Jörg Seidel schreibt über das erste Selfie

Von Günther Anders stammt die These, daß die Technik ihre eignen Imperative durchsetzt, unabhängig der Gesellschaftssysteme oder der sozialen Lagen. Weshalb der ewige Aufruf, die moderne Technik doch bedachtsam zu nutzen, zwar gut gemeint, aber leider ziemlich naiv ist.

Das Han­dy hat nun, wie ganz selbst­ver­ständ­lich, unser Leben kom­plett revo­lu­tio­niert, also umge­dreht. Wie von allein haben sich inner­halb kür­zes­ter Zeit Ver­hal­tens­mus­ter durch­ge­setzt, die vor zwei Jahr­zehn­ten noch undenk­bar gewe­sen wären.

War – nach Peter Slo­ter­di­jk – der Dau­men noch der Evo­lu­ti­ons­ge­win­ner des Jahr­zehnts um die Jahr­tau­send­wen­de, als alle Welt plötz­lich mein­te, tag­täg­lich SMS auf klei­nen drei­stu­fi­gen Tas­ten ein­tip­pen zu müs­sen, so ist es jetzt wie­der der Zei­ge­fin­ger und jene Regi­on im Hirn, die für Wisch­be­we­gun­gen zustän­dig ist. Schon ist das Netz voll mit „lus­ti­gen“ Vide­os, wo Kin­der und ande­re Min­der­be­mit­tel­te Pro­ble­me durch Wisch­be­we­gun­gen lösen wol­len, wo tat­säch­lich ers­te Welt sich vor ihnen befindet.

Bereits die Begrif­fe sind an Lächer­lich­keit nicht mehr zu über­bie­ten, lie­ße man sie sich nur ein­mal auf der Zun­ge zer­ge­hen. Han­dy z.B., ein alber­ner Hybrid, halb Eng­lisch, halb Schwach­sinn, eine deut­sche Neu­schöp­fung aus Hand und klein und hand­lich, aber unbe­dingt noch verd­eng­lischt. Die meis­ten euro­päi­schen Spra­chen haben es wenigs­tens zu einem halb­wegs tech­ni­schen Begriff gebracht, der fast immer was mit „mobil“ zu tun hat.

„Sel­fie“ ist auch so ein seman­ti­scher Jam­mer­lap­pen. Aber er paßt per­fekt zu jener längst ein­ge­üb­ten imbe­zi­len Tätig­keit – das ist der tech­ni­sche Impe­ra­tiv par excel­lence –, sich per­ma­nent selbst zu pho­to­gra­phie­ren, mit oder ohne Partner.

Man trifft jeman­den und muß dies unbe­dingt auf der Spei­cher­kar­te haben. Man sieht einen pro­mi­nen­ten Men­schen und muß – bevor der hys­te­ri­sche Schrei­krampf über­nimmt – drin­gend noch doku­men­tie­ren, daß man die Per­son gese­hen hat und die­se ist längst so tief im Spiel drin, daß sie es lächelnd mit­macht und pro­fes­sio­nell das fal­sche Lächeln mit den blitz­wei­ßen Zäh­nen zeigt. Man lich­tet die Lüge ab und ist stolz dar­auf. Oder man sitzt irgend­wo und hat ein Essen bestellt und muß dies selbst­ver­ständ­lich aller Welt zei­gen. Und so weiter.

Ich beob­ach­te das nur von außen, habe in mei­nem Leben noch nie ein Sel­fie gemacht und bin viel­leicht auf einem oder zwei doch irgend­wo mit drauf – was ich bereue.

Das Sel­fie ist welt­stür­zend. Das wird uns bewußt, wenn wir das ers­te Sel­fie, das Sel­fie aller Sel­fies, das Ur-Sel­fie in Erin­ne­rung rufen. Es ist so alt wie ich, die soge­nann­ten Boo­mer sind die Sel­fie-Gene­ra­ti­on, ohne es geahnt zu haben. Sie sind mit dem wirk­mäch­ti­gen Bild von sich selbst als selbst­ver­ständ­li­chem Hin­ter­grund auf­ge­wach­sen. Es wur­de am 1.12.1966 auf­ge­nom­men, als der ATS‑1, der Appli­ca­ti­ons Tech­no­lo­gy Satel­li­te 1 mit der Spin Scan Cloud Came­ra aus dem All das ers­te Gesamt­photo von der Erde als Kugel machte.

Seit­her glau­ben wir, die Drauf­sicht zu haben. Da haben wir die Unschuld über uns selbst ver­lo­ren, die Men­schen sind sich selbst über den Kopf gewach­sen und nie­mand kann mehr sagen, er habe es nicht gese­hen. Mit die­ser Evi­denz wach­sen seit­her alle nach­fol­gen­den Gene­ra­tio­nen auf – unse­re war die ers­te. “Wer heu­te zur Welt kommt, wird Bür­ger eines bewölk­ten, sich sel­ber pho­to­gra­phie­ren­den Sterns” (Slo­ter­di­jk).

Wir wer­den in die per­ma­nen­te und kom­plet­te Selbst­an­sicht, ins Über-Sel­fie hin­ein­ge­bo­ren. Mit die­sem ers­ten Pho­to von uns hat der Auf­schrei von Nietz­sches „tol­lem Men­schen“ sei­ne bild­li­che Wie­der­ga­be gefunden:

Wer gab uns den Schwamm, um den gan­zen Hori­zont weg­zu­wi­schen? Was tha­ten wir, als wir die­se Erde von ihrer Son­ne los­ket­te­ten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewe­gen wir uns? Fort von allen Son­nen? Stür­zen wir nicht fort­wäh­rend? Und rück­wärts, seit­wärts, vor­wärts, nach allen Sei­ten? Gibt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unend­li­ches Nichts? Haucht uns nicht der lee­re Raum an? Ist es nicht käl­ter gewor­den? Kommt nicht immer­fort die Nacht und mehr Nacht?

Das Erschre­cken­de an die­sem Ereig­nis ist jedoch, wie wenig es die Men­schen erschreckt, wie schnell man sich an die­se Unge­heu­er­lich­keit gewöhnt, wie man sie nach einem kur­zen Stau­nen hin­ge­nom­men hat, ohne einen wei­te­ren Gedan­ken dar­über zu verschwenden.

So ist es seit­her mit allem, mit jeder neu­en und wei­te­ren Ent­gren­zung. Man macht ein­fach mit: man nahm das Tele­fon ab, als sei es das Nor­mals­te der Welt, man setz­te sich vor den Fern­se­her und sah live beim Fuß­ball­spiel in Bra­si­li­en zu, dann vor den Com­pu­ter, dann wur­de das Inter­net ohne wei­te­re Fra­gen akzep­tiert und pro­duk­tiv ange­nom­men, heu­te schaut man Por­nos am Stück und hat ver­ges­sen, wie es war, als Inti­mi­tät noch ein Spiel, ein Ent­de­cken, ein Abtas­ten, ein Stau­nen und Wun­dern war usw. usf.

Auch das „Han­dy“ nahm man unre­flek­tiert in die Hand, obgleich es ein jahr­zehn­te­lan­ges Mora­to­ri­um und Nach­den­ken ver­dient hät­te wie ein gefähr­li­ches Medi­ka­ment, mit Stu­di­en, Expe­ri­men­ten, Ein­nah­me­emp­feh­lun­gen, War­nun­gen und Limi­tie­run­gen; und schon setzt man sich Bril­len vor die Augen, um in vir­tu­el­le Wel­ten abzu­dü­sen. Bald wer­den die ers­ten Frei­wil­li­gen vor­tre­ten, um sich den Implan­ta­ten in Hirn und Augen zur Ver­fü­gung zu stellen.

Das Sel­fie von heu­te wird dann schon wie­der ver­ges­sen sein, jun­ge Leu­te wer­den über die Alten lachen, die sich noch vor eine Lin­se auf aus­ge­streck­tem Arm stell­ten und die Chips, auf denen die Bil­der „lagern“, wer­den kei­nen Slot mehr fin­den, in den man sie wird ein­schie­ben kön­nen. Man wird immer das Alte für das Idio­ti­sche hal­ten und nicht begrei­fen, daß das Neue das Ver­rück­te ist.

Nichts schreibt sich
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Kommentare (2)

Diogenes

17. September 2024 20:37

"(...) Das Selfie (...) Das sagt alles aus. Mehr muss man nicht gelesen haben. Das Unverständliche als Normalverkauf. "Selfie". - Ich könnte auch sagen: Verdammt hoch hier die Decke, in einem Schauspiel Odysseus & Zyklop. - Kommt auf das Selbige hinaus was der eigener Sprache keinen Respekt erweist. 

Heino Bosselmann

17. September 2024 21:06

Wenn schon „Ungeheuerlichkeit“, dann liegt sie nicht zuerst im Medium, scheint mir, sondern in der Entstehung eines Wesens, das sich in erster Person, dem Ich, nicht nur mit beobachtender und urteilender Distanz der Welt gegenüberstellt, sondern sogar sich selbst. Und ein Bild, ja sogar einen abstrakten Begriff hat sich dieses Wesen von allem gemacht, worauf sein Augenlicht fiel – ob nun auf den Mond oder auf den Spiegel mit dem eigenen Antlitz darin. Rembrandts Selbstbildnis mag künstlerisch immens wertvoll sei, aber es ist, mit Verlaub, durchaus ein Selfie: Rembrandt fecit! Und die Draufsicht auf die Welt, gar auf das Universum, erlangte das Ich-Wesen Mensch lange vor 1966. Einer High-Tech-Optik bedurfte es dafür nicht, nur des Bewußtseins von sich und dem anderen. Das Drama liegt intern in uns, es kommt nicht extern über „Tools“ auf uns zu; wir sagen „ich“ und „du“ und „es“. Wir können nicht anders. Nachdem er vom Baum der Erkenntnis gegessen hatte, erschrak der zum Bewußtsein seiner selbst erwachte und sich daher „kritisch“ betrachtende und begreifende Adam, weil er erkannte, daß er nackt war – und versteckte sich aus plötzlich einsetzender Scham, dem ersten sich wertenden Moralimpuls. Und Gott wußte, was für ein Update damit erfolgt war und welche Tragödie nun begann …