Das Handy hat nun, wie ganz selbstverständlich, unser Leben komplett revolutioniert, also umgedreht. Wie von allein haben sich innerhalb kürzester Zeit Verhaltensmuster durchgesetzt, die vor zwei Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wären.
War – nach Peter Sloterdijk – der Daumen noch der Evolutionsgewinner des Jahrzehnts um die Jahrtausendwende, als alle Welt plötzlich meinte, tagtäglich SMS auf kleinen dreistufigen Tasten eintippen zu müssen, so ist es jetzt wieder der Zeigefinger und jene Region im Hirn, die für Wischbewegungen zuständig ist. Schon ist das Netz voll mit „lustigen“ Videos, wo Kinder und andere Minderbemittelte Probleme durch Wischbewegungen lösen wollen, wo tatsächlich erste Welt sich vor ihnen befindet.
Bereits die Begriffe sind an Lächerlichkeit nicht mehr zu überbieten, ließe man sie sich nur einmal auf der Zunge zergehen. Handy z.B., ein alberner Hybrid, halb Englisch, halb Schwachsinn, eine deutsche Neuschöpfung aus Hand und klein und handlich, aber unbedingt noch verdenglischt. Die meisten europäischen Sprachen haben es wenigstens zu einem halbwegs technischen Begriff gebracht, der fast immer was mit „mobil“ zu tun hat.
„Selfie“ ist auch so ein semantischer Jammerlappen. Aber er paßt perfekt zu jener längst eingeübten imbezilen Tätigkeit – das ist der technische Imperativ par excellence –, sich permanent selbst zu photographieren, mit oder ohne Partner.
Man trifft jemanden und muß dies unbedingt auf der Speicherkarte haben. Man sieht einen prominenten Menschen und muß – bevor der hysterische Schreikrampf übernimmt – dringend noch dokumentieren, daß man die Person gesehen hat und diese ist längst so tief im Spiel drin, daß sie es lächelnd mitmacht und professionell das falsche Lächeln mit den blitzweißen Zähnen zeigt. Man lichtet die Lüge ab und ist stolz darauf. Oder man sitzt irgendwo und hat ein Essen bestellt und muß dies selbstverständlich aller Welt zeigen. Und so weiter.
Ich beobachte das nur von außen, habe in meinem Leben noch nie ein Selfie gemacht und bin vielleicht auf einem oder zwei doch irgendwo mit drauf – was ich bereue.
Das Selfie ist weltstürzend. Das wird uns bewußt, wenn wir das erste Selfie, das Selfie aller Selfies, das Ur-Selfie in Erinnerung rufen. Es ist so alt wie ich, die sogenannten Boomer sind die Selfie-Generation, ohne es geahnt zu haben. Sie sind mit dem wirkmächtigen Bild von sich selbst als selbstverständlichem Hintergrund aufgewachsen. Es wurde am 1.12.1966 aufgenommen, als der ATS‑1, der Applications Technology Satellite 1 mit der Spin Scan Cloud Camera aus dem All das erste Gesamtphoto von der Erde als Kugel machte.
Seither glauben wir, die Draufsicht zu haben. Da haben wir die Unschuld über uns selbst verloren, die Menschen sind sich selbst über den Kopf gewachsen und niemand kann mehr sagen, er habe es nicht gesehen. Mit dieser Evidenz wachsen seither alle nachfolgenden Generationen auf – unsere war die erste. “Wer heute zur Welt kommt, wird Bürger eines bewölkten, sich selber photographierenden Sterns” (Sloterdijk).
Wir werden in die permanente und komplette Selbstansicht, ins Über-Selfie hineingeboren. Mit diesem ersten Photo von uns hat der Aufschrei von Nietzsches „tollem Menschen“ seine bildliche Wiedergabe gefunden:
Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?
Das Erschreckende an diesem Ereignis ist jedoch, wie wenig es die Menschen erschreckt, wie schnell man sich an diese Ungeheuerlichkeit gewöhnt, wie man sie nach einem kurzen Staunen hingenommen hat, ohne einen weiteren Gedanken darüber zu verschwenden.
So ist es seither mit allem, mit jeder neuen und weiteren Entgrenzung. Man macht einfach mit: man nahm das Telefon ab, als sei es das Normalste der Welt, man setzte sich vor den Fernseher und sah live beim Fußballspiel in Brasilien zu, dann vor den Computer, dann wurde das Internet ohne weitere Fragen akzeptiert und produktiv angenommen, heute schaut man Pornos am Stück und hat vergessen, wie es war, als Intimität noch ein Spiel, ein Entdecken, ein Abtasten, ein Staunen und Wundern war usw. usf.
Auch das „Handy“ nahm man unreflektiert in die Hand, obgleich es ein jahrzehntelanges Moratorium und Nachdenken verdient hätte wie ein gefährliches Medikament, mit Studien, Experimenten, Einnahmeempfehlungen, Warnungen und Limitierungen; und schon setzt man sich Brillen vor die Augen, um in virtuelle Welten abzudüsen. Bald werden die ersten Freiwilligen vortreten, um sich den Implantaten in Hirn und Augen zur Verfügung zu stellen.
Das Selfie von heute wird dann schon wieder vergessen sein, junge Leute werden über die Alten lachen, die sich noch vor eine Linse auf ausgestrecktem Arm stellten und die Chips, auf denen die Bilder „lagern“, werden keinen Slot mehr finden, in den man sie wird einschieben können. Man wird immer das Alte für das Idiotische halten und nicht begreifen, daß das Neue das Verrückte ist.
Diogenes
"(...) Das Selfie (...) Das sagt alles aus. Mehr muss man nicht gelesen haben. Das Unverständliche als Normalverkauf. "Selfie". - Ich könnte auch sagen: Verdammt hoch hier die Decke, in einem Schauspiel Odysseus & Zyklop. - Kommt auf das Selbige hinaus was der eigener Sprache keinen Respekt erweist.