Das Einschießen auf Bundeskanzler Olaf Scholz als Wiedergänger des Putin-Freunds Gerhard Schröder hat, das kann man ohne jede Sympathie für einen von beiden feststellen, längst begonnen. Allzu durchsichtig zugunsten des ehernen Transatlantikers Friedrich Merz krakeelt ausgerechnet der Spiegel von der gegenwärtigen Situation als »größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg«. Und ausgerechnet die angeblich einstmals konservative Frankfurter Allgemeine Zeitung raunt, angesichts dieser Zeitdiagnose sei es mittlerweile unumgänglich, »Undenkbares« zu denken.
»Undenkbar« war dort bis vor kurzem etwa eine Wiedereinführung der Wehrpflicht (im Gegensatz zur Verpflichtung fremder Staatsangehöriger), die Erarbeitung eines neuen »Operationsplans Deutschland« nach rund 40 Jahren oder – seitens des Bildungsministeriums – die Abkehr von den Zivilklauseln, die zivile und militärische Forschung streng getrennt halten sollen. Währenddessen fordert der Städte- und Gemeindebund geradeheraus die Einplanung umfangreicher Finanzmittel für den Bau neuer und die Wiederinbetriebnahme alter Bunkeranlagen (wie weiland in Albanien unter Enver Hodscha) sowie für die Errichtung eines Netzes von Luftschutzsirenen, um auf »die neue Bedrohungslage« zu reagieren.
Zusammen mit Maßnahmen unter anderem des Gesundheitsministeriums sowie neuen Leitlinien für die Wirtschaft will man ziemlich unumwunden Deutschland (wieder) auf den »V‑Fall« vorbereiten – nur eben keinen auf dem eigenen Boden, wie das noch vor 1989 wenigstens halbherzig formuliert war. Diesmal heißt Verteidigung: auf eine Aggression gegen einen anderen Staat reagieren, die den NATO-Bündnisfall auslösen und somit den Kriegszustand für die Bundesrepublik herstellen würde. Seit 2022 hält man es ja auch wieder für geboten, von Krieg zu sprechen statt von internationalen Polizeiaktionen und »kriegsähnlichen Handlungen«.
Man könnte meinen, das berühmte »Ende vom ›Ende der Geschichte‹«, das für die USA der 11. September 2001 markierte, sei mit der üblichen Verzögerung von ein paar Jahren nun endlich auch zwischen Rhein und Oder angekommen – wiederum unter Rot-Grün (das bißchen Gelb merkt keiner).
Wem nun warm ums souveränistische Herz wird, der hat wie immer Pech: Das alles ist eng rückgebunden an die supranationale Ebene. Nicht nur läuft offen »zur Abschreckung an der NATO-Ostflanke« seit Ende Januar mit »Steadfast Defender« das größte NATO-Manöver seit 1988, dessen geplante Truppenzahl noch kurz vor Beginn auf 90 000 Mann mehr als verdoppelt wurde – »ein wichtiger Schritt zur Kriegstüchtigkeit« laut Generalinspekteur Carsten Breuer.
Ebenfalls Ende Januar schloß die BRD mit Japan ein Unterstützungsabkommen, um ganz nebenbei noch Peking vor den Kopf zu stoßen. Und selbst die klischeehafte Neutralität der Schweiz wird heute in Frage gestellt – unter anderem ausgerechnet von Joschka Fischer, der 1999 als Schröders Außenminister mit der Losung »Nie wieder Auschwitz« die Bundeswehr in ihren ersten NATO-Kampfeinsatz (ohne UN-Mandat) schickte – in den völkerrechtswidrigen Angriff gegen Serbien im Rahmen des Kosovokriegs.
Angesichts all dessen nur mehr ein Detail: Der Einsatz der Fregatte »Hessen« der Bundesmarine innerhalb der EU-Marineoperation »Aspides« zur Sicherung der Handelsschiffahrt im Roten Meer gegen Angriffe der im Jemen de facto herrschenden Huthi-»Miliz« (und zur Entlastung der dort gleichzeitig bombardierenden Amerikaner und Briten) wurde am selben Tag beschlossen, an dem die Enquete-Kommission des Bundestags den Afghanistaneinsatz der Bundeswehr in ihrem Zwischenbericht als völligen Fehlschlag beurteilte.
Wozu braucht es schon nachträgliche Beurteilungen, wenn Militäreinsätze als verschärfte Außenpolitik auch weiterhin lediglich »Bündnispflichten« und »Sachzwängen« unterliegen, nicht etwa einer Evaluation einmal gemachter Erfahrungen oder gar der Revision? Und so bedenklich es auf den ersten Blick auch scheinen mag, wie sehr die NATO als militärisches Bündnis und eine politisch-wirtschaftliche Organisation wie die Europäische Union einander zunehmend überschneiden und teilweise gar zu verschmelzen scheinen: Seit der ohne großen Medienrummel geschlossenen Berlin-Plus-Vereinbarung von 2003 sind die Organe der »Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik« (GSVP) der EU praktisch Klientelkräfte der NATO.
Und doch: Angesichts der Wahlkampfrabulistik Donald Trumps, dem »Zwei-Prozent-Ziel« gegenüber säumigen NATO-Mitgliedstaaten militärische Unterstützung durch die USA vorenthalten zu wollen, tut man so betroffen wie kaum je zuvor. Deshalb wurde auf der diesjährigen Münchner Sicherheitskonferenz die vor dem Hintergrund des Ukrainekriegs brennende Frage der GSVP nicht öffentlich thematisiert: Man befürchtete, daß die Diskussion europäischer Pläne für militärische Handlungsfähigkeit populistischen Strömungen in die Karten spielen könnte.
Dabei wäre zumindest das Gedankenspiel durchaus reizvoll gewesen, ungeachtet all des unvermeidlichen Getöses von Bodentruppen in der Ukraine (Emmanuel Macron) bis hin zu einem britisch-französischen Atomwaffenschild für Europa »unter dem Dach der NATO« (Christian Lindner). Denn ein wesentlicher Schwachpunkt des Nordatlantikpakts ist doch die amerikanische Einstellung gegenüber Krieg an und für sich, die der europäischen nicht diametraler gegenüberstehen könnte und auf dem mit der Monroe-Doktrin von 1823 festgeschriebenen Interventionscharakter beruht. Deshalb erfreut sich dieses Wort »drüben« im militärischen Bezug so großer Beliebtheit.
Ob und wann die USA ihre bewaffneten Expeditionen unternehmen, ist eine Frage von Kongreßmehrheiten. Wenn aber der Widerstand an der Heimatfront zu groß wird und schlechte Wahlergebnisse ankündigt, machen die GIs ihre nicht luftverlegbare Ausrüstung unbrauchbar (oder auch nicht, wie Afghanistan 2021 gezeigt hat) und werden ausgeflogen. Zu Hause sind sie mindestens einen Ozean von sämtlichen Konfliktherden der Welt entfernt. Die Vereinigten Staaten haben auf ihrem eigenen Festlandterritorium seit dem Britisch-Amerikanischen Krieg (1812 – 1814) keine fremden Truppenkontingente gesehen und – abgesehen von einzelnen japanischen »Windschiffbomben« und einigen Granaten aufgetauchter U‑Boote – keinerlei Feindbeschuß erlebt.
So banal das auf den ersten Blick scheinen mag, so schwerwiegend sind die Folgen daraus. Der Grundcharakter des Atlantikpakts als Schutzschirm über Westeuropa beruhte gänzlich auf der strategischen Planung, daß die amerikanischen Garnisonen durch ihre Anwesenheit östliche Aggressionen abschrecken und anderseits im Ernstfall schnellstmöglich mit Masse über den Atlantik verlegen und die bereits überrannten Verbündeten freikämpfen würden. (Die unter anderem von der FAZ betrauerte alte (West-)Bundeswehr mit ihrer halben Million Soldaten, zwei Millionen Reservisten und Tausenden Kampfpanzern war stets nur als Kanonenfutter im NATO-Rahmen konzipiert.)
Die US-Heimatfront hingegen sollte in jedem Fall bedrohungsfrei gehalten werden, auch und gerade zur Aufrechterhaltung der für Kriegsanstrengungen unverzichtbaren extremen Wirtschaftsleistung. Die beharrliche Kriegsunwilligkeit der Mehrheitsbevölkerung vor dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor sowie die panischen Reaktionen auf angebliche Invasionsbedrohungen im folgenden Verlauf des Zweiten Weltkriegs hatten den »militärisch-industriellen Komplex« (Dwight D. Eisenhower) gelehrt, daß hier keinerlei Risiken mehr eingegangen werden durften.
Allein: Die Rechnung ging schon nach weniger als zehn Jahren des Bestehens der NATO nicht mehr auf. Als die Sowjetunion am 4. Oktober 1957 den ersten Satelliten in eine Umlaufbahn schickte, war die Grundlage für den folgenden »Sputnikschock« mitnichten der neue künstliche Erdtrabant selbst – dieser war bereits ein Vierteljahr zuvor in internationalen Wissenschaftlerkreisen angekündigt worden. Vielmehr lag mit dessen Trägersystem R‑7 nunmehr die erste funktionsfähige Interkontinentalrakete vor, mit der die bereits seit 1949 über die Atom- und seit 1953 über die Wasserstoffbombe verfügenden Sowjets zumindest auf dem Papier problemlos US-Großstädte wie New York City und Washington, D.C. angreifen konnten. (Daß dies, wie heute bekannt ist, im Ernstfall wahrscheinlich nicht gelungen wäre, ist logistischen und keineswegs technischen Gründen geschuldet.)
Elf Monate »nach Sputnik« begannen die USA mit der – gemäß dem Konzept der »Massiven Vergeltung« bereits deutlich länger geplanten – Stationierung von Atomwaffen in Westeuropa, was im Verbund mit Kompetenz- und Souveränitätsstreitigkeiten 1966 den Austritt Frankreichs, das 1960 selbst Atommacht geworden war, aus der NATO nach sich zog. Ein europäisch-militärischer »dritter Weg« wurde damit einen historischen Augenblick lang denkbar und fand bei westdeutschen Rechtskonservativen um Armin Mohler vehemente Befürworter, doch letztlich geschah nichts, und 2009 führte Nicolas Sarkozy die Franzosen in den Reigen um die weiße Kompaßrose zurück.
Während die Atomschlagkapazität die historische Gretchenfrage der NATO ist, sich realpolitisch aber genauso überlebt hat wie der Nordatlantikvertrag von 1949 als solcher mit dem Zerfall der Sowjetunion, bleibt das durch Trumps erwähnte große Töne wiederbelebte Gewese um eine »Relativierung der NATO-Beistandsverpflichtung« in jedem Fall und von jeder Seite scheinheilig. Denn US-Standorte gibt es ja ohnehin in mindestens der Hälfte der derzeit 32 NATO-Mitgliedstaaten! Was sollte im »V‑Fall« mit diesen geschehen, wenn der betroffene Staat als säumiger Tributzahler des überseeischen Beistands verlustig gegangen wäre? Auch zeigte sich bereits im Zypernkonflikt (1963 – 1974) die mangelnde Handlungsfähigkeit der gänzlich gegen die Sowjetunion gerichteten NATO bei Konflikten zwischen ihren Mitgliedstaaten, als es zwischen Griechen und Türken zu fortlaufenden Scharmützeln knapp unterhalb offizieller Kriegshandlungen kam.
Die durchaus mangelnde »Kameradschaft« auch der europäischen Bündnispartner untereinander, die wir dieser Tage hinsichtlich der völlig unangemessen aufgeblähten Debatte um die Lieferung deutscher Marschflugkörper an die Ukraine erleben, hat das Potential, sich noch zu einem gewichtigen Problem für die »europäische Friedens- und Freiheitsordnung« (wiederum Lindner) auszuweiten: Voraussichtlich im Herbst wird der Norweger Jens Stoltenberg als NATO-Generalsekretär abtreten. Wiewohl der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte als wahrscheinlicher Nachfolger gilt und von Noch-US-Präsident Biden unterstützt wird, ist denkbar, daß die seit 1999 beigetretenen osteuropäischen Nationen einen der Ihren als Gegenkandidaten aufstellen könnten – die strategische Bedeutung hat sich immerhin deutlich gen Osten verschoben.
Angesichts der Haltung insbesondere Polens mit seinem neuen Außenminister Radosław Sikorski (Ehemann der neokonservativen US-Historikerin Anne Applebaum, der die Sprengung von »Nord Stream 2« mit »Thank you, USA« kommentierte) zur derzeitigen NATO-Politik läßt das nichts Gutes erahnen. Und eine Remedur ist auch von der US-Präsidentschaftswahl im November nicht zu erwarten: Der heutige amerikanische Regierungsapparat ist immer noch die molochhafte Maschine, die aufgebaut wurde, um den Kalten Krieg zu gewinnen. So etwas läßt sich nicht einfach wieder abschalten, zumal nicht mit einem militärisch-industriell-medial-behördlichen Komplex, der stärker ist als jemals zuvor.
Die NATO-Politik – und das ist in dieser Zeit zwangsläufig die US-Politik – hat mindestens seit 1990 zwar subkutan, doch um so wirkungsvoller den europäischen Kontinent erneut zu spalten vermocht. Man vergesse in all dem Kriegsnebel nicht: Rußland ist seit den Petrinischen Reformen vor 300 Jahren mindestens zur Hälfte eine europäische Nation – nun wurde es bis auf weiteres wörtlich zum Bruderkuß mit den Volksrepubliken China und Nordkorea sowie dem Iran getrieben. Ob die dezidiert als Gegenorganisation zur G7 unter russisch-chinesischem Primat zusammengeschlossenen BRICS(-plus)-Staaten erstere einmal wirtschaftlich in den Schatten stellen werden, scheint angesichts des höchst instabilen weltweiten Real-BIP seit Beginn des Ukrainekriegs nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Was das geopolitische Endspiel dieser Ranküne sein wird, ist bislang noch offen.
Fest steht jedoch, daß einerseits die Vereinigten Staaten nicht mehr wie noch zu Zeiten der Sowjetunion zur globalen Machtprojektion imstande sind und daß anderseits die europäischen NATO-Mitgliedstaaten trotz aller Hochtechnologie und frischer Aufrüstungspläne ohne die USA derzeit praktisch wehrlos dastehen und einen Abnutzungskrieg, wie er seit mehr als zwei Jahren in der Ukraine geführt wird, keinesfalls über einen längeren Zeitraum durchhalten könnten. Erst recht nicht – hypothetisch – gegen eine russische Armee, die nach der mißlungenen Einnahme von Kiew gezwungen war, ihre strategische wie technologische Weiterentwicklung erheblich zu beschleunigen. Allein ihre in der Ukraine gewonnene Erfahrung mit taktischer Drohnenkampfführung dürfte für die NATO vorerst kaum auszugleichen sein.
Das aber bedeutet, daß die USA und mit ihnen die gesamte NATO in der Klemme stecken. »America first«, das nie mehr als eine hohle Phrase war, steht nicht zur Debatte – man hat den Verlust des britischen Empire nach dem Zweiten Weltkrieg genau studiert, teils von innen, und kennt die Konsequenzen des Zurückweichens von globalen Machtansprüchen. Ebenso ist der US-Selbstanspruch, zumindest zwei Kriege zur gleichen Zeit irgendwo auf der Welt führen zu können, schon seit Ende der 1990er nicht mehr haltbar, erst recht nicht bei gleichzeitigem Säbelrasseln gegenüber einer »neuen revisionistischen Allianz« (NZZ) aus Rußland, China und dem Iran.
Auf dem Fortbestehen der NATO muß also aus reiner Machtdynamik zwanghaft beharrt werden, bei ständig zunehmender Belastung der Mitgliedstaaten sowie transnationaler Parallelstrukturen, und das nur für einen zerbrechlichen Status quo. Ob das mit oder ohne Donald Trump geschieht, ist wortwörtlich eine rhetorische Frage.