»Muß man nicht endlich darüber sprechen, daß die Gewalt doch etwas mit dem Islam zu tun hat, ohne deswegen alle Muslime unter Generalverdacht zu stellen?« (1)
Die Frage weist auf eine Debatte, die sich seit Jahren hilflos im Kreis dreht: 2015, nach dem Attentat auf Charlie Hebdo, forderte der Focus ebendas. Schon in den neunziger Jahren rief Bassam Tibi, sekundiert von liberalen Sternguckern in der Zeit, nach einem »Euro-Islam«, einem Konzept, dessen Scheitern er mittlerweile eingestehen mußte. Auch der Forderungskatalog, den Thilo Sarrazin 2018 in seinem Buch Feindliche Übernahme aufstellte, mutet fünf Jahre und ungezählte, offenbar religiös motivierte Angriffe und Attentate später obsolet an.
Die Trennung von Religion und Staat, die Privatisierung des Glaubens nach einem protestantisch inspirierten Muster, die »Aufgabe der Konzepte von Dschihad und Scharia« (Tibi nach Sarrazin) kann man natürlich verlangen, so oft man möchte. All dies liefe aber auf die Entkernung einer kompletten Religion hinaus, die offensichtlich auf dergleichen nicht angelegt ist. Angesichts der demographischen Verhältnisse und der vollkommenen Realitätsblindheit der deutschen Politik, die Druck ausschließlich auf die nichtmuslimische, schon länger hier lebende Bevölkerung ausübt, gibt es für Muslime auch keinerlei Grund, sich diese Forderungen zu eigen zu machen.
Zu den vielen Absurditäten des öffentlichen und akademischen Diskurses gehört die regelmäßige Unterstellung, Deutschland, Europa, die »abendländische Kultur« etc. pp. sei »islamophob«, also von einer tiefverwurzelten und anhaltenden Abneigung gegen die Religion des Propheten beseelt. Der Vorwurf einer »Phobie« stellt eine etwaige Abneigung etwa mit der Reaktion auf das Auftauchen einer Vogelspinne gleich – eine unwillkürliche, viszerale Reaktion, bei der der Verstand / die Ratio ausgeschaltet ist. Nicht zufällig steht er dem Knebelkonzept des »Hate speech« oder der Haßrede nahe, über das ein Gesinnungsstrafrecht durch die Hintertür etabliert werden soll.
Nun kann es erlernte kulturelle Abneigungen geben, die funktionieren wie ein Reflex. Europäische Reaktionen auf den Islam zählen historisch aber sicher nicht dazu. In keiner Kultur kann es etwas wie eine »objektive« Betrachtung und Bewertung von Fremdkulturen geben, und soweit ich sehe, hat überhaupt nur die westliche Kultur in Form von Historisierung und Verwissenschaftlichung versucht, etwas Derartiges zu erreichen. Schon gar nicht kann es eine objektive Beurteilung einer die eigene Kultur tangierenden und über weite Strecken als Bedrohung in Erscheinung tretenden Kultur geben.
Vor diesem Hintergrund offenbart selbst ein kursorischer Blick in die Kulturgeschichte ein Verhältnis von Anziehung und Abstoßung, das in erstaunlich vielen Konstellationen (übergroße) Sympathie erkennen läßt. »Der Araber – das war der ›Philosoph‹, der tapfere und großmütige Gegenspieler der Helden in den Ritterepen, der Magier, der die Geheimnisse der Natur kannte, der die nächtlichen Sterne befragte und auf diese Weise körperliche Gebrechen heilen konnte; er war ein kluger Kaufmann und handelte mit Waren, die in ganz Europa begehrt und geschätzt waren« (2), so der italienische Historiker Franco Cardini in seiner Geschichte des Verhältnisses zwischen Europa und dem Islam. »Unter den Gelehrten der Frühscholastik« sei es ferner Usus gewesen, »die Araber als philosophi par excellence« zu betrachten.
Orientmode gab es darüber hinaus schon im Mittelalter, nicht nur mit der frühen Stilisierung Saladins zum edlen Kämpfer. »Die Sarazenenkrieger von Lucera, die im Dienst der Italien-Herrscher Friedrich und Manfred standen, hatten eine Mode mitgebracht, nach deren ›maurischer Art‹ besonders die Ghibellinen ihre Krieger gekleidet hatten.« (3)
Dieses Bild scheint sich im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit zu verdunkeln (in ebenjener Zeit, die Jean Delumeau in Die Angst im Abendland als kritische Phase beschrieb). Interessanterweise führt Cardini dies auf eine Verschiebung innerhalb der europäischen Kultur selbst zurück: Es handle sich dabei um eine Absetzbewegung von der Scholastik, in deren Welt die Araber aufgrund ihrer bekannten Quellenvermittlung einen hohen Platz eingenommen hätten, »einer Welt, die jetzt ihre Brüchigkeit und ihren illusionären Charakter enthüllte«.
Diese Wendung blieb temporär, denn auch danach hielt sich das Bild vom großmütigen muslimischen Kämpfer an für die europäischen Literaturen zentraler Stelle, unter anderem in Ariosts wirkmächtigem Orlando Furioso, quasi dem Herrn der Ringe der Renaissance. Man muß allerdings hinzufügen, daß das dort vom Islam vermittelte Bild phantastisch-kurios und von keinerlei Sachkenntnis getrübt ist – so verehren die Muslime bei Ariost eine merkwürdige Form der Trinität.
Es ist hier aus Platzgründen unmöglich, auf die weitere Geschichte der europäischen Islamophilie – denn darum handelt es sich bei dieser Faszination für eine aggressiv-expansive historische Konkurrenzkultur – einzugehen, die sich (wie es bei jeder Kulturbegegnung der historische Normalfall sein dürfte) teils auch aus ganz pragmatischen Motiven speist; so ist die höfische Türkenmode, wie man sie anhand der »Türckischen Cammer« in Dresden studieren kann, offenbar auch durch die Freude absolutistischer Herrscher an einer aus ihrer Sicht noch unbeschränkteren Herrschaftsform motiviert. Folgenreicher ist allerdings der Gebrauch, den bekanntlich aufklärerische Autoren von der vermeintlichen Toleranz des Islam machen; er wird bei ihnen zu einer Waffe gegen das Christentum umfunktioniert.
Das gilt, wie Siegfried Kohlhammer in seinem außerordentlich lesenswerten Band Islam und Toleranz darlegt, auch für die Haskalah-Gelehrten, denen »der Mythos spanisch-islamischer Toleranz als Stock diente« (Bernard Lewis nach Kohlhammer), mit dem sie das Christentum schlagen können, und die dadurch wesentlich an der Entstehung des Mythos vom vermeintlich paradiesischen Al-Andalus mitwirken – eines Mythos übrigens, der, wie Kohlhammer zeigen kann, im Westen entsteht und erst von dort in die muslimische Welt gelangt, die so ein Ideal ihrer selbst reimportiert. (4)
Natürlich läßt sich all diese Islambegeisterung als ein selbstverliebtes In-den-Spiegel-Schauen oder eine Art Verkleidungsspiel von Europäern kritisieren, wie Edward Said das in Orientalism getan hat: Man kostümiert sich als weißer Scheich, der eine Art Über-Ich des oikophoben Westlers zu verkörpern hat – insofern hat Edward Said recht, und es gibt in der Tat, was er als »Orientalismus« bezeichnet, nur daß nichts daran schuldhaft ist: Fremdkulturen werden, wie schon oben gesagt, unvermeidlich in populären Phantasien rekonstruiert.
Daß das in Hinblick auf die islamische Welt in weiten Teilen in überaus wohlwollender Weise erfolgt und darüber hinaus mit der Orientalistik eine wissenschaftliche Disziplin besteht, der man sicher nicht jedes Bemühen um Objektivität (zutreffende Beschreibung von Realien) absprechen kann, sollte eigentlich als ein Ruhmesblatt des vielkritisierten Okzidents gelten dürfen, der sich im Kulturvergleich aufgrund universalistischer Programme durch einen Mangel an Ethnozentrismus auszeichnet.
Aber wie verhält es sich aktuell mit der politischen Bewertung des Islam, die ja alles andere als ein rein historisches Problem darstellt? Die erste relevante Erkenntnis lautet, daß die Frage nach seiner Einschätzung nicht an Islamwissenschaftler delegiert werden kann, so naheliegend es auch sein mag, hier zuerst nach dem Fachmann zu rufen. Das Problem hierbei ist nicht nur, daß auch diese Fachleute ihre eigenen Vor-Urteile zwangsläufig bereits mitbringen (und es dem Laien kaum möglich sein dürfte, hier ein Urteil zu fällen). Es gibt mittlerweile in den Geisteswissenschaften kaum mehr weltanschaulich neutrales Terrain (falls es das jemals gegeben haben sollte), und auf die Islamwissenschaft dürfte das in verschärfter Form zutreffen: Sie bietet ein ideales Feld für postkoloniale Illusionen und Schimären, antieuropäische Ressentiments und Projektionen aller Art.
Feinsinnige, philologisch gestützte Diskussionen darüber, ob Dschihad nicht doch bloß oder primär den edlen Kampf gegen sich selbst bedeute oder ob sich Formulierungen wie »Die Ungläubigen sind Schmutz!« (oder: »unrein«, Koran 9, V. 28) nicht etwa eine mildere Perspektive abgewinnen ließe, indem man irgendwelche Übersetzungen für falsch erklärt oder auf Phasen verweist, in denen diese mit Muslimen zusammenleben konnten, ohne massakriert zu werden, können ja gerne geführt werden. Sie sind bloß für die Realität des Zusammenlebens mit einer ständig wachsenden Menge an Muslimen belanglos.
Die Frage ist nämlich nicht, zu welcher Interpretation welcher Koranstellen gelehrte Arabisten gelangen, sondern welche Interpretation eine relevante Zahl von hier lebenden Gläubigen diesen angedeihen läßt. Der Afghane, der in Wien mutmaßlich drei Prostituierte auf grauenhafte Weise tötete, befleißigte sich offenbar einer relativ einfachen Hermeneutik: »In Verhören der Kripo zeigt er sich geständig und sagt: ›Prostituierte stehen unter dem Deckmantel des Satans.‹ Und weiter: ›Ich habe im Koran gelesen, ich solle Dschihad betreiben.‹« (5)
Daß zum Beispiel feministische und andere wohlmeinende Islamwissenschaftlerinnen (ja, gibt es tatsächlich) zu einer anderen Deutung von »Dschihad« kommen, hat ihm offenbar noch niemand nahegebracht. Die Opfer hatten Pech, wahrscheinlich waren sie über die einzig wahre Auffassung vom grundsätzlich toleranten Charakter dieser Religion genausowenig aufgeklärt wie der Täter. In den »postcolonial« geprägten Islamic studies weiß man es mehrheitlich besser und hat es bis jetzt virtuos geschafft, das dem Gegenstand reichlich anklebende Blut zu ignorieren.
Das heißt, »die Wissenschaft« (die es hier genausowenig gibt wie »die Medizin« in der Corona-Frage) ist untauglich, um über eine politische Haltung zum Islam, soweit er sich in Europa ausbreitet, zu entscheiden. Hier wie dort wird jeder die Experten berufen, die ihm gerade in die Agenda passen. Der Politiker und die Betroffenen (Täter wie Opfer) sind in dieser Materie in ihrer überwältigenden Mehrheit Laien, und sie sind nicht mit Auslegungsproblemen, sondern mit Lebens- und, was die Europäer als Individuen und Gesellschaften betrifft, Überlebensproblemen konfrontiert.
Ein Zweites: Von Rechten wird gern vorgetragen, Muslime würden »konservative Werte« vertreten. Diese Vorstellung ist (vorsichtig gesprochen) unscharf. Konservatismus bezeichnet, wenn man den Begriff nicht auf eine anthropologische Konstante reduzieren möchte, ein spezifisch europäisches Phänomen mit einer spezifisch europäischen Geschichte. Kann der Begriff wirklich einfach auf den Islam übertragen werden? Das scheint mindestens zweifelhaft. Das Argument dafür lautet regelmäßig, Muslime verträten mehrheitlich »noch intakte« Familienwerte und legten einen beeindruckenden Glaubenseifer an den Tag.
Das mag so sein, dieses Argument demontiert sich allerdings auf der Stelle, wenn man fragt, welche Auffassung von Familie da konkret vertreten wird: Vier legitime Ehefrauen, eine einfach vom Mann auszusprechende Scheidung, Kinder, die das Eigentum des Ehemannes darstellen – all das hat mit einem europäischen Familienbild wenig zu tun. Es gibt zwar, etwa was die Stellung des Patris familias betrifft, Berührungspunkte mit alteuropäischen Mustern, aber eben nur Berührungspunkte. Und falls man sich die Religiosität zum Vorbild nehmen will, hat man diese als leere Form und Formel behandelt: Die Glaubensinhalte von Christentum und Islam sind, werden sie ernst genommen, selbstverständlich inkompatibel (es irritiert, daß man das überhaupt aussprechen muß).
Die Idee, Gläubigkeit bzw. eine aktive Frömmigkeitspraxis als abstrakte Kategorie behandeln zu können, die unabhängig vom Inhalt als positiv zu bewerten wäre, hat mit der von rechts stets in Anspruch genommenen »Verteidigung des Eigenen« nichts zu tun; sie hat im Gegenteil dem Prinzip der Prävalenz des Eigenen den Abschied gegeben. (Die realpolitische Möglichkeit, mit bestimmten muslimischen Gruppen situativ Bündnisse zu schließen, wird von dieser Kritik natürlich nicht berührt. Sie steht auf einem völlig anderen Blatt.)
Die aktuellen Sympathien für den Islam haben auf der Rechten wohl nur mehr latent mit seinem idealisierten, populärkulturellen Abbild zu tun, sondern eher mit dessen im Wortsinn penetranter Durchsetzungsfähigkeit, Vitalität und triumphaler demographischer Zukunft. Dieser »Wert« ist jedoch inhaltsleer. Wie veräußerlicht hier »Konservatismus« aufgefaßt wird, zeigte mir jüngst die Lektüre eines Artikels, in dem der Verfasser sinngemäß bemerkte, die Aufregung über schiitische Geißlerprozessionen, wie neulich mitten im biederen Bonn, sei fehl am Platz, denn schließlich habe es im christlichen Mittelalter dergleichen auch gegeben … Mit Verlaub: Form ist wichtig, aber sie ist nicht alles. Könnte es sein, daß sich in der Konfrontation mit dem Islam eine Leere oder ein Mangel an definierten weltanschaulichen Zielen im Herzen der Rechten zeigt? Dann sollte man dies als Gelegenheit betrachten, das eigene Selbstverständnis zu präzisieren und zu schärfen.
Islamogauchisme ist ein Dauerphänomen, nicht nur in Frankreich – haben wir nun, als Draufgabe quasi, einen »Islamodroitisme«? Wenn man die Rechte als Lager mit einer Präferenz für starke Ordnungsstrukturen und Traditionen begreift, läge dieser ja sogar viel näher. Hat das mit der »dritten Widerstandsbewegung« nach Nolte zu tun: Linke und Rechte rebellieren auf ihre je eigene Art gegen die Moderne, deren Produkt sie sind, und sympathisieren deshalb mit dem Islamismus, den sie als verwandt zu erkennen glauben?
Diese Gemeinsamkeit in der Ablehnung ist freilich zu wenig: Wäre das alles, gäbe es für Rechte keinen Grund, nicht genausogut Linke oder radikale Muslime zu sein. Das käme einer ideologischen Bankrotterklärung gleich.
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(1) – Alfred Schlicht: »Der Islam als Gefährdung Europas. Der Koran über Nichtmuslime – und die Folgen«, in: Tumult. Vierteljahresschrift für Konsensstörung, Frühjahr 2024.
(2) – Franco Cardini: Europa und der Islam. Geschichte eines Mißverständnisses, München 2003, S. 142.
(3) – Ebd., S. 145.
(4) – Vgl. Siegfried Kohlhammer: »›Ein angenehmes Märchen‹. Die Wiederentdeckung und Neugestaltung des muslimischen Spanien«, in: ders.: Islam und Toleranz. Von angenehmen Märchen und unangenehmen Tatsachen, Springe 2011, S. 83 ff.
(5) – »Dschihad im Sex-Studio: Afghane stach 96mal zu!«, in: exxpress.at vom 2. März 2024.