Im Dezember 2023 hat die Republik Südafrika den Staat Israel des »Völkermords« an den Palästinensern bezichtigt und beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag eine Klage eingereicht.
Zum erstenmal seit 1945 wurden diejenigen, die sonst ausschließlich als Opfer bekannt sind, zu Tätern erklärt. Nun liegen die Wurzeln des Palästina-Konflikts im Altertum, und es ist nicht unerheblich, einmal aufzuzeigen, wie die Erzfeindschaft zwischen den Juden und fast der gesamten antiken Welt in der deutschen Geschichtswissenschaft während des 18. /19. Jahrhunderts, des Entstehungszeitraums des postreligiösen Antijudaismus, rezipiert worden ist. Denn dort findet sich der Schlüssel zum Verständnis des ältesten Antagonismus der eurasischen Kulturgeschichte.
In vielen neueren Monographien zu den biblischen Altertümern bleibt die Frage, wie und warum die Juden zum meistgehaßten Volk der Weltgeschichte wurden, unerörtert. Man scheut sich neuerdings sogar zu erwähnen, daß ein solcher Haß fast aller antiken Völker auf die Juden tatsächlich bestanden hat. So wird in dem Standardwerk Einleitung in das Alte Testament von Erich Zenger (1) unter anderem alles Problematische – namentlich die biblisch legitimierte Landnahme der Juden durch Ausrottung ihrer Feinde – stillschweigend übergangen und die Genese des Judentums wie die einer ganz »normalen« antiken Nation erzählt.
Das war im 18. /19. Jahrhundert noch anders. Ein Blick in die entsprechende Literatur gibt einigen Aufschluß über die damalige Wahrnehmung des Verhaltens und des Schicksals der Juden im Altertum, die ihre bis heute gültige Sonderstellung begründeten und das Bild der Juden in Europa für zwei Jahrtausende prägen sollten. »Haß gegen alle Nichtjuden, gegenseitige Verachtung, Mißhandlungen, Verfolgungen, gewaltsame Bekehrungen, haben auf den allgemeinen Charakter der Nation den nachtheiligsten Einfluß gehabt.« (2)
Lange Zeit hatte unter den Theologen und Historikern des Abendlandes eine gewisse Voreingenommenheit gegenüber dem »Volk Gottes« geherrscht, die teilweise so weit ging, daß man sich religiös verpflichtet fühlte, den in der Bibel überlieferten Genozid der Israeliten an den Kanaanitern (Kanaan entspricht dem heutigen Palästina) zu rechtfertigen. Weil sich die Juden von ihren Feinden bedroht sahen, so der Autor eines verbreiteten Handbuchs der Völkergeschichte von 1798, »war den Israeliten nicht die Bezwingung, sondern die Ausrottung der Kananiter geboten.« Denn es stand zu befürchten, »die Kananiter möchten das Volk zu ihren abscheulichen Lastern und zur Abgötterey verführen. [Welches Volk würde ein andres, das mit unheilbarer ansteckender Krankheit behaftet wäre, in seinem Lande dulden? und wenn es nicht in der Güte fortzöge, wer würde es nicht todtschlagen?]« (3)
Man befand sich in einem Zwiespalt: Einerseits soll Jesus gesagt haben, »das Heil kommt von den Juden« (Joh 4,22), andererseits verkündete der Apostel Paulus in seinem Brief an die Thessalonicher (I, 2,15 f.), Gott habe die Juden verstoßen, und sie seien allen Menschen feind. In der lateinischen Übersetzung (Vulgata): »[…] et Deo non placent, et omnibus hominibus adversantur«. Luther verdeutscht: »[…] und gefallen Gott nicht und sind allen Menschen zuwider«.
Erst allmählich, als im Zuge der Aufklärung und der Nationalbewegungen im 18. /19. Jahrhundert ein Bewußtsein für das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« aufkam, weil eben nicht alles, wie es ist, »gottgewollt« sei, wurde man sich auch der Problematik der jüdischen Geschichte bewußt. Es begannen die Erforschung und die Kritik »des für uns merkwürdigsten Volkes der Erde«. (4)
Schon in den Weltgeschichtsschreibungen des späten 18. Jahrhunderts war zu lesen gewesen: »Palästinens Urvölker, die Gaviter, Choriter, Refäer und Enaker, wurden zuerst durch die Philister, Cananiter, Moabiter, Ammoniter und Edomiter theils vertrieben, theils in die Gebirge und Berghöhlen verdrängt, theils vertilgt: dann rückten die Israeliten ein, und vertilgten oder vertrieben den Rest der Urwohner und den größten Theil der Cananiter.« (5) Zu Beginn des 19. Jahrhunderts erklärte der große Theologe Wilhelm Martin Leberecht de Wette, die Israeliten hätten bereits im Altertum kein Recht auf Palästina gehabt. (6)
Langsam rückte eines der folgenschwersten weltgeschichtlichen Ereignisse in den Fokus der Forschung, welches bis dahin kaum Beachtung gefunden hatte: nämlich das der beiden großen jüdischen Aufstände von 66 bis 72 und 132 bis 135, die als der Jüdische Krieg in die Geschichte eingegangen sind. Die enorme Bedeutung dieses langwierigen und extrem blutigen Konflikts für die Entstehung und Konsolidierung des Christentums sowie für das Selbstverständnis des Abendlandes ist lange verkannt worden. »Bis zur Zerstörung von Jerusalem verband der Tempeldienst Juden und Christen zu nationaler Einheit.« (7) Denn »erst nachdem Jerusalem als Hauptstadt der Juden für immer untergegangen und die jüdische Nation ausgerottet war, konnte die christliche Kirche kosmopolitisch werden.« (8)
Jene Zerstörung Jerusalems und des Tempels fand im Jahre 70 statt, auf dem Höhepunkt des ersten Jüdischen Krieges, der durch die Willkür des römischen Prokurators von Judäa ausgelöst worden war. »In der römischen Gewaltherrschaft lag zuviel unbarmherzige Logik, als daß ein noch so geduldiges Volk ihren Druck hinnehmen mochte wie ein Schicksal. Jeder echte Jude haßte die Römer […]. Noch einmal stießen Asien und Europa auf einander, semitisches Wesen und griechisch-lateinischer Geist. Ein Vertrag zwischen den Beiden war nicht möglich; einmal mußte es zur Entscheidung durch die Waffen kommen, welche für den schwächern Theil, wenn sie gegen ihn ausfiel, den völligen Untergang bedeutete.« (9) Die Folgen waren drastisch: »[…] alle glieder Israels aber ohne Unterschied wurden nun mit einem schlage der hohn der ganzen welt, während sie noch kurze zeit zuvor diese ganze welt entweder beherrschen oder verachten zu können meinten!« (10)
Über die einzelnen Abläufe dieses ersten Krieges sind wir gut unterrichtet, weil Flavius Josephus (37 – ca. 100), Befehlshaber in Galiläa und einer der Anführer des jüdischen Aufstandes, später detailliert darüber Auskunft gab. »Er war ein eitler, unerfahrener Mann und seiner Aufgabe nicht entfernt gewachsen«. (11) Wegen seines unrühmlichen Verhaltens gleich zu Beginn der Revolte – Josephus hatte sich den Römern nicht nur ergeben, sondern sich ihnen sogar angedient, während fast alle seiner Gefährten in den Tod gegangen waren – galt er bei den Juden als Verräter.
Der zunächst in seiner Muttersprache, dem Aramäischen, verfaßte Bericht über die jüdische Erhebung wurde zwischen 75 und 79, dank einiger Helfer stark erweitert, auf griechisch herausgegeben und dem Kaiser Vespasian persönlich überreicht. Dennoch wäre dieses von den Juden totgeschwiegene siebenbändige Werk womöglich in Vergessenheit geraten und verlorengegangen, wenn christliche Autoren es nicht im 4. Jahrhundert ins Lateinische übersetzt (De bello Judaico oder Bellum Judaicum) und dadurch gerettet hätten.
Erst im Mittelalter war die Literatur des Flavius Josephus wiederentdeckt worden. Seitdem stellt Der Jüdische Krieg die ausführlichste und fast einzige Quelle zu den Ereignissen zwischen 66 und 72 dar. Für Barthold Georg Niebuhr zählte das Werk zu »den interessantesten Geschichtsbüchern« (12), die uns aus dem Altertum erhalten geblieben sind.
»Wenn man dem Historiker Josephus Glauben schenken darf«, so waren im ersten »Jüdischen Kriege 97 000 Juden in römische Gefangenschaft geraten (sie wurden zumeist als Sklaven verkauft, oder man schickte sie in die Bergwerke, andere wurden für die Spiele aufgespart), mehr als eine Million wäre durch Hunger, Seuchen oder das Schwert umgekommen.« (13) Tacitus und Sueton sprechen von 600 000.
Doch schon zuvor hatte es auf beiden Seiten zahlreiche Gemetzel gegeben. »Von Cäsarea aber verbreitete sich der Judenmord, wie eine Epidemie und ähnlich den Judenhetzen des Mittelalters, über alle Städte jener Gegend, wo Juden und Heiden gemischt wohnten, in weitem Umkreise bis nach Alexandrien, Damascus und Antiochien. In Alexandrien ließ der Stadthalter von Aegypten, selbst ein abgefallener Jude, die römischen Legionen gegen sie los, durch deren Schwerter über 50 000 fielen; in Damascus wurden sie in ein Gymnasium eingesperrt und darin über 10 000 getödtet […]. Wir können von diesen Vorgängen nicht hören ohne Indignation über die kalte despotische Willkür und Grausamkeit der Römer und ohne das tiefste Mitleid für die unglücklichen Opfer derselben. Diese Gefühle werden indess, wo nicht aufgehoben, so doch aufgewogen durch die Wildheit und Zügellosigkeit, der wir die Juden immer mehr verfallen sehen und womit sie sich gegenseitig nicht minderes Unheil bereiten, als ihnen von den Römern angethan wird.« (14)
Die zweite große Revolte begann bereits 115 unter Trajan, als Juden in Ägypten und dem heutigen Libyen schreckliche Massaker an Nichtjuden verübten. »In den letzten Regierungsjahren Trajans erhoben sich die Juden, vor allem in der Diaspora, wahrscheinlich aber auch in Palästina, und führten einen Vernichtungskrieg gegen das Heidentum.« (15) Doch zum finalen Schlag kam es erst ab 132 aufgrund des sogenannten Bar-Kochba-Aufstands.
Als Hauptursachen gelten Hadrians Absicht, an der Stelle des zerstörten Tempels ein heidnisches Heiligtum zu errichten, sowie das Beschneidungsverbot, was die Juden gleichermaßen empörte. »Hadrian beschloß, um nicht ein ganzes Volk tödten zu müssen, die Vernichtung seiner Nationalität. Die Sabbathsfeier wurde verboten, die Beschneidung als Verbrechen, wahrscheinlich wie Entmannung bestraft, und auf den Trümmern Jerusalems eine dem Jupiter geweihte Stadt gegründet […]. In dieser letzten Noth rief ein Messias das Volk zu den Waffen (132), Bar Cochba, d. i. Sternensohn genannt […]. Der Messias fiel in der Schlacht. Palästina ward eine Wüste.« (16)
Weil die Quellenlage des zweiten Jüdischen Krieges sehr dürftig ist, mißtraute man den angegebenen Opferzahlen. »Der Aufruhr fieng im J. 115 zu Cyrene in Afrika an, und ergriff bald die Insel Cypern. An beyden Orten sollen sie gegen Römer und Griechen mit einer Unmenschlichkeit gewütet haben, welche man eben so schwer glauben kann, als daß sie in Cyrenaika nicht weniger als 220 000, und auf Cypern 240 000 Menschen ihrer Rachgier geopfert hätten.« (17) Auch »in Machärus und Jericho wurden die römischen Besatzungen verjagt und umgebracht. Überall im ganzen Lande entbrannte die Heidenhetze, wo die Juden die Mehrheit hatten, und die Judenhetze, wo das Verhältnis umgekehrt war. In Cäsarea wurden die sämtlichen jüdischen Einwohner abgeschlachtet.« (18)
Trajan ließ den Aufstand durch ein römisches Aufgebot von »nicht weniger als sechs Legionen, 20 Kohorten« (19) sowie den Kontingenten orientalischer Vasallenfürsten niederschlagen »und vergalt den Juden alles verübte Böse in reichem Maaße. Es ist wahrscheinlich, daß er auch auf der Insel Cypern die Ruhe wieder hergestellt habe. Hier wurden die Juden ganz ausgerottet: und wie Dio versichert, durfte kein Jude dieß Land nur betreten. Selbst wenn ihn der Sturm dahin verschlagen hatte, ward er ohne Barmherzigkeit getödet. Auch Mesopotamien sollte von den Juden, mit denen es seit Jahrhunderten war angefüllt gewesen, gereiniget werden.« (20)
Bei Cassius Dio (Römische Geschichte, Buch 68, Kap. 32) ist über die Grausamkeiten der Juden zu lesen: »Die Juden begannen, Griechen und Römer zu töten, verspeisten ihr Fleisch, fertigten sich aus ihren Eingeweiden Gürtel, bestrichen sich mit ihrem Blut und verarbeiteten ihre Haut zu Kleidungsstücken.« (21)
Der Autor der ersten und für viele Jahrzehnte einzigen wissenschaftlichen Abhandlung über den Jüdischen Krieg in deutscher Sprache, Friedrich Münter, schrieb 1821: »Alles dieses ist gewiß übertrieben; 240 000 Menschen, eben so wie 220 000 in Cyrenaica, also fast eine halbe Million, lassen sich nicht so leicht, und nicht ohne den heftigsten Widerstand ermorden«. Dennoch: »Daß das Blutbad groß gewesen sey, läßt sich keineswegs in Zweifel ziehen: auch R. David Ganz aus dem 16. Jahrhunderte sagte im Zemach David, einer der vorzüglichsten jüdischen Quellen zur Geschichte dieses Krieges, daß in Afrika sehr viele Römer und Griechen von den Juden umgebracht wurden, wie der Sand am Ufer des Meers, der nicht gezählt werden kann.« (22)
Entsprechend brutal sei der Gegenschlag der Römer gewesen. »Die römische Strafaktion bedeutete für die Juden in Ägypten einen Aderlaß sondergleichen.« Der griechische Geschichtsschreiber »Appian war Augenzeuge der Ereignisse und spricht davon, gesehen zu haben, wie ›Traian das jüdische Volk in Ägypten ausrottete‹. Auf das gesamte Ägypten bezogen war diese Bemerkung sicherlich übertrieben, auf Alexandria scheint sie dagegen zuzutreffen.« (23) Wieder Münter: »Die Anzahl der in den Gefechten umgekommenen Juden wird von Dio Cassius auf 580 000 angegeben.
Unzählig aber waren die, welche Hunger, Seuchen und alles Elend des Krieges wegrafften. Jüdische Nachrichten geben die Anzahl derer, die Hadrian umbrachte, auf vier Millionen an, und in Alexandria soll er zweimal so viel als aus Aegypten unter Mose ausgezogen waren, sechs Millionen, getödtet haben. Diese Uebertreibungen sind augenscheinlich. Aber der Verlust, den das Römische Reich durch den Krieg erlitt, mag leicht über zwei Millionen betragen haben. Denn nicht bloß für die Juden, die Cyrenäer, Aegypter und Cyprier war dieser Krieg äußerst blutig. Auch die Römer büßten sehr viele Mannschaft ein.« (24)
Es sollen also bereits unter Hadrian sechs Millionen Juden getötet worden sein. Die Zahl wird jedem bekannt vorkommen, nur daß man sie für gewöhnlich nicht mit Hadrian, sondern Hitler in Verbindung bringt. Ob die Zahl »sechs Millionen«, die nach 1945 erneut in Umlauf gebracht wurde und zumindest im öffentlichen Gebrauch sakrosankt ist, in einem Bezug dazu steht, ist unklar. Opferzahlen dienten allerdings zu allen Zeiten der Propaganda und widersprechen daher nicht selten den empirischen Befunden.
Zu Ehren Titus’ und seines Sieges über die Juden wurde in Rom ein Triumphbogen errichtet, und Julius Severus, der die zweite jüdische Rebellion niedergeschlagen und quasi das Ende des jüdischen Gemeinwesens im Nahen Osten besiegelt hatte, »erhielt die ornamenta triumphalia, Offiziere und Mannschaften die üblichen Belohnungen.« (25) Die römischen Auslöschungsversuche am Judentum dürften deshalb nicht den gleichen Schuldbekenntniseifer erzeugt haben wie im 20. Jahrhundert, weil die Römer noch nicht »christianisiert«, das heißt mit den modernen Moralvorstellungen noch nicht vertraut waren – vor allem aber, weil sie ihren Jüdischen Krieg gewonnen hatten.
Dieser für beide Seiten, Juden und Römer, sehr verlustreiche, mit äußerster Brutalität und Härte ausgetragene Kampf, der an »Intensität und Dauer in der Geschichte der römischen Kaiserzeit seines Gleichen nicht hat« (26), diese »so erschütternde Tragödie, wie die Geschichte kaum eine zweite kennt« (27), wirkt bis heute nach, insofern sie als kollektives Trauma sowohl das jüdische als auch das abendländische Gedächtnis belastet.
Doch trotz der genannten Beispiele wurde der Konflikt von den deutschen Althistorikern erst im späten 19. Jahrhundert genauer beleuchtet, umfassender geschildert und in die römische Geschichte als festen Bestandteil eingebunden. Carl Peter widmete 1869, Hermann Schiller 1883 der Zerstörung Jerusalems ein ausführliches Kapitel, in denen beide besonders auf die Vorgeschichte des ersten Jüdischen Krieges (66 – 72) eingehen. (28) Am gründlichsten und luzidesten aber beschrieb Theodor Mommsen das Gesamtphänomen Judaea und die Juden im fünften Band seiner Römischen Geschichte von 1885.
Seit der Niederschlagung des Aufstandes und der Zerstörung Jerusalems »waren die Juden als Volk vernichtet und wurden unter alle Völker der Erde zerstreut.« (29) Nachdem das Land verwüstet, Jerusalem und damit der jüdische »Staat zerstöret, und fast die ganze Nation aus ihrem Vaterlande vertrieben war« (30), rechnete offenbar niemand mehr mit einer künftigen Neugründung Israels, denn so gut wie alle Historiker waren sich darin einig, daß »dieses Volk seine Selbständigkeit auf immer« verloren habe, weil durch den verheerenden Krieg »die staatliche Existenz des jüdischen Volks für immer vernichtet wurde.« (31)
Wenigstens für das Altertum hatte gegolten: »Die Herstellung eines selbständigen Judenstaates war undenkbar und unmöglich. Er hätte die ganze Schöpfung Roms in Syrien, vom Euphrat bis zum roten Meer zersprengt, und an die Stelle der hellenisch-römischen Cultur den beschränkten semitischen Fanatismus und die religiöse Unduldsamkeit gesetzt. Die kosmopolitische Idee des Römerreichs hatte keinen gleich hartnäckigen Feind als das Judenvolk, und deshalb wurde dieses aus Staatsprincip umgebracht.« (32)
Auf der Stätte des alten Jerusalems hatte Hadrian die römische Kolonie Aelia Capitolina errichten lassen. »Der Besuch der neuen Stadt, die erst seit dem vierten Jahrhunderte ihren alten Namen wieder erhielt, wurde ihnen ganz verboten, und nur einmal im Jahr durften sie auf den Ruinen der heiligen Stadt ihr Klagelied singen.« (33) Ein Teil des zerstörten Tempels bildet noch heute die sogenannte Klagemauer. Aus der römischen Provinz Judäa wurde Palästina; das ist die griechische Bezeichnung für »Land der Philister«.
Theodor Mommsen bemerkte, daß das unaufhörliche Weiterwuchern »des nationalen Hasses« auf beiden Seiten »das fernere Zusammenleben unmöglich« gemacht zu haben schien und man einander »in dem Gedanken der gegenseitigen Ausrottung« begegnete. »Von dem geringschätzigen Spott des Horatius gegen den aufdringlichen Juden aus dem römischen Ghetto ist ein weiter Schritt zu dem feierlichen Groll, welchen Tacitus hegt gegen diesen Abschaum des Menschengeschlechts, dem alles Reine unrein und alles Unreine rein ist; dazwischen liegen jene Aufstände des verachteten Volkes und die Nothwendigkeit dasselbe zu besiegen und für seine Niederhaltung fortwährend Geld und Menschen aufzuwenden. […] Diese Erbitterung, diese Hoffart, diese Verachtung, wie sie damals sich festsetzten, sind freilich nur das unvermeidliche Aufgehen einer vielleicht nicht minder unvermeidlichen Saat; aber die Erbschaft dieser Zeiten lastet auf der Menschheit noch heute.« (34)
Bei Mommsen klingt die dauerhafte Brisanz des jahrtausendealten Konflikts bereits an. Doch um 1885 war natürlich noch nicht absehbar, wie verhängnisvoll sich die Eskalation der »Judenfrage« in Europa sowohl für die Juden als auch für die Welt insgesamt auswirken würde, und daß der letzte Auslöschungsversuch sogar als moralische Grundlage eines deutschen Staates würde herhalten müssen, um sich eine auf der eigenen historischen Schuld basierenden Identität zu verleihen, die fortan jedem (national-)politischen Gewissen zugrunde zu liegen habe.
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(1) – Zuerst Stuttgart 1995, 7. Aufl. 2008.
(2) – Christian Daniel Beck: Kurzgefaßte Anleitung zur Kenntniß der allgemeinen Welt-und-Völker-Geschichte, Bd. 1, Leipzig 1789, S. 291.
(3) – Daniel Joseph Hübler: Handbuch der allgemeinen Völkergeschichte alter Zeiten, Bd. 1, Freyberg 1798, S. 50 f.
(4) – Wilhelm de Wette: Lehrbuch der hebräisch-jüdischen Archäologie (1814), Leipzig ³1842, S. 23.
(5) – Johann Christoph Gatterer: Versuch einer allgemeinen Weltgeschichte bis zur Entdeckung Amerikens, Göttingen 1792, S. 9 f.
(6) – Vgl. de Wette, Lehrbuch, S. 173.
(7) – Friedrich Schleiermacher: Geschichte der christlichen Kirche, Berlin 1840, S. 56.
(8) – Ferdinand Gregorovius: Der Kaiser Hadrian (1851), Stuttgart 1884, S. 207 f.
(9) – Ferdinand Hitzig: Geschichte des Volkes Israel, Leipzig 1869, S. 594 f.
(10) – Heinrich Ewald: Geschichte des Volkes Israel, Bd. 6, Göttingen ³1868, S. 804.
(11) – Julius Wellhausen: Israelitische u. Jüdische Geschichte (1894), Berlin 1901, S. 369.
(12) – Barthold Georg Niebuhr: Vorträge über römische Geschichte (1810), Bd. 3, hrsg. von M. Isler, Berlin 1848, S. 198.
(13) – Hermann Bengtson: Römische Geschichte (1967), München 1973, S. 276.
(14) – Carl Peter: Geschichte Roms, Bd. 3, Halle ³1871, S. 454 u. 440.
(15) – Alfred Heuß: Römische Geschichte (1960), Paderborn 1998, S. 390.
(16) – Karl Hase: Kirchengeschichte (1834), Leipzig 1854, S. 48.
(17) – Daniel Joseph Hübler: Geschichte der Römer unter den Imperatoren, Bd. 2, Freyberg 1804, S. 112.
(18) – Wellhausen: Geschichte, S. 367.
(19) – Bengtson: Römische Geschichte, S. 278.
(20) – Hübler: Geschichte, S. 113.
(21) – Manfred Clauss: Alexandria. Eine antike Weltstadt, Stuttgart 2003, S. 162.
(22) – Friedrich Münter: Der Jüdische Krieg unter den Kaisern Trajan und Hadrian, Altona/Leipzig 1821, S. 14.
(23) – Clauss: Alexandria, S. 164.
(24) – Münter: Der Jüdische Krieg, S. 24 u. 83.
(25) – Emil Schürer: Geschichte des Jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi, Bd. 1, Leipzig 1890, S. 582 f.
(26) – Theodor Mommsen: Römische Geschichte, Bd. 5, Berlin 1885, S. 545.
(27) – Wellhausen: Geschichte, S. 376.
(28) – Vgl. Carl Peter: Geschichte Roms, Bd. 3, Halle 1869, S. 430 – 455; Hermann Schiller: Geschichte der Römischen Kaiserzeit, Bd. 1, 1, Gotha 1883, S. 381 – 400.
(29) – Carl Wernicke: Die Geschichte der Alterthums, Berlin ³1863, S. 741.
(30) – Hübler: Geschichte, S. 111.
(31) – Peter: Geschichte Roms, S. 430.
(32) – Gregorovius: Kaiser Hadrian, S. 204.
(33) – Franz Fiedler: Geschichte des römischen Staates u. Volkes, Leipzig ³1839, S. 365 u. 375.
(34) – Mommsen: Römische Geschichte, S. 529 u. 551 f.