Rußland und die »wehrhafte Demokratie«

von Josef Schüßlburner -- PDF der Druckfassung aus Sezession 119/ April 2024

Im Jahr 2006 wur­de Ruß­land gemäß der poli­tik­wis­sen­schaft­li­chen Schu­le der Demo­kra­tie­mes­sung als eine defek­te Demo­kra­tie ein­ge­stuft, »die illi­be­ra­le Kom­po­nen­ten aus­weist und an der Gren­ze zur auto­ri­tä­ren Dik­ta­tur ange­sie­delt ist.« (1)

Wäh­rend sich eine funk­tio­nie­ren­de Demo­kra­tie durch das Recht auf Oppo­si­ti­ons­aus­übung aus­zeich­net, kenn­zeich­nen defek­te Demo­kra­tien Par­tei­ver­bo­te und ande­re Beschrän­kun­gen oppo­si­tio­nel­ler Mög­lich­kei­ten, was zum Auto­ri­ta­ris­mus führt, wenn die Beschrän­kun­gen der Frei­heit einer Mono­po­li­sie­rung der par­tei­po­li­ti­schen Are­na ­gleich­kom­men. (2)

Kurz nach der ent­spre­chen­den Ein­ord­nung wur­de Ruß­land als »auto­ri­tä­re Dik­ta­tur« ein­ge­stuft. Die Begrün­dung hier­für ist einer Ver­öf­fent­li­chung im Umfeld des deut­schen Ver­fas­sungs­schut­zes zu ent­neh­men: »Daß das Prin­zip der wehr­haf­ten Demo­kra­tie in einem defekt-demo­kra­ti­schen Sys­tem wie dem Ruß­lands jedoch selbst zum Feind der Frei­heit mutiert, darf in die­sem Zusam­men­hang nicht unter­schla­gen wer­den.« (3) Die Eta­blie­rung einer Auto­kra­tie in Ruß­land läßt sich dem­nach maß­ge­bend auf die »wehr­haf­te Demo­kra­tie« zurück­zu­füh­ren, eine spe­zi­el­le Kon­zep­ti­on der BRD, (4) deren rus­si­sche Nach­ah­mung das Rüst­zeug in Rich­tung Dik­ta­tur gehend gelie­fert hat.

Aus­gangs­punkt der rus­si­schen Aus­le­gung bun­des­deut­scher Demo­kra­tie­be­son­der­hei­ten stellt das Par­tei­ver­bots­ur­teil vom 30. Novem­ber 1992 gegen die KPdSU dar, für des­sen Vor­be­rei­tung sich das rus­si­sche Ver­fas­sungs­ge­richt das KPD-Ver­bots­ur­teil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts hat­te zukom­men las­sen. (5) Bemer­kens­wer­ter­wei­se ist man in der libe­ra­len Über­gangs­pha­se der rus­si­schen Ent­wick­lung jedoch dem KPD-Urteil im Kern gera­de nicht gefolgt: Um ein rechts­staats­wid­ri­ges Ideo­lo­gie­ver­bot bun­des­deut­scher Pro­ve­ni­enz zu ver­mei­den, hat das rus­si­sche Ver­fas­sungs­ge­richt zwar den Ver­bots-Ukas von Prä­si­dent Jel­zin, bezo­gen auf die Lei­tungs­ebe­ne der KPdSU, wegen des Umsturz­ver­suchs gegen Gor­bat­schow bestä­tigt, nicht jedoch das Ver­bot der unbe­tei­lig­ten Regio­nal­or­ga­ni­sa­tio­nen, so daß sich trotz des Ver­bots unge­hin­dert kom­mu­nis­ti­sche Nach­fol­ge­or­ga­ni­sa­tio­nen bil­den konnten.

Letzt­lich als Zurück­wei­sung der Ver­bots­kon­zep­ti­on des deut­schen Ver­fas­sungs­ge­richts hat einer der rus­si­schen Rich­ter dies wie folgt begrün­det: »Die Ver­fas­sung, das demo­kra­ti­sche Prin­zip, erlaubt es nicht, eine Ideo­lo­gie zu ver­bie­ten. Ideo­lo­gien haben ein Recht zu exis­tie­ren, egal um wel­che es sich han­delt. Des­we­gen konn­ten wir nicht sagen, die Par­tei von 1992 muß­te ver­bo­ten wer­den. Dafür gab es kei­ner­lei Grund­la­ge. […] Dies wider­sprach mei­nen Über­le­gun­gen, mei­nen Vor­stel­lun­gen von Demo­kra­tie.« (6)

Die­ser rechts­staat­li­che Ansatz ist dann in Art. 13 der Ver­fas­sung der Ruß­län­di­schen Föde­ra­ti­on von 1993 ein­ge­gan­gen, womit Grund­sät­ze sta­tu­iert sind, deren Inkor­po­ra­ti­on in das Grund­ge­setz drin­gend zu wün­schen wäre:

1. In der Ruß­län­di­schen Föde­ra­ti­on ist die ideo­lo­gi­sche Viel­falt anerkannt.

2. Kei­ne Ideo­lo­gie darf als staat­li­che oder ver­bind­li­che fest­ge­legt werden.

3. In der Ruß­län­di­schen Föde­ra­ti­on sind die poli­ti­sche Viel­falt und das Mehr­par­tei­en­sys­tem anerkannt.

4. Die gesell­schaft­li­chen Ver­ei­ni­gun­gen sind vor dem Gesetz gleich.

 

In einem fünf­ten Punkt wird dann rechts­staats­kon­form als Vor­aus­set­zung für ein Ver­ei­ni­gungs­ver­bot das Vor­lie­gen gewalt­sa­mer Hand­lun­gen bestimmt. Ledig­lich bei »Ent­fa­chen sozia­ler, ras­si­scher, natio­na­ler und reli­giö­ser Zwie­tracht« tut sich ein soge­nann­ter Wer­te­be­zug auf, der für die Ver­bots­po­li­tik der BRD als Abwei­chung von den Nor­mal­stan­dards einer Demo­kra­tie die zen­tra­le Bedeu­tung einnimmt.

Damit war der rus­si­schen Poli­tik dann doch der Weg zur radi­ka­li­sie­ren­den Über­nah­me der bun­des­deut­schen »Wehr­haf­tig­keit« eröff­net. Die­se Anknüp­fung bot sich an, weil die für eine Demo­kra­tie gro­tes­ke Bedeu­tung, die ein Inlands­ge­heim­dienst dabei spielt, gera­de rus­si­schen Poli­ti­kern auf­fal­len muß­te: Seit der 1826 von Zar Niko­laus I. begrün­de­ten Poli­zei­be­hör­de, der Drit­ten Abtei­lung Sei­ner Majes­tät höchst­ei­ge­nen Kanz­lei, spielt der Geheim­dienst in Ruß­land als Macht­in­stru­ment die zen­tra­le Rolle.

Sei­ne maß­geb­li­che Aus­for­mung hat der Geheim­dienst in der End­pha­se des Zaren­reichs unter sei­nem »Spit­zen­mann Sub­atow« erhal­ten, (7) als ihm auch die Funk­ti­on zukam, die unver­meid­ba­re Ver­west­li­chung so zu steu­ern, daß die adap­tier­ten Ver­fas­sungs­in­sti­tu­tio­nen zu einem Schein­kon­sti­tu­tio­na­lis­mus mutier­ten, weil der Geheim­dienst selbst oppo­si­tio­nel­le Gewerk­schaf­ten und Par­tei­en grün­de­te, die dann unge­fähr­lich blie­ben. In der End­pha­se der Sowjet­uni­on hat in die­sem Sin­ne der Geheim­dienst die »rechts­extre­me« Pam­jat gegrün­det, wohl um Oppo­si­ti­on zu dis­kre­di­tie­ren. (8)

Genui­ne Libe­ra­li­tät, wie im KPdSU-Ver­bots­ur­teil aus­ge­drückt, war immer nur eine Über­gangs­er­schei­nung. Der Geheim­dienst­ler Putin war der pas­sen­de Mann, der an die­se rus­si­sche Tra­di­ti­on anknüp­fen konn­te – zumal er die Bedeu­tung begriff, die dem Inlands­ge­heim­dienst im Demo­kra­tie-Son­der­weg BRD zukommt: »Gibt es denn irgend­wo eine lupen­rei­ne Demo­kra­tie, in Deutsch­land zum Bei­spiel?« so Putin, (9) was zeigt, daß er die deut­schen Demo­kra­tie­ver­hält­nis­se ange­mes­sen wür­di­gen und dar­aus die für Ruß­land, vor allem für sich selbst, geeig­ne­ten Fol­ge­run­gen ablei­ten konnte.

Über gera­de noch durch das Gewalt­kri­te­ri­um zu recht­fer­ti­gen­de Par­tei­ver­bo­te wie gegen die Natio­nal­bol­sche­wis­ti­sche Par­tei und gering­fü­gi­ge­re Maß­nah­men ist dann für die Ent­wick­lung zur Auto­kra­tie in Ruß­land das aus dem Wer­te­be­zug abge­lei­te­te gene­rel­le poli­ti­sche Dis­kri­mi­nie­rungs­sys­tem von Bedeu­tung. Es grün­det auf der Rezep­ti­on des zen­tra­len Ele­ments des deut­schen VS-Sys­tems, näm­lich der Bekämp­fung des »Extre­mis­mus«. Die­ser im deut­schen VS-Recht for­mal nicht ent­hal­te­ne Begriff, der jedoch in der Pra­xis des BRD-Par­tei­ver­bots­er­satz­sys­tems als äußerst mani­pu­lier­ba­re ideo­lo­gi­sche Grö­ße die ent­schei­den­de Rol­le als anti­op­po­si­tio­nel­le Bekämp­fungs­ka­te­go­rie spielt, obwohl ihn das Ver­fas­sungs­ge­richt als recht­lich unbrauch­bar ein­ge­stuft hat, (10) ist in Ruß­land zu einem straf­recht­li­chen Begriff mutiert.

Mit dem Gesetz »Über die Gegen­wehr gegen extre­mis­ti­sche Tätig­keit« vom 25. Juli 2002 wur­de die bis­he­ri­ge Straf­vor­schrift gegen öffent­li­che Auf­ru­fe zur gewalt­sa­men Macht­er­grei­fung (Art. 280 StGB) in eine gegen öffent­li­che Auf­ru­fe zur Aus­übung einer extre­mis­ti­schen Tätig­keit umge­wan­delt. Mit Art. 282 wur­de dann die »Volks­ver­het­zung« nach BRD-Recht rezi­piert. Dies mar­kiert den Über­gang von der rechts­staat­lich bestimm­ba­ren Gewalt­gren­ze als Vor­aus­set­zung staat­li­cher Sank­tio­nen zu einer gene­rell gegen Oppo­si­ti­on in Ein­satz zu brin­gen­den Wer­te­gren­ze, die, wie den rus­si­schen Exper­ten die prak­ti­zier­te deut­sche VS-Kon­zep­ti­on ver­mit­telt hat, nur als Ideo­lo­giegren­ze hand­hab­bar ist. »Als Äuße­rungs- und Orga­ni­sa­ti­ons­de­lik­te schrän­ken sie die Mei­nungs- und die Ver­ei­ni­gungs­frei­heit ein und kön­nen für poli­tisch nicht kon­for­me Äuße­run­gen und Ver­ei­ni­gun­gen gefähr­lich wer­den.« (11)

Im übri­gen ist auch die Ziel­rich­tung der Extre­mis­mus­be­kämp­fung nach der neus­ten BRD-Pra­xis aus­ge­rich­tet: »Mit der Ver­ab­schie­dung einer Rei­he von Anti-Extre­mis­mus-Geset­zen soll­te vor allem gegen den radi­ka­len Natio­na­lis­mus und den radi­ka­len poli­ti­schen Islam vor­ge­gan­gen wer­den. In der Anwen­dung zeigt sich jedoch, daß die Gesetz­ge­bung neben der Ver­fol­gung offen­sicht­lich extre­mis­ti­scher Grup­pen auch gegen fried­li­che Geg­ner der Regie­rung ein­ge­setzt wird.« (12) Es geht also wie in der BRD-Pra­xis vor allem gegen Natio­na­lis­mus und »Faschis­mus« mit ent­spre­chen­den Zei­chen­ver­bo­ten (neben dem Isla­mis­mus), und damit liegt auch eine gewis­se Kon­ti­nui­tät mit dem sowje­ti­schen Ver­fol­gungs­mus­ter vor. (13) Betrof­fen vom Extre­mis­mus­ver­bot sind dabei sogar die Zeu­gen Jehovas.

Als von gewalt­sa­men Hand­lun­gen abs­tra­hier­te Grö­ße hat der »Extre­mis­mus« die Funk­ti­on, die »Mit­te« als ideo­lo­gi­schen Gegen­be­griff zu schüt­zen, beru­hend auf der Prä­mis­se, daß die »Mit­te«, mag sie auch noch so ver­fas­sungs­wid­rig han­deln, nicht Gegen­stand des Staats­schut­zes sein kann, son­dern der »Ver­fas­sungs­schutz« Instru­ment der Bekämp­fung wer­te­wid­ri­ger Oppo­si­ti­on ist, die sich »extre­mis­tisch« äußert, also die Mei­nungs­frei­heit nicht rechts­wid­rig, aber wer­te­wid­rig aus­übt. (14) Es muß in der Tat betont wer­den, daß für die Ent­wick­lung zum Auto­ri­ta­ris­mus nicht die von deut­schen VS-Ana­ly­ti­kern wie Thie­me als »extre­mis­tisch« aus­ge­mach­ten Par­tei­en Ruß­lands ver­ant­wort­lich zeichnen.

Auf­grund der eben­falls vom deut­schen Vor­bild über­nom­me­nen Hür­de bei Wah­len, die 2005 in Ruß­land von fünf auf sie­ben Pro­zent erhöht wur­de, sind im rus­si­schen Par­la­ment, der Duma, nur vier Par­tei­en ver­tre­ten, näm­lich zur Zeit der Ana­ly­se von Thie­me neben der »Putin-Par­tei« Eje­di­na ­Rus­si­ja (­Eini­ges Ruß­land), die drei von deut­schen Exper­ten als »extre­mis­tisch« ein­ge­stuf­ten Par­tei­en: die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei Ruß­lands (KPRF), die Libe­ral­de­mo­kra­ti­sche Par­tei Ruß­lands (LDPR) und die Lis­ten­ver­bin­dung Rodi­na (Hei­mat).

Mit »extre­mis­tisch« ist dabei, der Ent­wick­lung des deut­schen VS-Ver­ständ­nis­ses ent­spre­chend, »Rechts­extre­mis­mus« gemeint, was selbst in bezug auf die KPRF wegen der natio­na­lis­ti­schen Posi­tio­nie­rung so aus­ge­macht wird, wenn­gleich laut Exper­ten nicht ganz klar ist, ob sie aus­schließ­lich als »rechts­extrem« ein­ge­ord­net wer­den muß. (15) Bekannt­lich könn­te man ja jeden so ein­ord­nen. Ver­ant­wort­lich für den Über­gang von einer defek­ten Demo­kra­tie zur Auto­kra­tie ist aller­dings bei par­tei­po­li­ti­scher Betrach­tung die Rich­tung, die deut­sche VS-Ana­ly­ti­ker eben nicht als »extre­mis­tisch« ein­ge­stuft haben, also die Prä­si­den­ten­par­tei, die der Exe­ku­ti­ve par­la­men­ta­risch die Instru­men­te der »wehr­haf­ten Demo­kra­tie« ver­schaff­te und sich der radi­ka­li­sier­ten Anwen­dung der Wehr­haf­tig­keit gegen oppo­si­tio­nel­le Strö­mun­gen nicht wider­setzt hat.

Das »Putin-Regime« ist also eine Auto­kra­tie der Mit­te, die die demo­kra­tisch-rechts­staat­li­chen Ele­men­te des Ver­fas­sungs­sys­tems zuneh­mend rela­ti­viert hat und zwar einer Ver­fas­sung, die einen »in sich schlüs­si­ger Text« dar­stellt, »der klar demo­kra­ti­schen und rechts­staat­li­chen Prin­zi­pi­en ver­pflich­tet ist.« (16) Nicht nur die Tat­sa­che, daß die deut­schen VS-Ana­ly­ti­ker die poli­ti­sche Rich­tung, die das Putin-Regime trägt, nicht als »extre­mis­tisch« iden­ti­fi­ziert haben, spricht für die Ein­ord­nung als Auto­kra­tie der »Mit­te«, son­dern auch die Hand­ha­bung der Instru­men­ta­ri­en, die der »wehr­haf­ten Demo­kra­tie«, also einem Mit­te-Regime, ent­nom­men sind.

Hin­zu kom­men die von der offi­zi­el­len Poli­tik ver­tre­te­nen Ansich­ten, die als Ideo­lo­gie der Mit­te aller­dings nicht so leicht zu fas­sen sind. Putin hat wohl die größ­te Ähn­lich­keit mit Gene­ral Fran­co, (17) man könn­te auch den christ­lich-sozia­len Dik­ta­tor Doll­fuß zum Ver­gleich her­an­zie­hen. (18) Unter­schie­de erge­ben sich vor allem durch die his­to­ri­sche Ein­bet­tung der Per­so­nen. Wäh­rend Fran­co Sol­dat war, ist Putin Geheim­dienst­ler, dem als idea­ler Macht­ha­ber ein von der Bevor­mun­dung einer Par­tei befrei­ter Poli­ti­scher Poli­zist erscheint. (19)

Es gibt natür­lich in Ruß­land kei­nen poli­ti­schen Katho­li­zis­mus wie in Spa­ni­en, dem Demo­kra­tie nur mit­tels »illi­be­ra­ler Ingre­di­en­zi­en« wie Ver­fas­sungs­än­de­rungs­ver­bo­te, Par­tei­ver­bot, Euro­päi­sie­rung als Anti-Natio­na­lis­mus und Men­schen­wür­de als Feind­be­stim­mung erträg­lich, dann aber sogar wün­schens­wert war. (20) Es gibt jedoch eine ver­gleich­ba­re rus­sisch-­or­tho­do­xe Polit­strö­mung, die etwa durch den Theo­lo­gen Wla­di­mir ­Solo­wjow (1853 – 1900) reprä­sen­tiert ist. Die­ser gelang­te zu einer posi­ti­ven Ein­schät­zung der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, die danach jedoch nicht der Nati­on die Macht ver­schafft, son­dern den Weg zur Herr­schaft des wah­ren Chris­ten­tums berei­tet habe, was schließ­lich die Macht der uni­ver­sel­len Kir­che ver­wirk­li­chen wer­de. (21) Die­ser Weg zur all­um­fas­sen­den Welt­ein­heit ist über beson­de­re Impe­ri­en als Zwi­schen­stu­fe zum Kos­mo­po­li­tis­mus zu ver­wirk­li­chen, die gegen den Natio­na­lis­mus als west­li­che Abwei­chung vom vor­ge­ge­be­nen Geschichts­ver­lauf gerich­tet sind.

Letzt­lich ist damit die christ­de­mo­kra­ti­sche Euro­pa­idee der Mit­te gespie­gelt, deren rus­si­sches Gegen­stück eine ideo­lo­gi­sche Ein­ord­nung der Sowjet­uni­on in der Wei­se gestat­tet, die dem Ver­ständ­nis der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on durch Solo­wjow folgt. Die Sowjet­uni­on muß daher nicht »bewäl­tigt«, son­dern kann posi­tiv in das ruß­län­di­sche Mit­te-Ver­ständ­nis inte­griert wer­den. In den Impe­ri­en, wozu nach die­sem Ver­ständ­nis auch ein EU-Euro­pa zäh­len wür­de, soll danach die Demo­kra­tie durch eine teil­wei­se sozia­lis­mus­af­fi­ne Ideo­kra­tie abge­löst werden.

Demo­kra­tie, die bekannt­lich zu den »noto­risch umstrit­te­nen Groß­be­grif­fen« (Wal­ter B. Gal­lie) zählt, ist sicher­lich auf­grund der Instru­men­ta­ri­en der »Wehr­haf­tig­keit« weit genug, auch die­se Ideo­kra­tie als »Demo­kra­tie« zu ver­ste­hen. Die »wehr­haf­te Demo­kra­tie«, wel­che die amt­li­che Bekämp­fung von oppo­si­tio­nel­lem »Gedan­ken­gut« ermög­licht, ist, wie die post­so­wje­ti­sche Ruß­län­di­sche Föde­ra­ti­on zeigt, zum Zwe­cke einer spe­zi­el­len Demo­kra­tie­be­stim­mung, etwa als »gelenk­te Demo­kra­tie« bei Ein­schluß anti­fa­schis­ti­scher Kriegs­füh­rung, sehr hilfreich.

Die rus­si­sche Ent­wick­lung zur Auto­kra­tie der Mit­te auf­grund der Nach­ah­mung des deut­schen VS-Regimes bestä­tigt die drin­gen­de War­nung vor der Über­nah­me der »wehr­haf­ten Demo­kra­tie« deut­scher Art. (22) Die for­ma­le Errich­tung des Ein­par­tei­en­sys­tems in Ruß­land wäre bei Anwen­dung des BRD-Par­tei­ver­bots­kon­zepts völ­lig berech­tigt, weil die in der Duma ver­tre­te­nen Oppo­si­ti­ons­par­tei­en »extre­mis­tisch« sind und die Poten­zie­rung der Wir­kung der wahl­recht­li­chen Sperr­klau­sel durch die Instru­men­ta­ri­en der Wehr­haf­tig­keit dem Wahl­er­folg nicht­ex­tre­mis­ti­scher Oppo­si­ti­ons­par­tei­en ent­ge­gen­steht. Es hat immer wie­der wirk­lich extre­mis­ti­sche Rück­wir­kun­gen der rus­si­schen Rezep­ti­on deut­scher Beson­der­hei­ten gege­ben: Aus der harm­los erschei­nen­den deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­tie ist bekannt­lich der rus­si­sche Bol­sche­wis­mus her­vor­ge­gan­gen, der als KPD, SED und DDR mit Sta­si zurück­ge­wirkt hat.

Nun­mehr scheint sich eine Rück­wir­kung der deut­schen Beson­der­heit »wehr­haf­te Demo­kra­tie«, die in Ruß­land zur Auto­kra­tie der Mit­te mutiert ist, abzu­zeich­nen: Man will bei Aberken­nung der Wahl­op­ti­on für alle deut­schen Wahl­be­rech­tig­ten nun­mehr im Ursprungs­land der Wehr­haf­tig­keit mit gewis­ser­ma­ßen rus­si­schen Paro­len des Anti­fa­schis­mus eine Par­tei ver­bie­ten, die poten­ti­ell von einem Drit­tel der Wäh­ler gewählt wird. Eine Auto­kra­tie der Mit­te wäre dann im VS-Land BRD unvermeidbar.

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(1) – Wolf­gang Mer­kel u. a.: Defek­te Demo­kra­tie, Bd. 2: Regio­nal­ana­ly­sen, Wies­ba­den 2006, S. 295 ff.

(2) – Vgl. Peter Pat­ze: Wie demo­kra­tisch ist Ruß­land? Ein tie­fen­ori­en­tier­ter Ansatz zur Mes­sung demo­kra­ti­scher Stan­dards, Baden-Baden 2011, S. 42.

(3) – Tom Thie­me: Ham­mer, Sichel, Haken­kreuz, Par­tei­po­li­ti­scher Extre­mis­mus in Ost­eu­ro­pa: Ent­ste­hungs­be­din­gun­gen und Erschei­nungs­for­men, Baden-Baden 2008, S. 181.

(4) – Vgl. Mar­kus Thiel (Hrsg.): The ›Mili­tant Demo­cra­cy‹ Prin­ci­ple in Modern Demo­cra­ci­es, Farn­ham et al. 2009.

(5) – Vgl. Otto Luch­ter­handt: »Der ›KPdSU-Pro­zeß‹ vor dem Ver­fas­sungs­ge­richt Ruß­lands«, in: Jahr­buch des öffent­li­chen Rechts der Gegen­wart (JöR), Bd. 43, S. 69 ff.

(6) – Zit. nach Elke Fein: »Ruß­lands lang­sa­mer Abschied von der Ver­gan­gen­heit«, in: Ost­eu­ro­pa 2002, S. 1608 ff., 1627.

(7) – Hel­mut Roe­wer: Skru­pel­los. Die Machen­schaf­ten der Geheim­diens­te in Russ­land und Deutsch­land 1914 – 1941, Leip­zig 2004, S. 63.

(8) – Vgl. Alex­an­der Sinow­jew: Kata­stroi­ka. Gor­bat­schows Potem­kin­sche Dör­fer, Frank­furt a. M. /Berlin 1988, S. 89 ff.

(9) – Zit. nach Boris Reit­schus­ter: Putins Demo­kra­tur. Wie der Kreml den Wes­ten das Fürch­ten lehrt, Ber­lin 2007, S. 75.

(10) – »Erst recht fehlt es dem Ver­bot der Ver­brei­tung rechts­extre­mis­ti­schen Gedan­ken­guts an bestimm­ba­ren Kon­tu­ren. Ob eine Posi­ti­on als rechts­extre­mis­tisch mög­li­cher­wei­se in Abgren­zung zu ›rechts­ra­di­kal‹ oder ›rechts­re­ak­tio­när‹ ein­zu­stu­fen ist, ist eine Fra­ge des poli­ti­schen Mei­nungs­kamp­fes und der gesell­schafts­wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung.« Sie­he Beschluß 1 BvR 1106/08 vom 8. Dezem­ber 2010, ins­be­son­de­re Rn. 20 (abruf­bar unter bundesverfassungsgericht.de).

(11) – Fried­rich-Chris­ti­an Schroe­der: »Die rus­si­schen Straf­vor­schrif­ten gegen Extre­mis­mus«, in: Ruß­land-Ana­ly­sen 149/07 vom 16. Novem­ber 2007.

(12) – So zusam­men­fas­send die durch­aus sehr brauch­ba­re umfang­rei­che Ana­ly­se »Die Anti-Extre­mis­mus-Poli­tik in Ruß­land. Neue Ent­wick­lun­gen« von Alex­an­der Verkhovs­ky (abruf­bar unter bpb.de).

(13) – Vgl. Kon­rad ­Rei­sin­ger: »Putins Anti­fa-Kampf: Eine sowjet-kom­mu­nis­ti­sche Kon­ti­nui­tät«, in: auf1.info vom 28. Novem­ber 2023.

(14) – Vgl. Josef Schüßlb­ur­ner: »Gedan­ken­po­li­zei­li­cher Ver­fas­sungs­schutz­ex­tre­mis­mus in Ham­burg« (2023), Gut­ach­ten zur Ein­stu­fung der SWG als »erwie­sen rechts­extre­mis­tisch« (abruf­bar als PDF unter swg-mobil.de).

(15) – Vgl. Boris Kagar­lit­sky: Rus­sia under Yelt­sin and Putin. Neo-Libe­ral Auto­cra­cy, Lon­don et al. 2002, S. 220.

(16) – Mar­ga­re­ta Momm­sen: Wer herrscht in Ruß­land? Der Kreml und die Schat­ten der Macht, Mün­chen 2003, S. 42.

(17) – Vgl. Juan Pablo Fusi: Fran­co. Spa­ni­en unter der Dik­ta­tur 1936 – 1975, Mün­chen 1992.

(18) – Vgl. Bert­rand Michel Buch­mann: Insel der Unse­li­gen. Das auto­ri­tä­re Öster­reich 1933 – 1938, Wien /Graz 2019.

(19) – Vgl. Michel Elt­cha­nin­off: In Putins Kopf. Die Phi­lo­so­phie eines lupen­rei­nen Demo­kra­ten, Stutt­gart 2016, S. 22.

(20) – Vgl. Fabio Wol­ken­stein: Die dunk­le Sei­te der Christ­de­mo­kra­tie. Geschich­te einer auto­ri­tä­ren Ver­su­chung, Mün­chen 2022, S. 105 ff.

(21) – Vgl. Boris Groys: ­»Impe­ri­um als Pro­jekt. ­Poli­ti­sche Theo­lo­gie von Wla­di­mir Solo­wjow bis Alex­and­re Kojè­ve«, in: Lett­re Inter­na­tio­nal Nr. 143, Win­ter 2023, S. 43 ff.

(22) – Vgl. bei Thiel: »Mili­tant Demo­cra­cy« Prin­ci­ple, a. a. O., S. 383: »We have seen that the idea of ›mili­tant demo­cra­cy‹ is of Ger­man ori­gin […]. The coun­try reports have shown that the Ger­man con­cep­ti­on of ›mili­tancy‹ is […] an excep­tio­nal one. It is ­neither pos­si­ble nor desi­ra­ble to trans­fer the Ger­man ­model of a ›mili­tant demo­cra­cy‹ on other count­ries as it stands.«

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