Das ist insofern pikant, als die Autorin selbst über viele Jahre hinweg für die Verbreitung dieser nunmehr von ihr verworfenen Denkweise gesorgt hat. Zugleich bekennt sie sich in ihrer sehr persönlich gefärbten Wissenschaftsanalyse zu ihrem Glauben an die katholische Kirche, denn dieser war es, der sie zu einem christlichen Gegenentwurf der Geschlechterdichotomie inspiriert hat.
Als Christin hatte sich die evangelikal sozialisierte Favale schon immer verstanden, doch erst im Jahr 2014 machte sie den entscheidenden Schritt und wurde katholisch. Im selben Jahr kam auch ihr zweites Kind zur Welt. Dies waren zwei überwältigende Ereignisse in ihrem Leben, die sie wie ein Damaskus-Erlebnis beschreibt: Endlich war die Zeit reif für eine grundlegende Revision ihrer bisherigen Tätigkeit und der ihr zugrundeliegenden Theorie, deren Widersprüche und Ungereimtheiten ihr bereits lange zuvor aufgefallen waren.
Vor allem die Beobachtung, daß im Gender-Narrativ objektive, auf materiellen Gegebenheiten beruhende Kategorien keine Rolle spielen, berührte sie schmerzlich. Sie stellte fest, daß sie es mit einer “totalisierenden Weltanschauung” zu tun hatte, die Geschlecht wechselweise als “Geisteszustand” oder als individuellen Selbstentwurf betrachtet statt als körperliche Realität. Der Körper des Menschen werde zum Werkzeug seines eigenen Willens herabgestuft und verliere dadurch seine ihm inhärente Bedeutung. Die Einheit von Leib und Seele – nach Favale ein Kernelement des Christentums – gehe zu Bruch, Fragmentierung des Körpers und Zerstörung der seelischen Integrität seien die Folge.
Mit großer Überzeugungskraft weist die Philosophin nach, daß es bei der Gender-Ideologie nicht um die Befreiung des Menschen geht, schon gar nicht um die der Frau, im Gegenteil: Freiheit werde gemeinhin als das Sich-Hinwegsetzen von Grenzen und Begrenzungen verstanden, was fatale Auswirkungen hat. Diesem falschen Prinzip setzt Favale ein teleologisches Verständnis vom Menschsein entgegen, demzufolge wir wirklich frei sind, wenn wir uns im Rahmen der uns gesetzten natürlichen Beschränkungen als Persönlichkeiten entfalten.
Favale reibt sich sehr daran, daß ausgerechnet in einem philosophischen Konzept, das seinen Ausgang im Feminismus nahm, die Frau als solche nicht mehr vorkommt, denn “Frau” gilt nicht mehr als definierbar. Überdies werde deren Autonomie allzu oft als Loslösung von allen Attributen der Weiblichkeit interpretiert.
Allerdings: Nicht die feministische Bewegung als solche sei für diese Schieflage verantwortlich, wie sie betont, sondern der Feminismus der zweiten Welle (maßgeblich beeinflußt von Simone de Beauvoir) habe ein Wertesystem angenommen, das implizit auf das Männliche ausgerichtet sei. Es gebe ein tiefes Unbehagen gegenüber der Fruchtbarkeit von Frauen und ihrer Fähigkeit schwanger zu werden, ein Kind auszutragen und zu stillen. Die Kritik der Autorin am Feminismus findet somit aus einer dezidiert feministischen Perspektive heraus statt.
Ausführlich schildert sie die Genese und Auswirkung von staatlich geförderter Geburtenkontrolle, welche von Margaret Sanger und ihrer Organisation Planned Parenthood energisch vorangetrieben wurde. In der Legalisierung und Normalisierung von Verhütungsmitteln verortet Favale eine der vorrangigsten Ursachen der Gender-Theorie – eine These, die vielleicht doch ein wenig zu steil daherkommt.
In den letzten Kapiteln ihres Buches widmet sich die Wissenschaftlerin der aktuellen Forschung, läßt auch Betroffene zu Wort kommen, die eine Transition oder De-Transition mitgemacht haben und bezieht dabei neueste studienbasierte Daten mit ein, welche die Behauptung eines dritten oder “diverser” anderer Geschlechter widerlegen.
Insgesamt argumentiert die Professorin, die heute an der katholischen “University of Notre Dame” in Indiana lehrt, einfühlsam und wohlwollend. Bewußt meidet sie den Jargon intellektueller Verstiegenheit, der im Gender-Milieu üblich ist, und wird niemals polemisch. Manchmal freilich wünscht man sich, sie hätte mehr Biß, um deutlich zu machen, welche zerstörerische Dynamik die “einflußreichste und folgenreichste Theorie der westlichen Anthropologie” (wie Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz in ihrem Vorwort treffend formuliert) sowohl in der akademischen Lehre als auch in der lebenspraktischen Umsetzung entfaltet.
Abigail Favale hat ein überaus wichtiges Buch geschrieben, eines, das innerhalb der mittlerweile beachtlich angewachsenen Genderkritik-Literatur einen ganz anderen Standpunkt einnimmt, nämlich den der theologischen Reflexion. Ärgerlicherweise wird in der deutschen Übersetzung dieses Anti-Gender-Buchs selbst gegendert, ständig ist von “Studierenden” und “Teilnehmenden” die Rede – ein Schlag ins Gesicht der Verfasserin! Und ein Vorgehen von Seiten des Übersetzers und Verlages, das an bornierter Prinzipientreue nicht zu überbieten ist.
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Abigail Favale: Die geleugnete Natur. Warum die Gender-Theorie in die Irre führt, Freiburg im Breisgau: Herder 2024. 272 S., 26 Euro – hier bestellen.
Laurenz
@ER ... Die Definition von Leib & Seele ist vom Christentum nur adaptiert. Natürlich habe ich Abigail Favale nachgeschlagen. Sie vertritt mittlerweile ein althergebrachtes katholisches Verständnis von Mann & Frau. Die Frau solle ihrem Mann gehorchen. Das ist ein orientalischer Ansatz, der mit unserem Charakter, als Mitteleuropäer, nichts zu tun hat. Denn aus dieser orientalischen Struktur, auch im BGB, ließ sich der Feminismus, welcher die Frauen zu Hilfsmännern degradierte, überhaupt erst herleiten. Der einstige Katholik & Geistliche Bert Hellinger gab Eheheleuten oder Partnern einen wesentlich praktikableren Satz mit ins Leben: Der Mann dient der Frau & die Frau folgt dem Mann. Aufgrund der Öffentlichkeit von EK & GK, haben wir einen vergleichsweise guten Einblick in dieses katholisch bekennende Paar, welches aber kein alt-katholisches Verhältnis präsentiert, sondern ein Urdeutsches. Soweit man sehen kann, weist man sich, in Absprache, gegenseitig Verantwortungsräume zu. Dispute scheinen meist geklärt zu werden, denn, man liebt sich. Sieht zumindest so aus.