Dennoch wurde das Wahlziel, stärkste Kraft zu werden, knapp verfehlt, was an einer fulminanten Aufholjagd der SPD lag, die entgegen dem Umfragetrend im Bund und den Ergebnissen in Sachsen und Thüringen in Brandenburg nochmals 5% Punkte zulegen konnte. Den Preis dafür mußten die Grünen und die Linken bezahlen: Sie verfehlten die Fünf-Prozent-Hürde deutlich.
Ähnlich wie schon vor drei Wochen wurde auch in Brandenburg ein Wahlbeteiligungsrekord geknackt. Wahlbeteiligungen von über 70% waren im Osten immer die Ausnahme. Nun wurde diese Marke bei gleich drei Landtagswahlen hintereinander überschritten.
Die AfD kann sich also auf starkem Niveau problemlos in einem massiven Mobilisierungswettlauf behaupten. 140.000 absolute Stimmen konnten hinzugewonnen werden, bei den Erststimmen sogar fast 190.000. Bisher gibt es dazu keine Datengrundlage, aber wie auch schon in Sachsen und Thüringen ist durch die fehlenden flächendeckenden BSW-Direktkandidaten von einem Stimmensplitting zwischen einer Erststimme für die AfD und einer Zweitstimme für das BSW auszugehen.
Bei vergangenen Wahlen war die Verteilung zwischen Erst- und Zweitstimmenergebnis bei der AfD immer mit einem leichten Übergewicht für die Zweitstimme verbunden. Nun ist es umgekehrt. Dies läßt den Schluß zu, daß das BSW zwar in den Wählerwanderungen nur verhältnismäßig wenig aus dem AfD-Stammpool abgreift, aber dennoch ist anhand der Stimmenzweiteilung von einer gewissen Potentialabschöpfung (nach 2019) auszugehen.
Insgesamt gewinnt die AfD in allen Gemeinden und Wahlkreisen Stimmen hinzu. Am stärksten vor allem in den Grenzregionen des Landes.
Das Duell Einer gegen Alle
Die Ergebnisse in Thüringen und Sachsen mögen dem brandenburgischen Landesverband Rückenwind gegeben haben. Dem direkten Verfolger in den Umfragen, der SPD, jedoch auch. Noch im Juli lagen die Sozialdemokraten bei unter 20% und können nun mit 30,8% ihr Ergebnis sogar im Vergleich zur letzten Landtagswahl 2019 nochmals deutlich steigern. Entscheidend dafür war die Kannibalisierung des linken Lagers. Die Grünen verloren 47.000 Stimmen an die SPD und mussten insbesondere in ihren Hochburgen, rund um den Berliner Speckgürtel teilweise zweistellige prozentuale Verluste hinnehmen. Ebenfalls profitiert die SPD von einer höheren Wahlbeteiligung, die sich in den Regionen rund um die Landeshauptstadt Potsdam um bis zu 80% niederschlägt. Im gesamten Land konnte die SPD 51.000 Nichtwähler mobilisieren.
Allerdings waren nur wenige Wähler der SPD restlos vom Programm, Personal und Wahlkampf der SPD überzeugt. Mit den Ergebnissen von vor drei Wochen im Hinterkopf war klar, daß sich dieser verbleibende Wahlkampf voll und ganz auf einen Wettlauf um den ersten Platz konzentrieren würde. 75% der SPD-Wähler geben an, daß sie nicht vollumfänglich von ihrer Wahl überzeugt sind und die SPD vor allem wählten, um die AfD zu verhindern.
Bei den CDU-Wählern waren es 59% die ein ähnliches Wahlmotiv angegeben haben. Fast ein Drittel der BSW-Wähler gibt an, daß sie ohne das Angebot des BSW der AfD ihre Stimme gegeben hätten.
Die Rettung der SPD waren also auf der taktischen Ebene die Leihstimmen des linken Lagers und die Präsenz des BSW, welches den Potentialraum der AfD etwas limitierte. Auf der strukturellen Ebene waren es der Speckgürtel Berlins und andere urbane Gebiete sowie die Wähler ab der 60+ Generation. Die AfD ist in allen Alterskohorten von 16–59 Jahren stärkste Kraft. Bei den 16–24-Jährigen sogar mit großem Abstand, wo sie im Vergleich zur letzten Wahl ganze 13% zulegen kann.
Das ist einerseits erfreulich, aber es verdeutlicht nochmals die strukturelle Barriere für die AfD, die ich bereits in früheren Wahlanalysen häufiger erwähnt habe. Die Jugend ist im Osten rein quantitativ kein wirksamer Faktor. Auf einen Jungwähler zwischen 18–30 Jahren kommen drei bis vier Wähler ab 60+.
Der Generationenkonflikt wird in diesen Wahlergebnissen mehr als deutlich und manche wenden auch ein, daß sich derartige Mißverhältnisse letztlich durch die Tatsache von der Endlichkeit des Lebens von selbst lösen. Ich vermute jedoch, daß viele hier einerseits die Zeitfenster von politischen Veränderungsprozessen unterschätzen und zugleich auch die politische Sozialisierung der jungen Menschen keineswegs abgeschlossen ist und heute viel volatiler ist als noch vor 40–50 Jahren.
Der Aufbau von vorpolitischen Milieus und Graswurzelstrukturen erfordert viel Kraftaufwand und Ressourceneinsatz. Gerade durch die massiven Verschiebungsprozesse im bundesrepublikanischen Parteiensystem können sich politische und ideologische Orientierungen bei jungen Leuten auch schnell wieder ändern.
Bei den restlichen Parteien war die Brandenburg-Wahl in vielerlei Hinsicht eine negative Zäsur. Die Grünen konnten in keiner einzigen Gemeinde ihr vorangegangenes Ergebnis halten, geschweige denn Stimmen hinzugewinnen. Am stärksten machten sich diese Verluste an den Rändern Berlins bemerkbar.
Die Linkspartei flog erstmals aus einem ostdeutschen Landtag und dürfte den Wählertransfer zum BSW fast vollständig vollzogen haben. Das BSW kratzt dabei vor allem an den ostdeutschen Kernmilieus der Linkspartei (weiblich und über 60 Jahre).
Bei der CDU wollte man sich die Laune über die guten Umfrageergebnisse im Bund nicht durch einen Dämpfer in Brandenburg verderben lassen. Somit war die Kommunikation am Wahlabend auch recht schnell auf die Glückwünsche an Dietmar Woidke fokussiert, ohne daß dabei die Ursachen für das eigene (historisch) schlechte Abschneiden analysiert worden wären.
Manche Bundespolitiker sahen die Stimmenverluste der CDU an die SPD sogar als einen gemeinsamen Kraftakt, um die AfD zu verhindern. Offenbar würde sich die Union lieber in den politischen Selbstmord treiben, als die AfD als stärkste Kraft aus einer Landtagswahl hervorgehen zu lassen.
Ein interessanter Aspekt bei den Umfragen zur CDU war insbesondere die Abfrage nach der Verantwortlichkeit für den massenhaften Zuzug von Migranten nach Deutschland. 55% der Wähler sehen die Verantwortung klar bei der CDU und weniger bei den linken Parteien. Das sind bemerkenswerte Zahlen, die den nachhaltigen Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust der merkelschen Migrationspolitik unterstreichen und ebenfalls verdeutlichen, daß sich das ostdeutsche Elektorat nicht von ein paar „Law and Order“ Floskeln beeindrucken läßt.
Ich hörte in einigen Gesprächen nach dem Wahltag heraus, daß viele AfD-Wähler mit den Ostwahlergebnissen zwar zufrieden sind, aber dennoch eine ernüchternde Note aufgrund fehlender Machtoptionen hinzufügen. Auf der einen Seite wird angemerkt, dass die Ergebnisse noch viel höher sein müßten, damit sich der Druck auf die Altparteien noch verstärken würde. Wieder andere behaupten, daß die Ostverbände sich durch ihre oppositionelle Grundhaltung und Radikalität den Weg in Koalitionen selbst versperrt hätten.
Es ist nicht so, als würden diese Debatten erst seit gestern geführt werden. Der Osten wählt AfD, weil es im Osten zahlreiche günstige Strukturmerkmale für eine rechte Partei gibt – Mentalität, Sozialisation, Biographien, geringere Bevölkerungsdichte, weniger Akademiker, schwache traditionelle Parteibindungen.
Hinzu kommt, daß die Wahlkämpfer und AfD-Mitglieder das Lebensgefühl der “ostdeutschen Seele” zu verstehen scheinen und in eine solide Kommunikationsstrategie implementieren. Es gilt nun vor allem den elektoralen Zuwachs in robuste Strukturen und die metapolitischen Ressourcen vor Ort zu investieren.
Mitleser2
Ich verstehe einiges nicht. Im Text heißt es "Entscheidend [für die Stärke der SPD] war die Kannibalisierung des linken Lagers."
Wie wird dann erklärt, dass alle Umfragen die SPD bei 25-27% sahen, und die CDU bei 14-16%? Die Veränderungen zum Ergebnis passen doch viel besser zu einer Wahlhilfe durch CDU-Wähler. Egal was irgendwelche Wählerwanderungszahlen dieser Prognoseinstitute sagen.