Jörg Seidel schreibt über das erste Selfie

Von Günther Anders stammt die These, daß die Technik ihre eignen Imperative durchsetzt, unabhängig der Gesellschaftssysteme oder der sozialen Lagen. Weshalb der ewige Aufruf, die moderne Technik doch bedachtsam zu nutzen, zwar gut gemeint, aber leider ziemlich naiv ist.

Das Han­dy hat nun, wie ganz selbst­ver­ständ­lich, unser Leben kom­plett revo­lu­tio­niert, also umge­dreht. Wie von allein haben sich inner­halb kür­zes­ter Zeit Ver­hal­tens­mus­ter durch­ge­setzt, die vor zwei Jahr­zehn­ten noch undenk­bar gewe­sen wären.

War – nach Peter Slo­ter­di­jk – der Dau­men noch der Evo­lu­ti­ons­ge­win­ner des Jahr­zehnts um die Jahr­tau­send­wen­de, als alle Welt plötz­lich mein­te, tag­täg­lich SMS auf klei­nen drei­stu­fi­gen Tas­ten ein­tip­pen zu müs­sen, so ist es jetzt wie­der der Zei­ge­fin­ger und jene Regi­on im Hirn, die für Wisch­be­we­gun­gen zustän­dig ist. Schon ist das Netz voll mit „lus­ti­gen“ Vide­os, wo Kin­der und ande­re Min­der­be­mit­tel­te Pro­ble­me durch Wisch­be­we­gun­gen lösen wol­len, wo tat­säch­lich ers­te Welt sich vor ihnen befindet.

Bereits die Begrif­fe sind an Lächer­lich­keit nicht mehr zu über­bie­ten, lie­ße man sie sich nur ein­mal auf der Zun­ge zer­ge­hen. Han­dy z.B., ein alber­ner Hybrid, halb Eng­lisch, halb Schwach­sinn, eine deut­sche Neu­schöp­fung aus Hand und klein und hand­lich, aber unbe­dingt noch verd­eng­lischt. Die meis­ten euro­päi­schen Spra­chen haben es wenigs­tens zu einem halb­wegs tech­ni­schen Begriff gebracht, der fast immer was mit „mobil“ zu tun hat.

„Sel­fie“ ist auch so ein seman­ti­scher Jam­mer­lap­pen. Aber er paßt per­fekt zu jener längst ein­ge­üb­ten imbe­zi­len Tätig­keit – das ist der tech­ni­sche Impe­ra­tiv par excel­lence –, sich per­ma­nent selbst zu pho­to­gra­phie­ren, mit oder ohne Partner.

Man trifft jeman­den und muß dies unbe­dingt auf der Spei­cher­kar­te haben. Man sieht einen pro­mi­nen­ten Men­schen und muß – bevor der hys­te­ri­sche Schrei­krampf über­nimmt – drin­gend noch doku­men­tie­ren, daß man die Per­son gese­hen hat und die­se ist längst so tief im Spiel drin, daß sie es lächelnd mit­macht und pro­fes­sio­nell das fal­sche Lächeln mit den blitz­wei­ßen Zäh­nen zeigt. Man lich­tet die Lüge ab und ist stolz dar­auf. Oder man sitzt irgend­wo und hat ein Essen bestellt und muß dies selbst­ver­ständ­lich aller Welt zei­gen. Und so weiter.

Ich beob­ach­te das nur von außen, habe in mei­nem Leben noch nie ein Sel­fie gemacht und bin viel­leicht auf einem oder zwei doch irgend­wo mit drauf – was ich bereue.

Das Sel­fie ist welt­stür­zend. Das wird uns bewußt, wenn wir das ers­te Sel­fie, das Sel­fie aller Sel­fies, das Ur-Sel­fie in Erin­ne­rung rufen. Es ist so alt wie ich, die soge­nann­ten Boo­mer sind die Sel­fie-Gene­ra­ti­on, ohne es geahnt zu haben. Sie sind mit dem wirk­mäch­ti­gen Bild von sich selbst als selbst­ver­ständ­li­chem Hin­ter­grund auf­ge­wach­sen. Es wur­de am 1.12.1966 auf­ge­nom­men, als der ATS‑1, der Appli­ca­ti­ons Tech­no­lo­gy Satel­li­te 1 mit der Spin Scan Cloud Came­ra aus dem All das ers­te Gesamt­photo von der Erde als Kugel machte.

Seit­her glau­ben wir, die Drauf­sicht zu haben. Da haben wir die Unschuld über uns selbst ver­lo­ren, die Men­schen sind sich selbst über den Kopf gewach­sen und nie­mand kann mehr sagen, er habe es nicht gese­hen. Mit die­ser Evi­denz wach­sen seit­her alle nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen auf – unse­re war die ers­te. “Wer heu­te zur Welt kommt, wird Bür­ger eines bewölk­ten, sich sel­ber pho­to­gra­phie­ren­den Sterns” (Slo­ter­di­jk).

Wir wer­den in die per­ma­nen­te und kom­plet­te Selbst­an­sicht, ins Über-Sel­fie hin­ein­ge­bo­ren. Mit die­sem ers­ten Pho­to von uns hat der Auf­schrei von Nietz­sches „tol­lem Men­schen“ sei­ne bild­li­che Wie­der­ga­be gefunden:

Wer gab uns den Schwamm, um den gan­zen Hori­zont weg­zu­wi­schen? Was tha­ten wir, als wir die­se Erde von ihrer Son­ne los­ket­te­ten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewe­gen wir uns? Fort von allen Son­nen? Stür­zen wir nicht fort­wäh­rend? Und rück­wärts, seit­wärts, vor­wärts, nach allen Sei­ten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unend­li­ches Nichts? Haucht uns nicht der lee­re Raum an? Ist es nicht käl­ter gewor­den? Kommt nicht immer­fort die Nacht und mehr Nacht?

Das Erschre­cken­de an die­sem Ereig­nis ist jedoch, wie wenig es die Men­schen erschreckt, wie schnell man sich an die­se Unge­heu­er­lich­keit gewöhnt, wie man sie nach einem kur­zen Stau­nen hin­ge­nom­men hat, ohne einen wei­te­ren Gedan­ken dar­über zu verschwenden.

So ist es seit­her mit allem, mit jeder neu­en und wei­te­ren Ent­gren­zung. Man macht ein­fach mit: man nahm das Tele­fon ab, als sei es das Nor­mals­te der Welt, man setz­te sich vor den Fern­se­her und sah live beim Fuß­ball­spiel in Bra­si­li­en zu, dann vor den Com­pu­ter, dann wur­de das Inter­net ohne wei­te­re Fra­gen akzep­tiert und pro­duk­tiv ange­nom­men, heu­te schaut man Por­nos am Stück und hat ver­ges­sen, wie es war, als Inti­mi­tät noch ein Spiel, ein Ent­de­cken, ein Abtas­ten, ein Stau­nen und Wun­dern war usw. usf.

Auch das „Han­dy“ nahm man unre­flek­tiert in die Hand, obgleich es ein jahr­zehn­te­lan­ges Mora­to­ri­um und Nach­den­ken ver­dient hät­te wie ein gefähr­li­ches Medi­ka­ment, mit Stu­di­en, Expe­ri­men­ten, Ein­nah­me­emp­feh­lun­gen, War­nun­gen und Limi­tie­run­gen; und schon setzt man sich Bril­len vor die Augen, um in vir­tu­el­le Wel­ten abzu­dü­sen. Bald wer­den die ers­ten Frei­wil­li­gen vor­tre­ten, um sich den Implan­ta­ten in Hirn und Augen zur Ver­fü­gung zu stellen.

Das Sel­fie von heu­te wird dann schon wie­der ver­ges­sen sein, jun­ge Leu­te wer­den über die Alten lachen, die sich noch vor eine Lin­se auf aus­ge­streck­tem Arm stell­ten und die Chips, auf denen die Bil­der „lagern“, wer­den kei­nen Slot mehr fin­den, in den man sie wird ein­schie­ben kön­nen. Man wird immer das Alte für das Idio­ti­sche hal­ten und nicht begrei­fen, daß das Neue das Ver­rück­te ist.

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Kommentare (49)

Diogenes

17. September 2024 20:37

"(...) Das Selfie (...) Das sagt alles aus. Mehr muss man nicht gelesen haben. Das Unverständliche als Normalverkauf. "Selfie". - Ich könnte auch sagen: Verdammt hoch hier die Decke, in einem Schauspiel Odysseus & Zyklop. - Kommt auf das Selbige hinaus was der eigener Sprache keinen Respekt erweist. 

Heino Bosselmann

17. September 2024 21:06

Wenn schon „Ungeheuerlichkeit“, dann liegt sie nicht zuerst im Medium, scheint mir, sondern in der Entstehung eines Wesens, das sich in erster Person, dem Ich, nicht nur mit beobachtender und urteilender Distanz der Welt gegenüberstellt, sondern sogar sich selbst. Und ein Bild, ja sogar einen abstrakten Begriff hat sich dieses Wesen von allem gemacht, worauf sein Augenlicht fiel – ob nun auf den Mond oder auf den Spiegel mit dem eigenen Antlitz darin. Rembrandts Selbstbildnis mag künstlerisch immens wertvoll sei, aber es ist, mit Verlaub, durchaus ein Selfie: Rembrandt fecit! Und die Draufsicht auf die Welt, gar auf das Universum, erlangte das Ich-Wesen Mensch lange vor 1966. Einer High-Tech-Optik bedurfte es dafür nicht, nur des Bewußtseins von sich und dem anderen. Das Drama liegt intern in uns, es kommt nicht extern über „Tools“ auf uns zu; wir sagen „ich“ und „du“ und „es“. Wir können nicht anders. Nachdem er vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, erschrak der zum Bewußtsein seiner selbst erwachte und sich daher „kritisch“ betrachtende und begreifende Adam, weil er erkannte, daß er nackt war – und versteckte sich aus plötzlich einsetzender Scham, dem ersten sich wertenden Moralimpuls. Und Gott wußte, was für ein Update damit erfolgt war und welche Tragödie nun begann …

Laurenz

17. September 2024 22:12

Wenn der Kaiser, als Promi, bei Kaiserwetter (wegen der Photos), seine Hütte verließ, jubelte ihm ja auch der Mob zu. Natürlich ersetzt bei vielen der Speicher im Rechner das Gedächtnis, aber das tut auch jedes Buch, jede Schrift. Ich kann mich genau, ohne jedes Photo, daran erinnern, daß 1983 der schwule Ivan Rebroff einen Auftritt (bei den Spießern) im Wehrheimer Bürgerhaus schmiß, um mit 2 Handballmannschaften 18jähriger Party im Jugendzentrum (im Keller des Bürgerhauses) zu feiern & zu saufen. Er benahm sich, klug, wie Er war, völlig korrekt, unvergeßlich. Ihre Kritik an der Porno-Nummer (das Bett ist das Opernhaus des armen Mannes), wirkt doch arg aus einem ländlichen Stillleben entnommen. Auch dieser Pseudo-Hedonismus war schon immer nur eine soziale Frage. Noch nie Pompeji besucht? Dann wird's aber mal Zeit. Ich sehe hier nur eine Problematik, die bei Kindern & Jugendlichen zu regeln ist.

anatol broder

17. September 2024 22:43

öffentliche selbstbefriedigungen drücken einsamkeit aus. in rudel ausgeführt wirken sie wegen des widerspruchs zusammen-und-allein besonders schändlich (kitschig).

Laurenz

18. September 2024 12:09

@JS ... Bei Photos der Erde sollten Sie aufpassen. Die meisten sind Collagen. Natürlich kann fast jeder zaubern, wie Nietzsche & das Bewußtsein auf die Größe der gesamten Menschheit aufblasen. Das ist die einfache Magie einer Aufstellung. Der Nachteil ist, man verliert in diesem Augenblick die Sicht auf die Nähe, das kleine, das Detail. Nachrichten, Kommunikation außerhalb des persönlichen Gesprächs sind in ihrer Entwicklung immer zuerst militärischer Natur (daher unaufhaltsam) oder, wie in Skandinavien, einer dünnen Bevölkerungsdichte ohne teure Leitungen geschuldet. (Der berühmte & äußerst kurzlebige Pony-Expreß war zB infrastrukturell viel zu teuer.) Post, Boten, Fernmelder waren das Privileg der Oberschicht, der Offiziere. Auch das Selfie (habe bisher nur ein einziges für eine Geliebte produziert) ist das Resultat einer sozialen Revolution zugunsten der Armen. Die niederländische Gemälde-Tradition wurde mit dem fast unvorstellbaren Reichtum durch Sklaven- & Gewürzhandel im goldenen Jahrhundert der Niederlande (quasi bis zum heutigen Tag) erwirtschaftet. Selfies sind billige Gemälde.

Umlautkombinat

18. September 2024 12:28

Der Analogiebogen vom Selfie zur ersten kompletten Aufnahme der Erde aus dem Weltraum ist schon sportlich. Das den Schnappschuss umfassende Weltbild des Autors kann man - wie immer bei Erwachsenen - natuerlich auf dieser Ebene Internet end- aber letztlich immer nur fruchtlos aufdroeseln. 
 
Ich kann meine eigene Meinung danebenstellen. Die beschreibt eher in der Art "eines Tages wird der Himmel sich oeffnen und der Erdkreis sich auftun" ein weitgehend positives Verhaeltnis zu Entdeckung. Die Reflektion wie von diesem Foto versinnbildlicht hat dabei  nichts mit den Bauchbespiegelungen eines Smartphones zu tun - sie ist im Prinzip das Gegenteil. Diese Haltung sollte uebrigens nicht mit dem simplifizierten Positivismus des Zwerges verwechselt werden, der hier einmal schrieb.
 
Zum Schluss noch der Standardlink, diesmal buchstaeblich zum Thema passend.

Simplicius Teutsch

18. September 2024 13:59

Das Wort „Handy“ ist doch kurz, eindeutig und bezeichnet im Deutschen geradezu anschaulich das Ding, das man da in der „Hand“ hält. Ich verstehe nicht die verächtliche Kritik an diesem Wort. Wäre „Smartphone“ besser? Oder „Wischkästla“, wie vielleicht der Franke dialektbewusst sagen könnte?
 
Das Fotografieren, Videomachen mit dem Handy und das Verschicken an Bekannte, oder an wen auch immer, ist nun mal technisch kinderleicht geworden. Es ist soziale Kommunikation (natürlich oft auch berufliche). Es ist teilweise Ersatz für den Stammtisch, das Familientreffen, für das herkömmliche Telefon, das Radio, den Fernseher, den Brief, die Ansichtskarte oder für den vormaligen Einkauf und Plausch im Tante-Emma- oder Metzger-Laden. Ja, es ist ein Wunderding. Die große Gefahr liegt aber nicht im „Selfi“-Machen.
 
Wer Familie, Verwandte und Bekannte hat oder in Vereinen und Gruppen aktiv ist oder auch nur passiv teilnimmt, der weiß die Vorteile des (smarten) Handy zu schätzen. Und es ist eine Speicherkarte, aber nicht immer so extrem: @ Jörg Seidel: „Man trifft jemanden und muß dies unbedingt auf der Speicherkarte haben.“ 

Le Chasseur

18. September 2024 14:42

Seit gestern wissen wir, dass ein Smartphone nicht nur zur totalen Überwachung (Ortung, Mitlesen/-hören der Kommunikation), sondern auch zur Ermordung des Benutzers verwendet werden kann.

Der Gehenkte

18. September 2024 17:10

Man darf wohl annehmen, daß das zeitgleiche Hochladen des Gespräches mit Martin Lichtmesz über »Kulturschwellen, Smartphones, Kulturkritik« nicht ganz zufällig erfolgte. Paßt! 
Diese Fragen sind tatsächlich größer als die individuellen Befindlichkeiten. Ich selbst bezweifle, daß selbst die Klugen klüger werden - auch unter denen werden es die meisten durch diese Medien nicht. Sie sammeln nur mehr Fakten - eine Frage der Verwechslung von Quantität und Qualität. Heidegger hätte sich dem Smartphone wohl verweigert und dennoch Wesentlicheres über Technik zu sagen gehabt, als alle Google-Könige zusammen. 

Kurativ

18. September 2024 19:13

Der technische Fortschritt referenziert, multipliziert und qualifiziert sich selber und sein Fortschreiten lässt sich nicht aufhalten.
Vom Speer in der Hand eines Neandertalers bis zum RFID-Chip subkutan im Arm eines Supermarktkunden, beeinflusst das technische Gerät seinen Benutzer. Diese Eigenschaft von Technik auf den Menschen beeinflusst den den Fortgang des technischen Fortschritts nicht: Unbedachte Anwendung wie auch bewusste Anwendung wird auf unterschiedlicher Art Teil des nächsten "technischen Fortschritts".
Die Menschen und die Technik stehen einen fremd und getrennt gegenüber. Die Menschen schauen rüber zur Technik und fragen sich: Soll ich oder soll ich nicht. Problematisch wird es erst wenn man keine andere Wahl mehr hat, wie beim Übergang von Bargeld zum zentral gesteuerten Digitalgeld.
Hier zeigt sich, dass sich mit zunehmenden Fortschritt der Nutzen zum Herrschenden verschiebt. Der Neandertaler hat sein Speer selber gefertigt. Der Nutzer der heutigen Technik benutzt etwas aus den Laboren fremder Mächte und gibt seine Freiheit und Intimität immer mehr an diese Herrschaftsstrukturen ab.

Liselotte

18. September 2024 23:30

Ich muß sagen, daß mir ständig Smartphone-Nutzer, aber fast noch keine Selfie-Macher untergekommen sind. Asiatische Touristen im Park mal. Mit der Kamera nach außen wird aber oft und gern fotografiert, gerade auch Essen. Die Kamera zum Gesicht hin ist mehr für Identifikationszwecke, etwa gegenüber Banken, und insofern eine Überwachungsfunktion, weniger ein harmloser Selbstauslöser.

Olmo

19. September 2024 00:03

Gerät man mit irgendeinem Idioten aneinander, steht gleich ein weiterer Idiot dabei und nimmt es auf. Man kann sich gar nicht mehr gehen lassen, ständig läuft man Gefahr, sich tatsächlich vor der ganzen Welt zu blamieren. Ein Alptraum. Was bin ich froh, daß es zu meiner Sturm und Drang Zeit noch keine Smartphones gab. 

Laurenz

19. September 2024 09:24

@Kurativ ... Der Neandertaler hat sein Speer selber gefertigt. ... Ziemlich unwahrscheinlich. Gerade die Herstellung von Waffen, insbesondere Feuerstein-Klingen, wurde mit aller Wahrscheinlichkeit bereits von Spezialisten vorgenommen. Das kann man am besten an der Kunst festmachen. Genauso, wie heute nur wenige gut zeichnen können, war das seinerzeit bei Höhlen-Malereien auch nicht anders.

Adler und Drache

19. September 2024 09:27

Gibts den technischen Errungenschaften von Seiten der Rechten eigentlich auch Positives abzugewinnen, oder bleiben wir blasenkonform in der Kulturkritikelei stecken? Oder ist das gar etwas typisch Deutsches?
Was mir auffällt: Seit jedermann ein Handy hat, verhalten sich alle so, wie ich mich seit meiner Kindheit verhalte - in mich gekehrt, schweigend, die anderen möglichst ignorierend, lesend. Früher galt ich damit als sonderbar, jetzt sind alle sonderbar und ich bin normal. Jeder ist in seiner eigenen Welt. In einer vollgestopften Berliner Bahn, wo man zur Tuchfühlung mit anderen geradezu gezwungen ist, ist das durchaus entlastend. 
 

Laurenz

19. September 2024 10:46

@Adler & Drache ... Ihr letzter Beitrag ist berechtigt. Ohne Deutsche Innovation würden heute 4 Milliarden Menschen weniger existieren. Diesem Fakt kann man negatives, wie auch positives abgewinnen. Früher hatten alle in der Bahn die Zeitung aufgeschlagen, da ist das mobile Telefon für alle komfortabler. Meine Empfehlung ist, keine Bahn zu fahren. Meine letzte Bahnfahrt fand 2013 statt & ich kann seit insgesamt fast 40 Jahren Bahnfahrten an 8 Händen abzählen. Eine Kommune, die mir keine Parkmöglichkeiten bietet, will auch meinen Besuch nicht. Selbst in Wartezimmern schaue ich meist aus dem Fenster oder blättere in einer Fachzeitschrift. Wie Sie es skizzieren, schaue ich viel alleine in meinen Rechner. Aber, wie man dann auf die Idee kommen kann, auf einen Popel-Bildschirm mit unkomfortabler Tastatur zu glotzen, fällt mir selbst im Traum nicht ein. https://www.aargauerzeitung.ch/international/frankreich-wir-steuern-auf-eine-katastrophe-zu-dieses-dorf-verbietet-jetzt-handys-in-der-oeffentlichkeit-ld.2584324

Umlautkombinat

19. September 2024 11:05

@Adler und Drache
 
> eigentlich auch Positives abzugewinnen
 
Natuerlich nicht :-). Es ist doch aber auch viel grundlegender. Ich habe mir den Anfang des auch hier verlinkten Gespraechs von Kubitschek mit Lichtmesz einmal angesehen. Da fuehrt ersterer eine Sentenz Sieferles, die Vernutzung  "unterirdischer Waelder" als Beispiel fuer Kulturschwellen vor dem Einbruch des Digitalen ins Feld. Schoenes Bild, aber eben auch arg romantisierend. Ich meine, vorher wurden schon die richtigen Waelder verheizt (England, natuerlich Deutschland sind klassische Beispiele, nicht vergessen die sprichwoertlichen "Zedernwaelder des Libanon"). Auch das Pferd, welches vom Acker frisst, den es gepfluegt hat, ist eben nicht kostenlos. Denn das ist der Punkt. Leben ist Existenz fernab vom thermodynamischen Gleichgewicht. Jedes Leben, auch Tier und Pflanze. Stoff"wechsel" ist streng genommen falsch. Es wird Stoff gewandelt in enrgieaermeren Stoff. Die Differenz ist der Energiebedarf des Lebewesens. Beim Menschen benoetigt das Gehirn 20% davon (zunehmender Punkt bei KI uebrigens). Es wird hier gern von der conditio humana geredet, wenn es ins Bild passt. Das gehoert auch - und zwar mit Abstand primaer - dazu. Das schiebt voran und ist nicht mit Entsagungsphantasien rueckabzuwickeln, schon gar nicht als ueberwiegende Kulturbetrachtung. Embrace, extend - und vermeide dadurch das eigene 'extinguish'.

RMH

19. September 2024 11:15

Gibts den technischen Errungenschaften von Seiten der Rechten eigentlich auch Positives abzugewinnen, oder bleiben wir blasenkonform in der Kulturkritikelei stecken? Oder ist das gar etwas typisch Deutsches? Das ist ein berechtigter Einwand. Positiv aus rechter Sicht kann am Smartphone die konkrete, politische Kampagnen-Nutzbarkeit sein. Das wurde ja vielfach schon dargestellt, errinnert sei an die Telegram-Kanäle, die sofortige Dokumentation durch Bild- & Videoaufnahmen wenn etwas mal wieder schief läuft & was dann nicht mehr so leicht unterdrückt werden kann (aber eben auch ordentlich manipuliert werden kann). Chance & Risiko. Ich persönlich sehe den massiven Einschnitt nicht so sehr im Smartphone an sich, sondern in der globalen Vernetzung & des damit einhergehenden, begonnenen Verlustes der eigenen Datenhoheit & Autonomie. Früher, bei stationären Rechnern hat man ein Programm gekauft & lokal genutzt. Die Daten waren lokal auf der eigenen Festplatte. Heute funktioniert immer weniger lokal, überall hat man "Apps" & benötigt Online-Zugang. Programme funktioneren nicht mehr richtig nach Zeitablauf, etc. - Könnte man noch länger ausführen, aber man hängt im Netz wie der Fisch & zappelt eben bei Bedarf. Man hat zunehmend nur noch die Wahl zw. gar nicht (was immer schwerer wird) oder dabei sein & damit gläsern & überwachbar werden. Ein bisschen schwanger geht in der modernen EDV Welt nicht mehr (das gilt für den Normalbürger, Experten finden ggf. Schlupflöcher).

Olmo

19. September 2024 13:41

@Adler und Drache
Ich erinnere mich an meinen ersten Versuch, im Tabakladen(warum im Tabakladen?) ein Pornoheft zu kaufen— wie peinlich, und ich habe es noch nicht einmal bekommen. Da hatte der kleine Olmo rote Ohren. Spaß beiseite. 
Ein Freund, der ein guter Skater ist, berichtete, daß es schier unglaublich sei, was Kinder heute schon drauf hätten. Mit dem, was heute durchschnitt sei, wäre man zu seiner Zeit ein Star geworden. Ähnlichen gilt für Fußball usw. Youtube: monkey see, monkey do. Ein Cousin meiner Frau war zu Besuch und bekochte uns, es war köstlich, das hätte ich ihm nicht zugetraut, ob er das von Tante R gelernt habe? lacht, ach was, Instagram.
Mir ist das Smartphone trotzdem unheimlich, und das ständige fotografiert und gefilmt werden, ist mir unangenehm. Mein Alptraum, totgeschlagen werden, und es gibt ein Video davon, welches sich Freunde und Verwandte anschauen. 

Artabanus

19. September 2024 16:57

Man muss schon unterscheiden zwischen dem alten Mobiltelefon, Handy genannt, meist von Nokia, und dem vor ca. 15 Jahren aufgetauchten Smartphone. Das Smartphone stellt eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte dar, soviel ist sicher.

Wuwwerboezer

19. September 2024 20:50

Unvergesslich für mich der chinesische Tourist aus einer chinesischen Touristengruppe, der hier in Züri die Gossendeckel fotografiert hat als wären sie Pretiosen der Kultur- und Kunstgeschichte! Prada-Sonnenbrille und Dolce-&-Gabbana-Täschchen trug er, mundus nobiliter perit!
 - W.

Liselotte

19. September 2024 22:29

@Artabanus: ich denke nicht. Für mich war die Zäsur zwischen Festnetz (ortsfest, als Telefonzelle anonym) und Handy (persönlich, auch bereits Ortungswanze). Mit dem Smartphone kam die stets verfügbare Kamera dazu und das Internet, es wurde vollständig googleabhängig. Das tyrannische persönliche Überwachungselement war vom Handy an abzusehen.

das kapital

20. September 2024 11:23

An "demokratischer" Stelle wird teils behauptet, 70 Prozent der Welt seien "entsetzt" über die inhaltlichen und die Wahlerfolge der AfD. Während doch selbst der größte Blindfisch sehen kann, wie entsetzlich und zerstörerisch die Folgen der parteiübergreifenden Langfristpolitik seit 1990 sind. Peter Hahne: "die ganze Welt lacht über uns." "Von einer Nation,die als lächerliche empfunden wird, kauft niemand mehr." Made in Germany wird durch den Krieg gegen Rechts zur Lachnummer.  /// Es mag ja sein, dass es bei der AfD auch einige verdammt uneinsichtige gibt. Im Wesentlichen aber sind inzwischen auch dort vernünftige Leute am Drücker. Das ganze Gequake Oh, ihr Nazis, den Höcke darf man ja sogar gerichtlich festgestellt "Faschist" nennen, wie das aber nur alles gefährlich ist, wenn wir demnächst wieder bei 33 bis 45 landen, verfängt nicht mehr. Es kann über die katastrophale Leistung der Spinner Lügner und Märchenerzähler nicht länger hinwegtäuschen. /// Deutschland hat nach 1990 alles versemmelt, was seit 1945 in harter und mühevoller Kleinarbeit aufgebaut worden ist. Die Substanz geht flöten und Pfeifen wie Kühnert, Land und Hofrichter werden hier nichts errichten, dass auch nur irgendjemandes Zukunft absichert. Die Hysterie bleibt, Deutschland ist am Arsch. Nenn Deine Kinder nicht Carola.

Laurenz

20. September 2024 12:34

@Liselotte @Artabanus ... Die Funktechnik wurde in Skandinavien aus einer infrastrukturellen Notwendigkeit heraus für den privaten Gebrauch entwickelt. Und Elon Musk hat dem mit Starlink bisher die Krone aufgesetzt. Das Militär ist nur zu gerne bereit, all diese Innovationen anzunehmen, weil man sich damit die Fernmelder sparen kann.
@Artabanus ... ist keine Zäsur. Ist nur Photoapparat, Kamera, Plattenspieler, Kassettenrekorder, Telefon, Uhr, Wecker, Zeitung, Lexikon, TV, Taschenlampe etc. in einem Gerät.

herbstlicht

20. September 2024 12:53

@Adler und Drache, 19. September 2024 09:27  »Gibts den technischen Errungenschaften von Seiten der Rechten eigentlich auch Positives abzugewinnen, ...«
Meine schon.  Stütze mich dabei aud die Familienüberlieferung: der Vater kam als erstes Kind aus dem Dorf im Oberpfälzer Wald an die Realschule in der Stadt; legte 1933 das Staatsexamen in Naturwissenschaften ab und war dann bis zum Krieg Assistent bei einem der namhaftesten Zoologen Deutschlands.  Ich hörte bis zu senem Tod Ende 90-er immer wieder eine gewisse Bitterkeit heraus, über die Armut, in welcher er hatte aufwachsen müssen --- wobei er aus einem der wohlhabensten Häuser des Dorfes kam.  Kein Buch, welches ihm die Rätsel, welche er in der Natur fand, deuten konnte; kein optisches Hilfsmittel, um sie zu studieren.  Über den ungestillten Hunger nach dem "Wissen der Welt" kann man gut nachlesen in Hans Grimms "Volk ohnr Raum" (auf archive.org einzusehen); Teil "Unterweser" und dann auch die Rede des Cornelius Fribott an der Hauptmann der Schutztruppe beim Ausritt in die Kalahari.  Siehe auch Raabe, Ebner-Eschenbach.  Erinnere auch etwas einen Aufsatz Tolstojs, in welchem er mit der Tatsache kämpft, daß die Masse der Menschen im Elend leben muß (auch Bleivergiftung der Drucker/Setzer) damit eine Elite Zugang zum Wissen hat.

Adler und Drache

20. September 2024 13:47

@ Umlautkombinat
Sehr schön! Die moralische Anklage, die dem gesamten Menschengeschlecht vorgetragen wird, und in die Sieferle ja im Grunde einstimmt, ist nicht nur nutzlos und eitel, sondern möglicherweise auch Symptom untergehender Kulturen. Nietzsche leuchtet mir ein. Ich zweifle nicht daran, dass die deutsche Kultur eine untergehende ist. Das kann man als Einzelner nicht willentlich ändern. Das ist Schicksal. Alles mögliche wird als Bedrohung, als potentielle Schwächung des eigenen Stands wahrgenommen, eben auch die Technik. Ich selbst will rauskommen aus diesem Modus, es ist mir alles zu beengt, zu klein, zu abgedämpft. Man muss wenigstens ein paarmal im Leben spüren, was großes, weites, selbstvergessenes Leben ist.  
 

Artabanus

20. September 2024 16:59

@Liselotte
Das Handy hat für mehr direkte Kommunikation zwischen den Menschen gesorgt, das Smartphone eher für das Gegenteil. Außerdem, ohne Smartphone hätte es die koordinierte Masseneinwanderung seit 2015 wahrscheinlich nie gegeben, ebensowenig wie die Plandemie. Mit einem alten Nokia hätten sich die ganzen Talahons nie auf den Weg nach Europa gemacht. Ohne Smartphone wären die ganzen Freiheitseinschraenkungen während der Plandemie unmöglich gewesen. Ohne Smartphone wäre Twitter auch niemals so erfolgreich geworden. Das gesamte Internet hat sich durch Smartphones völlig verändert. Vor Smartphones brauchte man einen PC um ins Internet zu kommen, erst durch das Smartphone ist nun die gesamte Menschheit ständig im Internet. Das Smartphone ist mit Sicherheit mehr Fluch als Segen. Dagegen waren die alten Handys noch harmlos. Man war halt überall für seine Arbeitskollegen und Verwandte/Bekannte erreichbar und konnte per SMS kommunizieren aber mehr war da noch nicht.
 

Majestyk

20. September 2024 18:30

@ Lieselotte:
Fürs klassische Handy brauchte man aber noch Triangulation zur Ortung und das Teil mußte auch eingeschaltet sein. Man kann es mit Technikfeindlichkeit aber auch übertreiben. Übers Automobil oder Fernsehen hat man auch einst gespottet. Die Technik kann aber auch nichts dafür, wenn politische Rahmenbedingungen einen Mißbrauch zulassen, bzw. der Staat seine Macht mißbraucht. Ein Handy könnte auch anonym genutzt werden und ich habe das auch eine ganze Weile getan. Auch muß niemand ein Smartphone nutzen, wenn er nicht will, ich habe auch keines und Alternativen zu Android gibt es ebenfalls. Und falls man nicht geortet werden will, dann läßt man das Teil einfach zu Hause. Der Nutzer entscheidet doch ob er sich abhängig macht. Wer freier sein will, der muß sich halt frei machen.

Majestyk

20. September 2024 19:13

@ Artabanus:
Das Smartphone gewährte ganz anderen Leuten den Zugang zum Internet. Merkte man sofort am Umgangston und der Art der Kommunikation. 
Und das Smartphone hat auch die analoge Kommunikation verändert um nicht zu sagen schwer beschädigt. Schon vor 7 oder 8 Jahren habe ich mal eine Feier verlassen weil um mich herum jeder nur mit seinem Spielzeug daddelte. Können die Geräte nichts für, aber seit deren Einführung sind die Sozialphobiker nicht gerade weniger geworden. 

Adler und Drache

21. September 2024 09:22

Kulturpessimisten müssten konsequenterweise Menschenfeinde werden, denn es sind Menschen, die technische Gerätschaften erfinden, gebrauchen und genießen. 
Der Mensch ist so. Sobald er etwas erfinden kann, schaltet das Hirn auf Tunnelblick. Schon in der Steinzeit, stelle ich mir vor, saßen Männer mit gefurchter Stirn da und überlegten, wie sie das Feuer, an dem sie sich wärmten, zum nächsten Lagerplatz mitnehmen könnten. Später, wie sie es selbst machen könnten. Usw. 

Liselotte

21. September 2024 11:30

@Artabanus, @Majestik: dieses "1 Gerät für alles"-Syndrom ist zugegebenermaßen eine Dynamik, die erst mit dem Smartphone so richtig zum Ausbruch kam. Man hätte aber auch Smartphones weiterhin anonym per per Bargeld erwerbbarer Aufladekarte laufen lassen können, wenn man nicht die Identifizierung per Smartphone gewollt hätte.

Majestyk

21. September 2024 15:50

@ Liselotte:
Man kann Smartphones anonym aufladen, nur nicht legal in der EU. Das Problem ist nicht die Technologie, es ist der politische Wille und der ist auch verantwortlich dafür, daß die Betriebssysteme von Google oder Apple so sind, wie sie eben sind und es keine europäische Konkurrenz gibt. 
Was die Dauernutzung von Smartphones oder soziale Netzwerke mit Menschen machen ist eine andere Sache, aber selbst die daraus resultierenden Verwerfungen sind politisch nicht unerwünscht. Der mündige und freie Bürger ist eigentlich nirgendwo gerne gesehen, der entzieht sich nämlich staatlicher Kontrolle und eignet sich auch nicht sonderlich gut als gehorsame Zitrone.

Ein gebuertiger Hesse

21. September 2024 15:57

Die Scheißgeräte einfach zuhause lassen immer mal wieder. Es schlicht wagen! Und sehen, wie schön das Leben ohne sie sein kann, das Leben tel quel (manchmal). 
Seidel schreibt toll. Er ist eine prima Ergänzung für SiN.

Umlautkombinat

21. September 2024 17:25

> Ein Handy könnte auch anonym genutzt werden und ich habe das auch eine ganze Weile getan.
 
Vorbei. Ohne echten Burner nicht mehr drin.
 
> Auch muß niemand ein Smartphone nutzen, wenn er nicht will,
 
Kommt drauf an. In den letzten Jahren oefter mal ein Konto eroeffnet? Ich habe hier noch chipTAN, mittlerweile ein Exot auf der roten Liste.
 
> Alternativen zu Android gibt es ebenfalls.
 
am Tag 3 Stunden an seinem Graphene OS oder noch weiter tiefergelegtem Phone zu schrauben um Grundfunktionalitaet herzustellen ist auch nicht die Loesung.
 
> Und falls man nicht geortet werden will, dann läßt man das Teil einfach zu Hause. 
 
Bis die Supermarktkasse auf nichts mehr anderes reagiert. Fahrkartenautomaten in manchem Verkehrsverbund tun das z.B. schon.

links ist wo der daumen rechts ist

21. September 2024 19:33

Das Interessante an technischen Erfindungen ist zweierlei: zum einen eine Art Verzögerung in der technischen Evolution (die ersten Eisenbahnwaggons waren auf die Schiene gestellte Kutschen, daher die Einstiege von außen; der sog. D(urchgangs)-Wagen wurde relativ spät erfunden), zum anderen die Vorwegnahme fast aller technischen Erfindungen in der Imagination/in den Mythen (Sloterdijk hat über den Ursprung der Fernlenkwaffen in der griech. Mythologie geschrieben).
Was sich nun seit dem 19.Jhdt. gezeigt hat, ist, daß im Bereich der Medialität fast alle Erfindungen seither Kombinationen früherer Erfindungen sind wie Telegraphie, Photographie, Phonographie. Am hellsichtigsten hier vielleicht (in Richtung Cyborg) Villiers' „Eva der Zukunft“.
Am schönsten hat diesen Komplex Dieter Daniels in „Kunst als Sendung. Von der Telegrafie zum Internet“ (2002) zusammengefaßt.
Einen für mich wesentlichen Aspekt möchte ich noch herausgreifen, nämlich die Frage nach Vereinzelung vs. Gemeinschaft (Daniels hat das am Beispiel des Radios untersucht).
Galten etwa die ersten PCs (auch mein Atari) noch als Verbesserungen der Schreibmaschinen und die ersten Kommunikationsformen per Internet (Mails) und Handy (sms) noch als Fortsetzungen alter Briefformen, fand irgendwann innerhalb der digitalen Revolution ein evolutionärer Sprung statt. Es ist der Echtzeit- und Dauerverfügbarkeitswahn, während man in Wirklichkeit immer mehr vereinsamt (wer twittert, hat die Kontrolle über sein Leben verloren).
ff

links ist wo der daumen rechts ist

21. September 2024 21:06

Natürlich gab es auch früher schon ein Verwachsen des Menschen mit einer technischen Erfindung (der sog. „Erweiterung des Zentralnervensystems“ beim Fernsehen etwa oder beim lustvollen Autofahren – am besten von Walter Röhrl, dem Sokrates unter den Weltklasse-Autofahrern, beschrieben), aber es war immer entweder zweck- (von A nach B) oder zeitgebunden (Freizeit, Entspannung).
Heute erleben wir die Wiederkehr eines „Zeitalters der Nervosität“ (Joachim Radkau), eine Daueranspannung in einer Mischung aus Selbstermächtigung, radikaler Vereinzelung und Erschöpfung, die sich in einer Ersatzgesinnungsgemeinschaft explosionsartig entlädt. Und wie ein Meldegänger muß man ständig „online“ sein. Echte Gemeinschaft oder auch Solidarität jenseits des „Schützengrabens“ gibt es nicht mehr.
Schivelbusch hatte parallel dazu in seiner „Geschichte der Eisenbahnreise“ den Weg von nervlicher Zerrüttung (durch drohende und tatsächliche Eisenbahnunfälle) zu den sog. Shell shoks im Ersten Weltkrieg beschrieben.
Also vom Shell shok zum Shitstorm. Wobei ich mich immer frage, welche Zombies dazu ihre Lebenszeit (die ihnen nichts wert ist?) vergeuden.
Und das absolut Teuflische daran ist natürlich diese Mischung aus freiwilliger Unterwerfung und totalitärer Zurichtung, wie sie etwa Giorgio Agamben in seinem Homo sacer-Projekt (in Anlehnung an Foucault und Arendt) aus ganz anderem Blickwinkel entworfen hat.

Kurativ

21. September 2024 21:40

Die Sachen mit denen wir beherrscht werden, bekommen schöne Namen und schickes Aussehen, um von dem Herrschaftsgefälle abzulenken. Auch die Bedienung wird spielerisch gestaltet.
Die Hisbollah hat sich schlauer Weise 5000 neue "Pager" und eine Infrastruktur dafür gekauft. Allerdings haben sie sich die Dinger nicht genau genug angeschaut.
Man muss sich die "Sachen" also genau anschauen und sich über ihre Funktion im Klaren sein. Das ist das Mindeste.
Eine sichere Kommunikationsstruktur ist notwendig, wenn es überhaupt faire Demokratie geben soll. Ob dafür Leute vom Schlage Snowden, Durow oder Ballweg notwendig sind, glaube ich nicht.

Liselotte

21. September 2024 21:50

@Umlautkombinat: eben.

Majestyk

22. September 2024 00:38

@ Umlautkombinat:
Die Probleme die Sie beschreiben liegen aber nicht am Gerät Smartphone an sich sondern sind politischer Natur und einige davon wie der Ausschluß von Barzahlern verstoßen sogar gegen geltendes Recht. 
Es ist nicht so, daß ich das nicht mit Sorge betrachte, aber die Ursache dafür liegt an einer Kartellartigen Allianz, in dem Fall die Better Than Cash Alliance. Das Smartphone ist Werkzeug, nicht Ursache.
 

anatol broder

22. September 2024 13:15

der pessimist sucht nach wahrheit in seiner innenwelt und der innenwelt der vertrauten. der optimist sucht nach wahrheit in seiner aussenwelt und der aussenwelt der fremden. entsprechend bewertet der jeweilige menschenschlag den nutzen der jeweiligen technischen möglichkeit.

Daniel

22. September 2024 13:19

Der Computer wurde noch weit bis in die 2000er hinein als eine Art Schreibmaschine mit Bildschirm verwendet. Die klassische Schriftform war prägend: Beim Schreiben von E-Mails, beim Diskutieren in Foren, selbst beim Kontakteknüpfen auf Dating-Seiten. Dann wurde das Smartphone in den 2010ern massentauglich, das Internet bekam einen anderen Formfaktor und die Inhalte wurden auf einen neuen Konsumententyp angepasst, der nur über eine kleine Aufmerksamkeitsspanne verfügt. Seitdem dominieren Wisch-Apps wie Tinder, TikTok oder Instagram. Kleine bunte Pillen, die wie kurze Dopaminkicks wirken.

herbstlicht

22. September 2024 13:37

@Kurativ, 21. September 2024 21:40  »Man muss sich die "Sachen" also genau anschauen und sich über ihre Funktion im Klaren sein. «
Über welche dieser "Sachen" sind  denn SIE sich "im Klaren"?  Wurde in den 70-ern, während der Diplomarbeit in TheoPhys, zum Computerhacker und fand seither in diesen Systemen die Abenteuer, welche echte Männer brauchen.  Die einzige starke Verteidungslinie, welche ich da kenne, ist Low-Tech.  (Alu-Dose, BS auf Write-Once Medium,  wenn irgend möglich kein internet-adapter.  Open Source nutzt wenig/garnix;  warum, das können Sie z.B. in Dennis Ritchies Turing Award Lecture nachlesen.)
@Umlaut, wegen KOMBINAT:  Sie wissen schon, was man unter X-Window mit xmodmap anstellen kann?  Damit habe ich fast 200 Schriftzeichen direkt unter den Pfoten; auf US PC-Tastatur an meiner Linux-Kiste.  Was man halt so braucht, für TheoPhys und mittel und nordeuropäische Sprachen.

Kurativ

22. September 2024 21:14

@herbstlicht : Erst einma Hochachtung und Respekt !Low-Tech wäre gut. Ich bräuchte keine Bilder oder graphische Oberflächen. Text reicht.
Quellenoffene Soft- und Hardware ist jedenfalls besser als Windows, iOS oder geschlossene Treiber. Dann gibt zumindest eine Chance höherer Sicherheit vor staatlicher Willkür und Eingriffen.
Ich würde sogar den Verkauf von geschlossener Software mit einer zusätzlichen Steuer belegen. Um damit die allgemein verfügbare offene Software einer besseren Prüfung zu unterziehen. Die Institute oder Stiftungen müssten natürlich weisungsunabhängig sein.
Man muss auch unterscheiden zw mehr Sicherheit (um den Aufwand von staatlicher Überwachung zu vergrößer) und maximaler Sicherheit für kritische Informationen um staatliche Überwachung zu verunmöglichen. In dem Fall gibt es aber Ärger. Wie man bei der Einführung und Erpressung von Durow in Paris sehen konnte.

Le Chasseur

22. September 2024 22:06

@Daniel"Dann wurde das Smartphone in den 2010ern massentauglich, das Internet bekam einen anderen Formfaktor und die Inhalte wurden auf einen neuen Konsumententyp angepasst, der nur über eine kleine Aufmerksamkeitsspanne verfügt"
Ist die verringerte Aufmerksamkeitsspanne nicht eine Folge der Nutzung von Smartphones und sozialen Netzwerken? https://www.deutschlandfunkkultur.de/soziale-medien-was-facebook-mit-unseren-gehirnen-macht-100.html
"der ständig neue Inhalt verlangt ein schnelles Wechseln und Neuorientieren, jedoch keine lange Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit. Die Belohnung, die wir immer wieder erfahren, kommt direkt und ohne Aufschub. Die Aufmerksamkeitsspanne verkleinert sich und uns juckt es in den Fingern, erneut die positiven Gefühle, die durch das Öffnen der App so leicht verfügbar sind, wieder aufzusuchen, bis eine Abhängigkeit entsteht, die problematisch werden kann." https://scilogs.spektrum.de/hirn-und-weg/was-machen-tiktok-co-mit-unserem-gehirn/
 

Umlautkombinat

22. September 2024 22:37

@Majestyk
 
Was heisst "aber". Ich habe gar keine Einbettungen vornehmen wollen, das kann jeder nach gusto. Nur ein paar konkrete Argumente gegen die geschilderten ebenso konkreten Arten der Smartphonenutzung.  Die erste Linie sozusagen, an der man schon scheitert.
 
@herbstlicht
 
> xmodmap
 
Lang ist's her. Und nutzt mir bei >35 Jahren eingeschliffenem Muskelgedaechtnis kaum etwas. Ich habe mir kuerzlich eine zweite Tastaturbelegung draufgeklebt, weil ich natives Deutsch jetzt oefter brauche. Schon z und y, von den Zeichentasten gar nicht zu reden. Extrem anstrengend.

Liselotte

23. September 2024 10:08

Günther Anders beschrieb das Betrachten von Bildern auf dem damals noch kleinen Röhrenfernseher als "Schlüssellochperspektive". Dies trifft auf das Smartphone-Internet in noch viel stärkerem Maße zu.

Le Chasseur

23. September 2024 11:23

@Liselotte"Günther Anders beschrieb das Betrachten von Bildern auf dem damals noch kleinen Röhrenfernseher als "Schlüssellochperspektive". Dies trifft auf das Smartphone-Internet in noch viel stärkerem Maße zu."
Beim Fernseher mag dies auch heute noch zutreffen, weil die "Gatekeeper", also die Programmmacher darüber entscheiden, was gezeigt wird, und das Gezeigte ist eben nur ein kleiner Ausschnitt des Ganzen (und selbst diese kleinen Auschnitte sind noch oft genug gestellt oder anderweitig manipuliert).
Mit den mit dem Internet verbundenen Smartphones kann heute aber jeder seine eigene Schlüssellochperspektive veröffentlichen, ohne dass diese Bilder vorher noch irgendeinen Filter in Gestalt eines Programmdirektoriums oder einer Redaktion durchlaufen. Und so kann durch die Kombination vieler kleiner Schlüssellochperspektiven ein Mosaik entstehen, dass der Wahrheit doch relativ nahe kommen kann.

Daniel

23. September 2024 12:45

@ Le Chasseur: Natürlich wurde durch neue Inhalte/Formen auch ein neuer Konsumententyp herangezüchtet. Webseiten waren/sind ja oft nur digitale Abbilder ihrer gedruckten Vorläufer: Von Zeitschriften, Versandkatalogen etc. (die dadurch mehr und mehr überflüssig wurden). Apps funktionieren anders, indem sie direkt das Belohnungszentrum im Hirn ansprechen und zu einer stark repetitiven Nutzung verführen, also der schnellen Ausführung der immergleichen Gesten. Interessanterweise nimmt die digitale Kompetenz in der jungen Generation auch rapide ab. Es gibt heute nicht wenige 12-Jährige, die schon ihren eigenen Instagram-Kanal haben, aber nicht mehr wissen was ein Browser ist oder was sie mit einer URL anfangen sollen. Ich bin auch noch in einer Zeit groß geworden, in der man sich ein wenig mit den technischen Grundlagen beschäftigen musste, um überhaupt etwas zum Laufen zu kriegen (was bei vielen erst das Interesse für technische Berufe erweckt hatte). Diese Auseinandersetzung entfällt in der Smartphone-Welt praktisch komplett. Insofern sind viele "digital natives" eigentlich "digital idiots".

Liselotte

24. September 2024 10:52

@LeChausseur: Der Schlüssellocheffekt bezog sich auf die Einengung des Blickfelds, die nun in den aufs Brettchen starrenden Leuten, die ohne links und rechts zu schauen, über die Straße laufen, besonders augenfällig wird.
Die Massen-Einwegekommunikation des Fernsehens im Gegensatz zur Zwei-Wege-Internetkommunikation ist nochmal was anderes.
Diesbezüglich gibt es eine Monopolisierung der Plattformen, die dadurch zu universalen Gatekeepern werden, selbst für staatliche Apps ist GooglePlay Voraussetzung, für Banken sowieso. Die ganze Kommunikationsinfrastruktur und die gesamte Verwaltung ist praktisch in den Händen von Google und Microsoft. Wenn die nicht wollen, läuft garnichts: Schluß mit Dezentralität.

Liselotte

24. September 2024 11:03

Ansonsten wollte ich noch anmerken, daß und schon setzt man sich Brillen vor die Augen, um in virtuelle Welten abzudüsen. schon mehrfach probiert wurde, ich erinnere mich an einen solchen Hype um 2000 herum, der sang- und klanglos ausstarb; dann meinten welche, "Avatare" seien nun der große Bringer, interessierte auch niemand. Auch das 3D-Kino war schnell vorbei.

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