Der Jüdische Krieg

von Frank Lisson -- PDF der Druckfassung aus Sezession 119/ April 2024

Im Dezem­ber 2023 hat die Repu­blik Süd­afri­ka den Staat Isra­el des »Völ­ker­mords« an den Paläs­ti­nen­sern bezich­tigt und beim Inter­na­tio­na­len Gerichts­hof in Den Haag eine Kla­ge eingereicht.

Zum ersten­mal seit 1945 wur­den die­je­ni­gen, die sonst aus­schließ­lich als Opfer bekannt sind, zu Tätern erklärt. Nun lie­gen die Wur­zeln des Paläs­ti­na-Kon­flikts im Alter­tum, und es ist nicht uner­heb­lich, ein­mal auf­zu­zei­gen, wie die Erz­feind­schaft zwi­schen den Juden und fast der gesam­ten anti­ken Welt in der deut­schen Geschichts­wis­sen­schaft wäh­rend des 18. /19. Jahr­hun­derts, des Ent­ste­hungs­zeit­raums des post­re­li­giö­sen Anti­ju­da­is­mus, rezi­piert wor­den ist. Denn dort fin­det sich der Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis des ältes­ten Ant­ago­nis­mus der eura­si­schen Kulturgeschichte.

In vie­len neue­ren Mono­gra­phien zu den bibli­schen Alter­tü­mern bleibt die Fra­ge, wie und war­um die Juden zum meist­ge­h­aß­ten Volk der Welt­ge­schich­te wur­den, uner­ör­tert. Man scheut sich neu­er­dings sogar zu erwäh­nen, daß ein sol­cher Haß fast aller anti­ken Völ­ker auf die Juden tat­säch­lich bestan­den hat. So wird in dem Stan­dard­werk Ein­lei­tung in das Alte Tes­ta­ment von Erich Zen­ger (1) unter ande­rem alles Pro­ble­ma­ti­sche – nament­lich die biblisch legi­ti­mier­te Land­nah­me der Juden durch Aus­rot­tung ihrer Fein­de – still­schwei­gend über­gan­gen und die Gene­se des Juden­tums wie die einer ganz »nor­ma­len« anti­ken Nati­on erzählt.

Das war im 18. /19. Jahr­hun­dert noch anders. Ein Blick in die ent­spre­chen­de Lite­ra­tur gibt eini­gen Auf­schluß über die dama­li­ge Wahr­neh­mung des Ver­hal­tens und des Schick­sals der Juden im Alter­tum, die ihre bis heu­te gül­ti­ge Son­der­stel­lung begrün­de­ten und das Bild der Juden in Euro­pa für zwei Jahr­tau­sen­de prä­gen soll­ten. »Haß gegen alle Nicht­ju­den, gegen­sei­ti­ge Ver­ach­tung, Miß­hand­lun­gen, Ver­fol­gun­gen, gewalt­sa­me Bekeh­run­gen, haben auf den all­ge­mei­nen Cha­rak­ter der Nati­on den nacht­hei­ligs­ten Ein­fluß gehabt.« (2)

Lan­ge Zeit hat­te unter den Theo­lo­gen und His­to­ri­kern des Abend­lan­des eine gewis­se Vor­ein­ge­nom­men­heit gegen­über dem »Volk Got­tes« geherrscht, die teil­wei­se so weit ging, daß man sich reli­gi­ös ver­pflich­tet fühl­te, den in der Bibel über­lie­fer­ten Geno­zid der Israe­li­ten an den ­Kanaa­ni­tern (Kana­an ent­spricht dem heu­ti­gen Paläs­ti­na) zu recht­fer­ti­gen. Weil sich die Juden von ihren Fein­den bedroht sahen, so der Autor eines ver­brei­te­ten Hand­buchs der Völ­ker­ge­schich­te von 1798, »war den Israe­li­ten nicht die Bezwin­gung, son­dern die Aus­rot­tung der Kana­ni­ter gebo­ten.« Denn es stand zu befürch­ten, »die Kana­ni­ter möch­ten das Volk zu ihren abscheu­li­chen Las­tern und zur Abgöt­terey ver­füh­ren. [Wel­ches Volk wür­de ein ­and­res, das mit unheil­ba­rer anste­cken­der Krank­heit behaf­tet wäre, in sei­nem Lan­de dul­den? und wenn es nicht in der Güte fort­zö­ge, wer wür­de es nicht todt­schla­gen?]« (3)

Man befand sich in einem Zwie­spalt: Einer­seits soll Jesus gesagt haben, »das Heil kommt von den Juden« (Joh 4,22), ande­rer­seits ver­kün­de­te der Apos­tel Pau­lus in sei­nem Brief an die Thes­sa­lo­ni­cher (I, 2,15 f.), Gott habe die Juden ver­sto­ßen, und sie sei­en allen Men­schen feind. In der latei­ni­schen Über­set­zung (Vul­ga­ta): »[…] et Deo non pla­cent, et omni­bus homi­ni­bus advers­an­tur«. Luther ver­deutscht: »[…] und gefal­len Gott nicht und sind allen Men­schen zuwider«.

Erst all­mäh­lich, als im Zuge der Auf­klä­rung und der Natio­nal­be­we­gun­gen im 18. /19. Jahr­hun­dert ein Bewußt­sein für das »Selbst­be­stim­mungs­recht der Völ­ker« auf­kam, weil eben nicht alles, wie es ist, »gott­ge­wollt« sei, wur­de man sich auch der Pro­ble­ma­tik der jüdi­schen Geschich­te bewußt. Es began­nen die Erfor­schung und die Kri­tik »des für uns merk­wür­digs­ten Vol­kes der Erde«. (4)

Schon in den Welt­ge­schichts­schrei­bun­gen des spä­ten 18. Jahr­hun­derts war zu lesen gewe­sen: »Paläs­ti­nens Urvöl­ker, die Gavi­ter, Cho­ri­ter, Refä­er und Enaker, wur­den zuerst durch die Phi­lis­ter, Cana­ni­ter, Moa­bi­ter, Ammo­ni­ter und Edo­mi­ter theils ver­trie­ben, ­theils in die Gebir­ge und Berg­höh­len ver­drängt, theils ver­tilgt: dann rück­ten die ­Israe­li­ten ein, und ver­tilg­ten oder ver­trie­ben den Rest der Urwoh­ner und den größ­ten Theil der Cana­ni­ter.« (5) Zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts erklär­te der gro­ße Theo­lo­ge Wil­helm Mar­tin Lebe­recht de Wet­te, die Israe­li­ten hät­ten bereits im Alter­tum kein Recht auf Paläs­ti­na gehabt. (6)

Lang­sam rück­te eines der fol­gen­schwers­ten welt­ge­schicht­li­chen Ereig­nis­se in den Fokus der For­schung, wel­ches bis dahin kaum Beach­tung gefun­den hat­te: näm­lich das der bei­den gro­ßen jüdi­schen Auf­stän­de von 66 bis 72 und 132 bis 135, die als der Jüdi­sche Krieg in die Geschich­te ein­ge­gan­gen sind. Die enor­me Bedeu­tung die­ses lang­wie­ri­gen und extrem blu­ti­gen Kon­flikts für die Ent­ste­hung und Kon­so­li­die­rung des Chris­ten­tums sowie für das Selbst­ver­ständ­nis des Abend­lan­des ist lan­ge ver­kannt wor­den. »Bis zur Zer­stö­rung von Jeru­sa­lem ver­band der Tem­pel­dienst Juden und Chris­ten zu natio­na­ler Ein­heit.« (7) Denn »erst nach­dem Jeru­sa­lem als Haupt­stadt der Juden für immer unter­ge­gan­gen und die jüdi­sche Nati­on aus­ge­rot­tet war, konn­te die christ­li­che Kir­che kos­mo­po­li­tisch wer­den.« (8)

Jene Zer­stö­rung Jeru­sa­lems und des Tem­pels fand im Jah­re 70 statt, auf dem Höhe­punkt des ers­ten Jüdi­schen Krie­ges, der durch die Will­kür des römi­schen Pro­ku­ra­tors von Judäa aus­ge­löst wor­den war. »In der römi­schen Gewalt­herr­schaft lag zuviel unbarm­her­zi­ge Logik, als daß ein noch so gedul­di­ges Volk ihren Druck hin­neh­men moch­te wie ein Schick­sal. ­Jeder ech­te Jude haß­te die Römer […]. Noch ein­mal stie­ßen Asi­en und Euro­pa auf ein­an­der, semi­ti­sches Wesen und grie­chisch-latei­ni­scher Geist. Ein Ver­trag zwi­schen den Bei­den war nicht mög­lich; ein­mal muß­te es zur Ent­schei­dung durch die Waf­fen kom­men, wel­che für den schwä­chern Theil, wenn sie gegen ihn aus­fiel, den völ­li­gen Unter­gang bedeu­te­te.« (9) Die Fol­gen waren dras­tisch: »[…] alle glie­der Isra­els aber ohne Unter­schied wur­den nun mit einem schla­ge der hohn der gan­zen welt, wäh­rend sie noch kur­ze zeit zuvor die­se gan­ze welt ent­we­der beherr­schen oder ver­ach­ten zu kön­nen mein­ten!« (10)

Über die ein­zel­nen Abläu­fe die­ses ers­ten Krie­ges sind wir gut unter­rich­tet, weil Fla­vi­us Jose­phus (37 – ca. 100), Befehls­ha­ber in Gali­läa und einer der Anfüh­rer des jüdi­schen Auf­stan­des, spä­ter detail­liert dar­über Aus­kunft gab. »Er war ein eit­ler, uner­fah­re­ner Mann und sei­ner Auf­ga­be nicht ent­fernt gewach­sen«. (11) Wegen sei­nes unrühm­li­chen Ver­hal­tens gleich zu Beginn der Revol­te – Jose­phus hat­te sich den Römern nicht nur erge­ben, son­dern sich ihnen sogar ange­dient, wäh­rend fast alle sei­ner Gefähr­ten in den Tod gegan­gen waren – galt er bei den Juden als Verräter.

Der zunächst in sei­ner Mut­ter­spra­che, dem Ara­mäi­schen, ver­faß­te Bericht über die jüdi­sche Erhe­bung wur­de zwi­schen 75 und 79, dank eini­ger Hel­fer stark erwei­tert, auf grie­chisch her­aus­ge­ge­ben und dem Kai­ser Ves­pa­si­an per­sön­lich über­reicht. Den­noch wäre die­ses von den Juden tot­ge­schwie­ge­ne sie­ben­bän­di­ge Werk womög­lich in Ver­ges­sen­heit gera­ten und ver­lo­ren­ge­gan­gen, wenn christ­li­che Autoren es nicht im 4. Jahr­hun­dert ins Latei­ni­sche über­setzt (De bel­lo Judai­co oder Bel­lum Judai­cum) und dadurch geret­tet hätten.

Erst im Mit­tel­al­ter war die Lite­ra­tur des Fla­vi­us Jose­phus wie­der­ent­deckt wor­den. Seit­dem stellt Der Jüdi­sche Krieg die aus­führ­lichs­te und fast ein­zi­ge Quel­le zu den Ereig­nis­sen zwi­schen 66 und 72 dar. Für Bar­thold Georg Nie­buhr zähl­te das Werk zu »den inter­es­san­tes­ten Geschichts­bü­chern« (12), die uns aus dem Alter­tum erhal­ten geblie­ben sind.

»Wenn man dem His­to­ri­ker Jose­phus Glau­ben schen­ken darf«, so waren im ers­ten »Jüdi­schen Krie­ge 97 000 Juden in römi­sche Gefan­gen­schaft gera­ten (sie wur­den zumeist als Skla­ven ver­kauft, oder man schick­te sie in die Berg­wer­ke, ande­re wur­den für die Spie­le auf­ge­spart), mehr als eine Mil­li­on wäre durch Hun­ger, Seu­chen oder das Schwert umge­kom­men.« (13) Taci­tus und Sue­ton spre­chen von 600 000.

Doch schon zuvor hat­te es auf bei­den Sei­ten zahl­rei­che Gemet­zel gege­ben. »Von Cäsarea aber ver­brei­te­te sich der Juden­mord, wie eine Epi­de­mie und ähn­lich den Juden­het­zen des Mit­tel­al­ters, über alle Städ­te jener Gegend, wo Juden und Hei­den gemischt wohn­ten, in wei­tem Umkrei­se bis nach Alex­an­dri­en, Damas­cus und Antio­chi­en. In Alex­an­dri­en ließ der Stadt­hal­ter von Aegyp­ten, selbst ein abge­fal­le­ner Jude, die römi­schen Legio­nen gegen sie los, durch deren Schwer­ter über 50 000 fie­len; in Damas­cus wur­den sie in ein Gym­na­si­um ein­ge­sperrt und dar­in über 10 000 get­öd­tet […]. Wir kön­nen von die­sen Vor­gän­gen nicht hören ohne Indi­gna­ti­on über die kal­te des­po­ti­sche Will­kür und Grau­sam­keit der Römer und ohne das tiefs­te Mit­leid für die unglück­li­chen Opfer der­sel­ben. Die­se Gefüh­le wer­den indess, wo nicht auf­ge­ho­ben, so doch auf­ge­wo­gen durch die Wild­heit und Zügel­lo­sig­keit, der wir die Juden immer mehr ver­fal­len sehen und womit sie sich gegen­sei­tig nicht min­de­res Unheil berei­ten, als ihnen von den Römern angethan wird.« (14)

Die zwei­te gro­ße Revol­te begann bereits 115 unter Tra­jan, als Juden in Ägyp­ten und dem heu­ti­gen Liby­en schreck­li­che Mas­sa­ker an Nicht­ju­den ver­üb­ten. »In den letz­ten Regie­rungs­jah­ren Tra­jans erho­ben sich die Juden, vor allem in der Dia­spo­ra, wahr­schein­lich aber auch in Paläs­ti­na, und führ­ten einen Ver­nich­tungs­krieg gegen das Hei­den­tum.« (15) Doch zum fina­len Schlag kam es erst ab 132 auf­grund des soge­nann­ten Bar-Kochba-Aufstands.

Als Haupt­ur­sa­chen gel­ten Hadri­ans Absicht, an der Stel­le des zer­stör­ten Tem­pels ein heid­ni­sches Hei­lig­tum zu errich­ten, sowie das Beschnei­dungs­ver­bot, was die Juden glei­cher­ma­ßen empör­te. »Hadri­an beschloß, um nicht ein gan­zes Volk töd­ten zu müs­sen, die Ver­nich­tung sei­ner Natio­na­li­tät. Die Sab­baths­fei­er wur­de ver­bo­ten, die Beschnei­dung als Ver­bre­chen, wahr­schein­lich wie Ent­man­nung bestraft, und auf den Trüm­mern Jeru­sa­lems eine dem Jupi­ter geweih­te Stadt gegrün­det […]. In die­ser letz­ten Noth rief ein Mes­si­as das Volk zu den Waf­fen (132), Bar Coch­ba, d. i. Ster­nen­sohn genannt […]. Der Mes­si­as fiel in der Schlacht. Paläs­ti­na ward eine Wüs­te.« (16)

Weil die Quel­len­la­ge des zwei­ten Jüdi­schen Krie­ges sehr dürf­tig ist, miß­trau­te man den ange­ge­be­nen Opfer­zah­len. »Der Auf­ruhr fieng im J. 115 zu Cyre­ne in Afri­ka an, und ergriff bald die Insel Cypern. An bey­den Orten sol­len sie gegen Römer und Grie­chen mit einer Unmensch­lich­keit gewü­tet haben, wel­che man eben so schwer glau­ben kann, als daß sie in Cyre­nai­ka nicht weni­ger als 220 000, und auf Cypern 240 000 Men­schen ihrer Rach­gier geop­fert hät­ten.« (17) Auch »in Machä­rus und Jeri­cho wur­den die römi­schen Besat­zun­gen ver­jagt und umge­bracht. Über­all im gan­zen Lan­de ent­brann­te die Hei­den­het­ze, wo die Juden die Mehr­heit hat­ten, und die Juden­het­ze, wo das Ver­hält­nis umge­kehrt war. In Cäsarea wur­den die sämt­li­chen jüdi­schen Ein­woh­ner abge­schlach­tet.« (18)

Tra­jan ließ den Auf­stand durch ein römi­sches Auf­ge­bot von »nicht weni­ger als sechs Legio­nen, 20 Kohor­ten« (19) sowie den Kon­tin­gen­ten ori­en­ta­li­scher Vasal­len­fürs­ten nie­der­schla­gen »und ver­galt den Juden alles ver­üb­te Böse in rei­chem Maa­ße. Es ist wahr­schein­lich, daß er auch auf der Insel Cypern die Ruhe wie­der her­ge­stellt habe. Hier wur­den die Juden ganz aus­ge­rot­tet: und wie Dio ver­si­chert, durf­te kein Jude dieß Land nur betre­ten. Selbst wenn ihn der Sturm dahin ver­schla­gen hat­te, ward er ohne Barm­her­zig­keit get­ödet. Auch Meso­po­ta­mi­en soll­te von den Juden, mit denen es seit Jahr­hun­der­ten war ange­füllt gewe­sen, gereini­get wer­den.« (20)

Bei Cas­si­us Dio (Römi­sche Geschich­te, Buch 68, Kap. 32) ist über die Grau­sam­kei­ten der Juden zu lesen: »Die Juden began­nen, Grie­chen und Römer zu töten, ver­speis­ten ihr Fleisch, fer­tig­ten sich aus ihren Ein­ge­wei­den Gür­tel, bestri­chen sich mit ihrem Blut und ver­ar­bei­te­ten ihre Haut zu Klei­dungs­stü­cken.« (21)

Der Autor der ers­ten und für vie­le Jahr­zehn­te ein­zi­gen wis­sen­schaft­li­chen Abhand­lung über den Jüdi­schen Krieg in deut­scher Spra­che, Fried­rich Mün­ter, schrieb 1821: »Alles die­ses ist gewiß über­trie­ben; 240 000 Men­schen, eben so wie 220 000 in Cyre­nai­ca, also fast eine hal­be Mil­li­on, las­sen sich nicht so leicht, und nicht ohne den hef­tigs­ten Wider­stand ermor­den«. Den­noch: »Daß das Blut­bad groß gewe­sen sey, läßt sich kei­nes­wegs in Zwei­fel zie­hen: auch R. David Ganz aus dem 16. Jahr­hun­der­te sag­te im Zemach David, einer der vor­züg­lichs­ten jüdi­schen Quel­len zur Geschich­te die­ses Krie­ges, daß in Afri­ka sehr vie­le Römer und Grie­chen von den Juden umge­bracht wur­den, wie der Sand am Ufer des Meers, der nicht gezählt wer­den kann.« (22)

Ent­spre­chend bru­tal sei der Gegen­schlag der Römer gewe­sen. »Die römi­sche Straf­ak­ti­on bedeu­te­te für die Juden in Ägyp­ten einen Ader­laß son­der­glei­chen.« Der grie­chi­sche Geschichts­schrei­ber »Appian war Augen­zeu­ge der Ereig­nis­se und spricht davon, gese­hen zu haben, wie ›Trai­an das jüdi­sche Volk in Ägyp­ten aus­rot­te­te‹. Auf das gesam­te Ägyp­ten bezo­gen war die­se Bemer­kung sicher­lich über­trie­ben, auf Alex­an­dria scheint sie dage­gen zuzu­tref­fen.« (23) Wie­der Mün­ter: »Die Anzahl der in den Gefech­ten umge­kom­me­nen Juden wird von Dio Cas­si­us auf 580 000 angegeben.

Unzäh­lig aber waren die, wel­che Hun­ger, Seu­chen und alles Elend des Krie­ges weg­raff­ten. Jüdi­sche Nach­rich­ten geben die Anzahl derer, die Hadri­an umbrach­te, auf vier Mil­lio­nen an, und in Alex­an­dria soll er zwei­mal so viel als aus Aegyp­ten unter Mose aus­ge­zo­gen waren, sechs Mil­lio­nen, get­öd­tet haben. Die­se Ueber­trei­bun­gen sind augen­schein­lich. Aber der Ver­lust, den das Römi­sche Reich durch den Krieg erlitt, mag leicht über zwei Mil­lio­nen betra­gen haben. Denn nicht bloß für die Juden, die Cyre­nä­er, Aegyp­ter und Cyprier war die­ser Krieg äußerst blu­tig. Auch die Römer büß­ten sehr vie­le Mann­schaft ein.« (24)

Es sol­len also bereits unter Hadri­an sechs Mil­lio­nen Juden getö­tet wor­den sein. Die Zahl wird jedem bekannt vor­kom­men, nur daß man sie für gewöhn­lich nicht mit Hadri­an, son­dern Hit­ler in Ver­bin­dung bringt. Ob die Zahl »sechs Mil­lio­nen«, die nach 1945 erneut in Umlauf gebracht wur­de und zumin­dest im öffent­li­chen Gebrauch sakro­sankt ist, in einem Bezug dazu steht, ist unklar. Opfer­zahlen dien­ten aller­dings zu allen Zei­ten der Pro­pa­gan­da und wider­spre­chen daher nicht sel­ten den empi­ri­schen Befunden.

Zu Ehren Titus’ und sei­nes Sie­ges über die Juden wur­de in Rom ein Tri­umph­bo­gen errich­tet, und Juli­us ­Seve­rus, der die zwei­te jüdi­sche Rebel­li­on nie­der­ge­schla­gen und qua­si das Ende des jüdi­schen Gemein­we­sens im Nahen Osten besie­gelt hat­te, »erhielt die orna­men­ta tri­um­pha­lia, Offi­zie­re und Mann­schaf­ten die übli­chen Beloh­nun­gen.« (25) Die römi­schen Aus­lö­schungs­ver­su­che am Juden­tum dürf­ten des­halb nicht den glei­chen Schuld­be­kennt­nis­ei­fer erzeugt haben wie im 20. Jahr­hun­dert, weil die Römer noch nicht »chris­tia­ni­siert«, das heißt mit den moder­nen Moral­vor­stel­lun­gen noch nicht ver­traut waren – vor allem aber, weil sie ihren Jüdi­schen Krieg gewon­nen hatten.

Die­ser für bei­de Sei­ten, Juden und Römer, sehr ver­lust­rei­che, mit äußers­ter Bru­ta­li­tät und Här­te aus­ge­tra­ge­ne Kampf, der an »Inten­si­tät und Dau­er in der Geschich­te der römi­schen Kai­ser­zeit sei­nes Glei­chen nicht hat« (26), die­se »so erschüt­tern­de Tra­gö­die, wie die Geschich­te kaum eine zwei­te kennt« (27), wirkt bis heu­te nach, inso­fern sie als kol­lek­ti­ves Trau­ma sowohl das jüdi­sche als auch das abend­län­di­sche Gedächt­nis belastet.

Doch trotz der genann­ten Bei­spie­le wur­de der Kon­flikt von den deut­schen Alt­his­to­ri­kern erst im spä­ten 19. Jahr­hun­dert genau­er beleuch­tet, umfas­sen­der geschil­dert und in die römi­sche Geschich­te als fes­ten Bestand­teil ein­ge­bun­den. Carl Peter wid­me­te 1869, Her­mann Schil­ler 1883 der Zer­stö­rung Jeru­sa­lems ein aus­führ­li­ches Kapi­tel, in denen bei­de beson­ders auf die Vor­ge­schich­te des ers­ten Jüdi­schen Krie­ges (66 – 72) ein­ge­hen. (28) Am gründ­lichs­ten und luzi­des­ten aber beschrieb Theo­dor Momm­sen das Gesamt­phä­no­men Judaea und die Juden im fünf­ten Band sei­ner Römi­schen Geschich­te von 1885.

Seit der Nie­der­schla­gung des Auf­stan­des und der Zer­stö­rung Jeru­sa­lems »waren die Juden als Volk ver­nich­tet und wur­den unter alle Völ­ker der Erde zer­streut.« (29) Nach­dem das Land ver­wüs­tet, Jeru­sa­lem und damit der jüdi­sche »Staat zer­stö­ret, und fast die gan­ze Nati­on aus ihrem Vater­lan­de ver­trie­ben war« (30), rech­ne­te offen­bar nie­mand mehr mit einer künf­ti­gen Neu­grün­dung Isra­els, denn so gut wie alle His­to­ri­ker waren sich dar­in einig, daß »die­ses Volk sei­ne Selb­stän­dig­keit auf immer« ver­lo­ren habe, weil durch den ver­hee­ren­den Krieg »die staat­li­che Exis­tenz des jüdi­schen Volks für immer ver­nich­tet wur­de.« (31)

Wenigs­tens für das Alter­tum hat­te gegol­ten: »Die Her­stel­lung eines selb­stän­di­gen Juden­staa­tes war undenk­bar und unmög­lich. Er hät­te die gan­ze Schöp­fung Roms in Syri­en, vom Euphrat bis zum roten Meer zer­sprengt, und an die Stel­le der hel­le­nisch-römi­schen Cul­tur den beschränk­ten semi­ti­schen Fana­tis­mus und die reli­giö­se Unduld­sam­keit gesetzt. Die kos­mo­po­li­ti­sche Idee des Römer­reichs hat­te kei­nen gleich hart­nä­cki­gen Feind als das Juden­volk, und des­halb wur­de die­ses aus Staats­prin­cip umge­bracht.« (32)

Auf der Stät­te des alten Jeru­sa­lems hat­te Hadri­an die römi­sche Kolo­nie Aelia Capi­to­li­na errich­ten las­sen. »Der Besuch der neu­en Stadt, die erst seit dem vier­ten Jahr­hun­der­te ihren alten Namen wie­der erhielt, wur­de ihnen ganz ver­bo­ten, und nur ein­mal im Jahr durf­ten sie auf den Rui­nen der hei­li­gen Stadt ihr Kla­ge­lied sin­gen.« (33) Ein Teil des zer­stör­ten Tem­pels bil­det noch heu­te die soge­nann­te Kla­ge­mau­er. Aus der römi­schen Pro­vinz Judäa wur­de Paläs­ti­na; das ist die grie­chi­sche Bezeich­nung für »Land der Philister«.

Theo­dor Momm­sen bemerk­te, daß das unauf­hör­li­che Wei­ter­wu­chern »des natio­na­len Has­ses« auf bei­den Sei­ten »das fer­ne­re Zusam­men­le­ben unmög­lich« gemacht zu haben schien und man ein­an­der »in dem Gedan­ken der gegen­sei­ti­gen Aus­rot­tung« begeg­ne­te. »Von dem gering­schät­zi­gen Spott des Hora­ti­us gegen den auf­dring­li­chen Juden aus dem römi­schen Ghet­to ist ein wei­ter Schritt zu dem fei­er­li­chen Groll, wel­chen Taci­tus hegt gegen die­sen Abschaum des Men­schen­ge­schlechts, dem alles Rei­ne unrein und alles Unrei­ne rein ist; dazwi­schen lie­gen jene Auf­stän­de des ver­ach­te­ten Vol­kes und die Not­hwen­dig­keit das­sel­be zu besie­gen und für sei­ne Nie­der­hal­tung fort­wäh­rend Geld und Men­schen auf­zu­wen­den. […] Die­se Erbit­te­rung, die­se Hof­fart, die­se Ver­ach­tung, wie sie damals sich fest­setz­ten, sind frei­lich nur das unver­meid­li­che Auf­ge­hen einer viel­leicht nicht min­der unver­meid­li­chen Saat; aber die Erb­schaft die­ser Zei­ten las­tet auf der Mensch­heit noch heu­te.« (34)

Bei Momm­sen klingt die dau­er­haf­te Bri­sanz des jahr­tau­sen­de­al­ten Kon­flikts bereits an. Doch um 1885 war natür­lich noch nicht abseh­bar, wie ver­häng­nis­voll sich die Eska­la­ti­on der »Juden­fra­ge« in Euro­pa sowohl für die Juden als auch für die Welt ins­ge­samt aus­wir­ken wür­de, und daß der letz­te Aus­lö­schungs­ver­such sogar als mora­li­sche Grund­la­ge eines deut­schen Staa­tes wür­de her­hal­ten müs­sen, um sich eine auf der eige­nen his­to­ri­schen Schuld basie­ren­den Iden­ti­tät zu ver­lei­hen, die fort­an jedem (national-)politischen Gewis­sen zugrun­de zu lie­gen habe.

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(1) – Zuerst Stutt­gart 1995, 7. Aufl. 2008.

(2) – Chris­ti­an Dani­el Beck: Kurz­ge­faß­te Anlei­tung zur Kennt­niß der all­ge­mei­nen Welt-und-Völ­ker-Geschich­te, Bd. 1, Leip­zig 1789, S. 291.

(3) – Dani­el Joseph Hüb­ler: Hand­buch der all­ge­mei­nen Völ­ker­ge­schich­te alter Zei­ten, Bd. 1, Frey­berg 1798, S. 50 f.

(4) – Wil­helm de Wet­te: Lehr­buch der hebrä­isch-jüdi­schen Archäo­lo­gie (1814), Leip­zig ³1842, S. 23.

(5) – Johann Chris­toph Gat­te­rer: Ver­such einer all­ge­mei­nen Welt­ge­schich­te bis zur Ent­de­ckung Ame­ri­kens, Göt­tin­gen 1792, S. 9 f.

(6) – Vgl. de Wet­te, Lehr­buch, S. 173.

(7) – Fried­rich Schlei­er­ma­cher: Geschich­te der christ­li­chen Kir­che, Ber­lin 1840, S. 56.

(8) – Fer­di­nand Gre­go­ro­vi­us: Der Kai­ser Hadri­an (1851), Stutt­gart 1884, S. 207 f.

(9) – Fer­di­nand Hit­zig: Geschich­te des Vol­kes Isra­el, Leip­zig 1869, S. 594 f.

(10) – Hein­rich Ewald: Geschich­te des Vol­kes Isra­el, Bd. 6, Göt­tin­gen ³1868, S. 804.

(11) – Juli­us Well­hau­sen: Israe­li­ti­sche u. Jüdi­sche Geschich­te (1894), Ber­lin 1901, S. 369.

(12) – Bar­thold Georg Nie­buhr: Vor­trä­ge über römi­sche Geschich­te (1810), Bd. 3, hrsg. von M. Isler, Ber­lin 1848, S. 198.

(13) – Her­mann Beng­t­son: Römi­sche Geschich­te (1967), Mün­chen 1973, S. 276.

(14) – Carl Peter: Geschich­te Roms, Bd. 3, Hal­le ³1871, S. 454 u. 440.

(15) – Alfred Heuß: Römi­sche Geschich­te (1960), Pader­born 1998, S. 390.

(16) – Karl Hase: Kir­chen­ge­schich­te (1834), Leip­zig 1854, S. 48.

(17) – Dani­el Joseph Hüb­ler: Geschich­te der Römer unter den Impe­ra­to­ren, Bd. 2, Frey­berg 1804, S. 112.

(18) – Well­hau­sen: Geschich­te, S. 367.

(19) – Beng­t­son: Römi­sche Geschich­te, S. 278.

(20) – Hüb­ler: Geschich­te, S. 113.

(21) – Man­fred Clauss: Alex­an­dria. Eine anti­ke Welt­stadt, Stutt­gart 2003, S. 162.

(22) – Fried­rich Mün­ter: Der Jüdi­sche Krieg unter den Kai­sern Tra­jan und Hadri­an, Altona/Leipzig 1821, S. 14.

(23) – Clauss: Alex­an­dria, S. 164.

(24) – Mün­ter: Der Jüdi­sche Krieg, S. 24 u. 83.

(25) – Emil Schü­rer: Geschich­te des Jüdi­schen Vol­kes im Zeit­al­ter Jesu Chris­ti, Bd. 1, Leip­zig 1890, S. 582 f.

(26) – Theo­dor Momm­sen: Römi­sche Geschich­te, Bd. 5, Ber­lin 1885, S. 545.

(27) – Well­hau­sen: Geschich­te, S. 376.

(28) – Vgl. Carl Peter: Geschich­te Roms, Bd. 3, Hal­le 1869, S. 430 – 455; Her­mann Schil­ler: Geschich­te der Römi­schen Kai­ser­zeit, Bd. 1, 1, Gotha 1883, S. 381 – 400.

(29) – Carl Wer­ni­cke: Die Geschich­te der Alter­th­ums, Ber­lin ³1863, S. 741.

(30) – Hüb­ler: Geschich­te, S. 111.

(31) – Peter: Geschich­te Roms, S. 430.

(32) – Gre­go­ro­vi­us: Kai­ser Hadri­an, S. 204.

(33) – Franz Fied­ler: Geschich­te des römi­schen Staa­tes u. Vol­kes, Leip­zig ³1839, S. 365 u. 375.

(34) – Momm­sen: Römi­sche Geschich­te, S. 529 u. 551 f.

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