erzählung der westlichen Zivilisation zu dekonstruieren, sie dabei aber immer noch als ungebrochene kulturelle Genealogie akzeptiert. Mit anderen Worten: Es genügt der Autorin nicht, eine Gegenerzählung zu plazieren, die alte Erzählung muß auch zerstört werden.
Diese ganze Neuerzählung des Westens ist von zwei Voraussetzungen abhängig. Erstens muß Identität ein Konstrukt sein, das man dekonstruieren und neu konstruieren kann. Und zweitens muß die alte Identität moralisch disqualifiziert werden, um dem Westler keine Möglichkeit zu lassen, sich gegen die neue Erzählung zu entscheiden. Das wird mit der Behauptung der historischen Schuld des Westens, die er durch Rassismus und Imperialismus auf sich geladen habe, versucht.
Schuld setzt voraus, daß die Freiheit bestand, sich anders zu entscheiden: Man muß also willentlich falsch abgebogen sein. Und natürlich muß diese Schuld eine Normverletzung enthalten. Mit anderen Worten: Die Vergangenheit hat gegen Normen verstoßen, die von der Autorin heute als verbindlich angesehen werden, in der Vergangenheit aber schon verborgen existierten. Dies ist eine gänzlich andere Auffassung von Geschichte als die bislang übliche. Danach schreiben die Sieger die Geschichte, die eine Abfolge von Erfolgen und Mißerfolgen ist und nicht von Schuld und Unschuld. Es stellt sich die Frage, auf welchem Fundament die Idee ruht, daß es so etwas wie eine kollektive historische Schuld geben könne, die man im Zweifel wiedergutmachen müsse.
Daß einzelne schuldhaft agieren, indem sie Gesetze übertreten oder gegen die Intention ihrer Gemeinschaft handeln, ist noch leicht einsehbar. Daß Kollektive schuldig werden können, ist schon schwerer zu begründen, und man muß dazu vom juristischen Begriff der Schuld absehen und zu einem politischen gelangen. Das geschah im Zuge von Demokratisierung und Massengesellschaft, in der zunehmend alle Personen, zunächst Männer, an der politischen Willensbildung beteiligt waren. Napoleon konnte man noch als Alleinverantwortlichen ins Exil schicken, und die französische Nation konnte an der Nachkriegsordnung mitwirken. Im amerikanischen Bürgerkrieg ging das nicht mehr, hier verschmolzen Gesellschaft und Heer zu einer Kriegspartei, die entsprechend kollektiv haften mußte.
Die »Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff« veränderte die Konstellation auch in Europa. Denn wenn ein Krieg moralisch zum Kampf Gut gegen Böse aufgeladen wird, stellt sich die Schuldfrage. Dementsprechend wurde an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ein Exempel statuiert. Deutschland wurde für alle Verluste und Schäden verantwortlich gemacht, weil die Schuld am Krieg an Deutschland festgemacht wurde und die Sieger in der Lage waren, den Verlierer zur Akzeptanz dieses Vorwurfs zu zwingen.
Allerdings wurde der Schuldvorwurf von den Deutschen damals nicht akzeptiert. Die Scheinheiligkeit des Vorwurfs und die moralische Überheblichkeit der Sieger waren zu offensichtlich, das Vertrauen in die ehemalige Führung noch intakt. Die Revision des Versailler Diktats war die geschichtspolitische Forderung, auf die sich über die Lager hinweg alle einigen konnten. Das führte schließlich zu einer Regierung, die sich dieser Revision am entschiedensten verschrieben hatte und deren hohe Zustimmungswerte durch die praktische Umsetzung der Revision zu erklären sind.
Nach 1945 überließen die Alliierten die Deutschen nicht noch einmal sich selbst, sondern sorgten dafür, daß die Schuld zu einem Identitätsmerkmal der Deutschen wurde. Armin Mohler hat diesen Prozeß untersucht und dabei drei Phasen unterschieden. Die erste Phase bestand unmittelbar nach der bedingungslosen Kapitulation in den Kriegsverbrecherprozessen, der Entnazifizierung und der beginnenden Umerziehung. Die zweite Phase begann nach Mohler mit der Verkündigung der Truman-Doktrin im März 1947, nach der die Eindämmung des sowjetischen Einflusses Ziel aller Politik sein sollte. Für die Deutschen bedeutete das eine Integration in die westalliierten Strukturen und ein Nachlassen der Vergangenheitsbewältigung.
Es ist sicher kein Zufall, daß wenige Woche vor der Verkündigung der Truman-Doktrin durch die Alliierten die Auflösung Preußens bekanntgegeben wurde. Damit war ein historisch Schuldiger am Zweiten Weltkrieg namhaft gemacht worden, was der zukünftigen Bundesrepublik als Gegenentwurf zu Preußen den Weg nach Westen erleichterte. In der SBZ hatten die Sowjets von Anfang an darauf gesetzt, einige Schuldige zu identifizieren, aktive NS-Kader, Kapitalisten und Junker, die man vertrieb oder bestrafte, um so das Restvolk von Schuldkomplexen freizuhalten. In der DDR hielt man bis zum Schluß an der Legende fest, daß die »Nazis« im Westteil des Landes sitzen würden. Dort begann seit den 1960er Jahren die Vergangenheitsbewältigung in ihre dritte Phase überzugehen. Mohler legt den Beginn auf das Jahr 1959, als sich die Supermächte annäherten und in Deutschland die ersten Hakenkreuzschmierereien auftauchten. Diese dienten als Beleg dafür, daß die Umerziehung noch längst nicht abgeschlossen war, was den Aufstand der Söhne gegen die Väter im Rahmen der 1968er-Revolte erklärt.
Bis zur Wiedervereinigung gab es nun alle Jahre einen mehr oder weniger großen Historikerstreit, der sich in der Regel um die Frage drehte, ob die Deutschen allein schuld an den Ereignissen des Ersten und des Zweiten Weltkriegs waren oder ob es einen politischen Kontext gab, der sie entlastete. In der Regel standen sich dabei zwei Fraktionen gegenüber. Auf der einen Seite Historiker, die sich um quellenmäßig belegbare Befunde bemühten, und auf der anderen Seite Intellektuelle, die diese Forschungsergebnisse aus geschichtspolitischen Gründen für schädlich hielten und deshalb öffentlich skandalisierten.
Im Ergebnis hatte sich die Mehrheit der Deutschen in den 1980er Jahren einer »freiwilligen Schuldhaft« unterworfen. Als durch die deutsche Wiedervereinigung die deutsche Teilung als Strafe für die Schuld am Zweiten Weltkrieg abgegolten war, wurde »Auschwitz« zum Gründungsfundament der Bundesrepublik erklärt und in der Folge entsprechend sakralisiert. Damit wurde eine Frage beantwortet, die Mohler schon Ende der 1980er Jahre gestellt hatte: Wie kann man überhaupt ohne Stolz leben? Oder: Woher soll der Stolz kommen, wenn die Vergangenheit ein Hort des Bösen ist?
Die Lösung liegt nahe: Die Schuld selbst muß zur Antwort auf die Sinnfrage werden, ohne die eine Gesellschaft nicht existieren kann. Diese Übung gelingt um so leichter, je größer und außergewöhnlicher die Schuld ist, je mehr sie sich von anderen historischen Schuldkomplexen unterscheidet. Die Behauptung der Singularität der Verbrechen und die der Kollektivschuld der Deutschen haben in diesem Sinne eine neue Auserwähltheit der Deutschen begründet, eine negative zwar, aber eine, die sie von allen anderen unterscheidet.
Die Vorteile dieses Schuldstolzes liegen auf der Hand. Er bietet ein Gemeinschaftspotential für ein Kollektiv, das zwar von außen als Täternation gesehen wird, sich selbst aber nicht mit diesem Tätersein identifizieren muß. Er bietet einen neuen sozialen Mythos, der dem Kollektiv den nötigen Schwung verleiht, politisch zu handeln. Und er stattet das Kollektiv mit einer überlegenen Moral aus: Wer sich erniedrigt, will erhöht werden (und er wird erhöht). Politisch wird so eine neue Handlungsfreiheit gewonnen, weil sich mit der moralischen Begründung von Politik fast jede Handlung rechtfertigen läßt.
Mit dieser Haltung konnte Deutschland zum Vorbild in der westlichen Welt werden. Die Neigung, sich für vergangene Taten schuldig zu fühlen und bei den Opfern um Verzeihung zu bitten, ist mittlerweile zu einem weltweiten Phänomen geworden. Das korreliert mit einem Phänomen, das die Voraussetzungen für eine nahezu weltweite Akzeptanz dieses Vorgehens geschaffen hat: Der Westen besteht aus postheroischen Gesellschaften, die ihre Sinnstiftung nicht mehr über die Erinnerung an die Helden erfahren, die für ihre Nation starben, sondern diese Moral der Vergangenheit als falsch und überwunden ablehnen. Heldentum und nationaler Opfermut haben keine Vorbildwirkung mehr, der Staat verkommt zur Versorgungsanstalt.
Lange Jahre sah es so aus, als würde der Holocaust zur weltweit einzigen Schuldreligion werden, der sich alle westlichen Länder unterwerfen würden. Diese Tendenz ist nicht mehr ganz so eindeutig auszumachen. Zum einen hat der Holocaust Konkurrenz aus der Dritten Welt bekommen. Die Opfer des Kolonialismus sind nicht geneigt, zu akzeptieren, daß die Leiden ihrer Vorfahren weniger schwer wiegen sollen als die der Juden. Sie lehnen an erster Stelle die Singularität ab, etablieren dadurch nicht nur neue Leidkollektive, sondern weiten auch die Zahl der schuldigen Nationen aus. Vergleiche werden dadurch normal, die Buntheit fordert auch hier Diversität. Zum anderen stehen postheroische Gesellschaften in Konkurrenz zu heroischen Gesellschaften. Dabei ist nicht nur, wie noch vor zwanzig Jahren, der Islamismus zu nennen, sondern auch China und Rußland treten auf den Plan und sind nicht geneigt, sich dem westlichen Schuldkult zu unterwerfen. Daß sie alleine dadurch für die Opposition im Westen zu einem attraktiven Gesellschaftsmodell werden, ist ein wichtiger Aspekt.
Ein Buch wie das eingangs behandelte von Mac Sweeny sieht diese Gefahr durchaus, wenn sie China ein Geschichtsmodell zum Vorwurf macht, das von nebeneinander existierenden Kulturen ausgeht, die sich nicht vermischen. Hier wird die Möglichkeit, sich dem westlichen Diversity-Kult zu entziehen, als Gefahr für die weltweite Durchsetzung dieser Ideologie gesehen. Dementsprechend erfolgt die Feinmarkierung: »Für manche ist diese Pluralität der Identitäten ein Problem […]. Aber für eine neue Generation kann diese Pluralität auch eine Quelle der Stärke und des Stolzes sein.«
Für Nietzsches These der Umwertung aller Werte bietet die Gegenwart genügend Belege. In der Umwertung der Schuld von etwas, das einen vielleicht demütig macht, zu etwas, auf das man stolz ist, liegt auch der Beleg dafür, daß der »Wille zur Macht« vor nichts haltmacht. Wer das Bekenntnis zur Schuld nur für eine Schwäche hält, unterschätzt diesen Mechanismus. Die Zerstörung der Vergangenheit soll die letzte Möglichkeit der historischen Rückversicherung abschneiden.
Was offen bleibt, ist die Frage, wie weit diese Ideologeme in einer Welt tragen, in der sie nicht allein existieren und keinesfalls Konsens sind. Im Sinne des »Willens zur Macht« bleibt nur der Weg, für die weltweite Geltung dieser Werte zu sorgen.