Otherkin, oder: den Menschen ablegen

von Eva Rex -- PDF der Druckfassung aus Sezession 119/ April 2024

Mit der Trans­gen­der-Ideo­lo­gie haben wir längst nicht das Ende der Fah­nen­stan­ge im Diver­si­täts-Inklu­si­ons-Wahn erreicht – es geht noch absur­der, noch scho­ckie­ren­der: Mög­lich und aner­kannt ist es heu­te, wenn sich Men­schen als »nicht­mensch­li­ches« Wesen iden­ti­fi­zie­ren und vor­ge­ben, ein Tier oder eine ande­re »Lebens- und Exis­tenz­form« zu sein.

Mit der Über­schrei­tung der Spe­zies­gren­zen erreicht der all­ge­mei­ne Dekon­struk­ti­ons­fu­ror eine neue Dimen­si­on. Die Ableh­nung des Eige­nen macht sich nicht allein im Res­sen­ti­ment gegen »Weiß-Sein«, »Männ­lich­keit« und die west­li­che Kul­tur bemerk­bar, son­dern rich­tet sei­nen Haß nun­mehr gegen das Mensch-Sein an sich.

 

1. Theo­rie: Die ame­ri­ka­ni­sche Wis­sen­schafts­theo­re­ti­ke­rin und Radikal­feministin Don­na J. Hara­way for­dert zum Woh­le des Pla­ne­ten eine Sym­bio­se von Mensch, Tier und Pflan­ze. Bereits in ihrer 1985 erschie­ne­nen Pole­mik »Mani­festo for Cyborgs« (1) gelang­te sie zu der Fest­stel­lung, daß im Zeit­al­ter tech­no­lo­gi­scher Trans­for­ma­ti­ons­pro­zes­se die Unter­schei­dung zwi­schen Mensch, Tier und Maschi­ne hin­fäl­lig sei.

In ihrem Buch Unru­hig blei­ben (Stay­ing With the Trou­ble) (2) aus dem Jahr 2016 ent­wi­ckel­te sie Kon­zep­te, wie zukünf­ti­ges Leben auf der Erde nach­hal­tig und »ver­ant­wor­tungs­voll« gestal­tet wer­den kön­ne: »Make kin, not babies!« – »Macht euch ver­wandt, nicht Babys!« lau­tet der Slo­gan ihrer öko­lo­gi­schen Ethik, deren intel­lek­tu­el­le Ver­stie­gen­heit gera­de­zu sprach­los macht und die den­noch den Nerv der Zeit punkt­ge­nau trifft.

»Make kin, not babies!« (3) ist ein Auf­ruf, Ver­wandt­schaft nicht län­ger als bio­lo­gi­sche Abstam­mung zu ver­ste­hen, son­dern »arten­über­grei­fend«. Statt die mensch­li­che Spe­zi­es durch bluts­ver­wand­te Repro­duk­ti­on sinn­los zu ver­meh­ren, soll­ten wir uns bes­ser jen­seits her­kömm­li­cher For­men wie der genea­lo­gi­schen Fami­lie »ver­schwis­tern«, was ein Zusam­men­ge­hen von mensch­li­chen und nicht­mensch­li­chen und sogar tech­no­lo­gisch modi­fi­zier­ten Krea­tu­ren meint. Denn die unge­hemm­te Ver­meh­rung des »Ego­is­ten Mensch«, so Hara­way, wer­de zwei­fel­los die völ­li­ge Aus­lö­schung alles Leben­di­gen zur Fol­ge haben. Des­halb müs­se das zer­stö­re­ri­sche Anthro­po­zän über­wun­den und durch eine »Anders­welt« ersetzt wer­den, in der mensch­li­che und tie­ri­sche Wesen als »Sym­bi­on­ten« har­mo­nisch zusammenleben.

Das von ihr vor­ge­schla­ge­ne Modell ist mys­tisch auf­ge­la­den und hul­digt einem pan­the­is­ti­schen Holis­mus, der die untrenn­ba­re Ver­floch­ten­heit aller exis­tie­ren­den Din­ge betont. So sei es drin­gend gebo­ten, den gewohn­ten Blick­win­kel zu ändern, damit nach­voll­zieh­bar wer­de, wie ande­re Lebe­we­sen »sich bewe­gen, füh­len und den­ken«. Dies ist aus­drück­lich spie­le­risch zu ver­ste­hen, denn »Ver­spielt­heit, Beweg­lich­keit, mehr sein, als wir zu sein glau­ben«, ist Hara­ways Zau­ber­wort für die Her­stel­lung varia­bler Identitäten.

Ver­spielt ist nicht zuletzt ihre wis­sen­schaft­li­che Metho­de, die sie »SF« nennt, was Sci­ence Fic­tion bedeu­ten kann oder Sci­ence Fact und gleich­zei­tig als Kür­zel für Spe­ku­la­ti­ven Femi­nis­mus steht sowie für Sting Figu­res – Faden­spie­le, die ver­schie­dens­te Ele­men­te mit­ein­an­der ver­bin­den. Einem Faden­spiel sol­le auch das Den­ken glei­chen, es sol­le Fik­tio­nen mit Fak­ten ver­knüp­fen und neue mythen­bil­den­de Geschich­ten erfin­den, die die über­hol­ten (weil patri­ar­cha­len und »herr­schafts­sta­bi­li­sie­ren­den«) Geschichts­nar­ra­ti­ve überschreiben.

 

2. Mani­fes­ta­ti­on: Wie alp­traum­haf­te Fik­ti­on kommt die sub­kul­tu­rel­le Bewe­gung der Other­kin daher – ein an Psy­cho­pa­thie kaum zu über­bie­ten­der Aus­druck tiefs­ter Seins­ver­lo­ren­heit, des­sen Nach­ah­mer Hara­ways Paro­le des arten­über­grei­fen­den »Sich-ver­wandt-Machens« wort­wört­lich zu neh­men schei­nen. Other­kin (es kur­sie­ren auch die Begrif­fe The­ri­an oder Alter-Human) ist die Selbst­be­zeich­nung von Per­so­nen, die sich nicht der mensch­li­chen Spe­zi­es zuge­hö­rig füh­len. Die­se bevor­zu­gen es, sich als Kat­ze, Fuchs, Löwe, Reh oder eine ande­re Tier­art (wahl­wei­se auch als Phan­ta­sie- oder Fabel­we­sen) zu »bewe­gen, füh­len und den­ken«, und das nicht nur spie­le­risch, son­dern mit vol­lem Ernst und allen damit ver­bun­de­nen lebens­praktischen Kon­se­quen­zen. (4)

Seit den 2010er Jah­ren wächst die Other­kin-Com­mu­ni­ty kon­ti­nu­ier­lich, ihre Mit­glie­der tau­schen sich auf Online­fo­ren wie Tik­Tok oder Red­dit aus, um sich gegen­sei­tig in ihrer »neu­en Iden­ti­tät« zu bestä­ti­gen. In unter­schied­li­cher Inten­si­tät eifern sie dem jewei­li­gen Tier oder Wesen nach, zu dem sie eine tie­fe Bezie­hung zu ver­spü­ren mei­nen. Sie berich­ten von Gefüh­len inni­ger Nähe und beschwö­ren eine über­sinn­li­che Ver­bun­den­heit. Die wahr­ge­nom­me­nen (oder ein­ge­bil­de­ten) Eigen­schaf­ten ihres bevor­zug­ten »Art-Genos­sen« erfor­schen sie in ihrem eige­nen Selbst und möch­ten die­se in sich kul­ti­vie­ren. Die als »Kin­ty­pe« gewähl­te Spe­zi­es dient ihnen als Vor­bild und Antrieb ihrer urei­ge­nen Persönlichkeitsentwicklung.

Auf­fäl­lig ist die Beto­nung der spi­ri­tu­el­len Dimen­si­on ihres »Erwacht-Seins«: Typi­scher­wei­se bezieht man sich im Other­kin-Milieu auf heid­ni­sche (»ursprüng­li­che«) Reli­gio­nen, in denen See­len noch wan­der­ten und es üblich war, als Tier reinkar­niert zu wer­den. Das ver­nunft­ab­ge­wand­te Füh­len wird stark betont, um in eine magi­sche Welt ein­zu­tau­chen, in der alles mit­ein­an­der ver­bun­den und nichts dua­lis­tisch getrennt ist. (5) Es über­rascht nicht, daß Other­kin-Anhän­ger sich als Teil der quee­ren Com­mu­ni­ty sehen. Ana­log zu den kör­per­dys­mor­phen Zwangs­vor­stel­lun­gen, die in der Trans­gen­der-Bla­se ton­an­ge­bend sind, füh­len sich Nicht-Men­schen »falsch im eige­nen Kör­per«, leh­nen ihre »bei der Geburt zuge­wie­se­ne bio­lo­gi­sche Art« ab und bedie­nen sich auch sonst der glei­chen Ter­mi­no­lo­gie, die man aus Dis­kus­sio­nen über sozia­le Gerech­tig­keit kennt. Die meis­ten von ihnen haben bereits einen Geschlechts­wech­sel hin­ter sich, bevor sie sich ent­schei­den, nun auch die Spe­zi­es­zu­ge­hö­rig­keit hin­ter sich zu lassen.

Das Other­kin-Sein betrach­ten sie als eine wei­te­re Ent­wick­lungs­stu­fe auf dem Weg zur Selbst­ver­voll­komm­nung, von der sie eine über­aus ver­zerr­te Auf­fas­sung haben. Man könn­te es als wei­te­re Eska­la­ti­ons­stu­fe des moder­nen Selbst­ver­wirk­li­chungs­irr­sinns betrach­ten, zumal nicht weni­ge Nicht-Men­schen irrever­si­ble Ein­grif­fe an sich durch­füh­ren las­sen und sich radi­ka­len Ope­ra­tio­nen unter­zie­hen, um ihr äuße­res Erschei­nungs­bild ihrer jewei­li­gen Vor­stel­lung anzu­pas­sen. Die dras­tischs­ten (und erschreckend­sten) »kör­per­mo­di­fi­zie­ren­den« OPs wer­den in Süd­ame­ri­ka durch­ge­führt, da ent­spre­chen­de Ein­grif­fe in Euro­pa und den USA bis­lang ver­bo­ten sind (etwa die Ampu­ta­ti­on gesun­der Glied­ma­ßen). Die Ergeb­nis­se sind teil­wei­se mons­trös und las­sen jedes Gru­sel­ka­bi­nett wie eine nied­li­che Pup­pen­stu­be aussehen.

Fol­lower der Other­kin-Idee schei­nen aus der »Anders­welt« der Com­pu­ter­spie­le und Fan­ta­sy-Ani­mes gar nicht mehr her­aus­zu­fin­den, was kein Zufall ist, bie­tet ihnen doch der Cyber­space den Zugang zu einem ande­ren, bes­se­ren Ich. Eine unver­wech­sel­ba­re Figur nach eige­nen Vor­ga­ben zu gestal­ten und sich eine alter­na­ti­ve Iden­ti­tät zuzu­le­gen ist die per­fek­te Mög­lich­keit, der dau­er­prä­sen­ten Auf­for­de­rung, sich per­ma­nent »neu zu erfin­den« nach­zu­kom­men. Oben­drein ködert die vir­tu­el­le Phan­ta­sie­welt mit ver­meint­li­cher Frei­heit: Du kannst sein, was immer du willst, so unge­wöhn­lich dei­ne Wün­sche auch sein mögen – sei ein Tier, ein Cyborg, ein Hybrid, ein Rep­ti­lo­id … Die Lis­te des Viel­falts-Bes­tia­ri­ums ist belie­big erwei­ter­bar, und man fragt sich wirk­lich, war­um es eine sol­che Last ist, ein Mensch zu sein.

Eine ande­re Vari­an­te der inter­net­in­du­zier­ten Selbst­dar­stel­lung ist das »Fur­ry fan­dom« (fur­ry – engl. »fel­lig, pel­zig«), bei dem es dar­um geht, ver­mensch­lich­te (anthro­po­mor­phe) Tie­re (aus Comics, Man­gas etc.) zu imi­tie­ren. Schein­bar dreht sich hier alles um die Prä­sen­ta­ti­on und Per­for­mance auf­wen­dig her­ge­stell­ter Fell­kos­tü­me (»Fur­suits«) auf schrill insze­nier­ten »Fur­ry-Con­ven­ti­ons«, die an die Cos­play-Sze­ne ange­lehnt sind. Fur­rys geben sich in der Öffent­lich­keit als harm­los und nied­lich, doch schaut man sich im Inter­net auf ein­schlä­gi­gen Sei­ten wie fetisch.de oder XHams­ter um, sind die por­no­gra­phi­schen und zoo­phi­len Inter­es­sen der pel­zi­gen »Kinks­ter« unver­kenn­bar. (6)

Anders als die geleb­te Other­kin-Exis­tenz ver­langt die Fur­ry-Iden­ti­tät jedoch kei­ne rigo­ro­sen und kör­per­inva­si­ven Maß­nah­men, weil hier die Ver­wand­lung nur tem­po­rär und rein äußer­lich zum Aus­druck kommt. Das Fur­ry-Sein kann mit dem bun­ten Plüsch­an­zug abge­legt wer­den, die Rück­kehr ins nor­ma­le Leben ist jeder­zeit mög­lich (auch wenn immer wie­der »Fur­so­nas« auf­se­hen­er­re­gend in Erschei­nung tre­ten, die mit ihrem »Fur­su­it« ver­wach­sen sind, im Hun­de­zwin­ger schla­fen, aus dem Napf fres­sen und in der Öffent­lich­keit auf allen Vie­ren lau­fen). (7)

Fast naht­los ver­läuft an die­ser Stel­le der Über­gang zu den »PupPlay«-Gemeinschaften oder Pup­pies (engl. für Hun­de­wel­pen). Auch in die­ser – vor­nehm­lich im Homo­se­xu­el­len-Milieu behei­ma­te­ten – Sze­ne geht es um das Aus­le­ben devi­an­ter Ero­tik-Phan­ta­sien in Tier­ge­stalt. Pet­play-Fetisch ist eng mit der schwu­len Fes­sel- und Sado­ma­so-Com­mu­ni­ty ver­bun­den: In Rol­len­spie­len wer­den Domi­nanz und Unter­wür­fig­keit eingeübt.

Die Dog­gy-Sze­ne gibt es in Euro­pa (vor allem in Deutsch­land und Groß­bri­tan­ni­en) seit rund 15 Jah­ren; auf den Stra­ßen der Groß­städ­te wird sie zuneh­mend prä­sen­ter. So sind die all­jähr­li­chen Chris­to­pher-Street-Day-Auf­mär­sche ohne Pup­pies nicht mehr vor­stell­bar. Die Hun­de­mas­ken tra­gen­den Män­ner nen­nen sich »Streu­ner«, gehö­ren zu einem Rudel und las­sen sich von ihrem Herr­chen (»hand­ler«) an der Lei­ne füh­ren. »Spie­le­risch« neh­men sie eine Zeit­lang die Rol­le und Men­ta­li­tät ihres Lieb­lings­tie­res an, das nicht zwin­gend ein Hund sein muß – auch Pfer­de, Wöl­fe, Hir­sche oder Stie­re wer­den in der Welt der Pet­play­er heiß gehandelt.

All das könn­te man als läs­ti­ge, aber vor­über­ge­hen­de Zeit­geist-Erschei­nung abtun, als splee­ni­gen Trend, in dem Infan­ti­lis­mus und Nar­ziß­mus zu einer unap­pe­tit­li­chen Sym­bio­se zusam­men­ge­fun­den haben, wäre da nicht die logi­sche Kon­se­quenz, daß die Öffent­lich­keit auf eine nach den Fetisch-Vor­lie­ben einer klei­nen Min­der­heit vor­ge­ge­be­ne »neue Nor­ma­li­tät« ver­pflich­tet wird. Wirk­lich­keit und somit das, was für alle zu gel­ten hat, wird nach den neu­en Maß­stä­ben der Woke­ness defi­niert und wie jedes »kon­stru­ier­te« Nar­ra­tiv umge­schrie­ben. So hat sich der Ver­ein PupP­lay Ger­ma­ny e.V. das Ziel gesetzt, daß Wel­pen-Spie­le als »erwei­ter­te Rea­li­täts­form des fried­li­chen Zusam­men­le­bens von Men­schen« nicht nur inner­halb der LGBTQ-Com­mu­ni­ty, son­dern gesamt­ge­sell­schaft­lich ver­stan­den und aner­kannt werden.

Daß sexu­el­le Per­ver­sio­nen mit sol­cher­art Umde­fi­ni­tio­nen salon- und gesell­schafts­fä­hig gemacht wer­den sol­len, ist eine Sache, die ärger­lich genug ist. Doch bringt die Ent­kop­pe­lung von Sexua­li­tät und Fort­pflan­zung noch einen ande­ren Aspekt mit sich: Bei den welt­weit geför­der­ten Pro­gram­men, die vor­geb­lich der Ver­brei­tung von »Viel­falt, Teil­ha­be und Inklu­si­on« die­nen sol­len, haben wir es mit einer Form des Social Engi­nee­ring zu tun, die euge­ni­sche Ziel­set­zun­gen, Ste­ri­li­tät und Ent­völ­ke­rung in glo­ba­ler Aus­deh­nung vorantreibt.

Wenn eine Don­na Hara­way, die sich in der ame­ri­ka­ni­schen aka­de­mi­schen Welt als unge­heu­er ein­fluß­reich erwie­sen hat, jun­ge Men­schen im fort­pflan­zungs­fä­hi­gen Alter dazu ermun­tert, statt »Babys zu machen«, sich lie­ber mit Phan­ta­sie­ob­jek­ten zu »ver­schwis­tern«, dann geschieht dies im Sin­ne eines eli­tär vor­an­ge­trie­be­nen Pro­jekts. Die in letz­ter Zeit immer pene­tran­ter auf­tre­ten­de Anti­na­ta­lis­mus-Bewe­gung ist nur ein wei­te­rer Expo­nent die­ser trau­ri­gen Entwicklung.

 

3. Recht: Um mehr gesell­schaft­li­che Akzep­tanz für Misch‑, Hybrid- und »Trans­we­sen« aller Art zu erzwin­gen, for­dern Trans­hu­ma­nis­ten und Trans­gen­der-Akti­vis­ten schon seit län­ge­rem ein »Recht auf mor­pho­lo­gi­sche Frei­heit«, das in den Kanon der Men­schen­rech­te auf­ge­nom­men wer­den soll. Die erklär­te Absicht dar­in ist, »mensch­li­chen Per­so­nen« zu erlau­ben, ihren Kör­per nach eige­nen Vor­stel­lun­gen zu ver­än­dern und die eige­ne »nicht­mensch­li­che Iden­ti­tät« unein­ge­schränkt aus­zu­le­ben, was eine logi­sche Erwei­te­rung des Rechts auf sexu­el­le Selbst­be­stim­mung wäre.

Die indi­vi­du­el­le Wahl­frei­heit in der Gestal­tung der eige­nen kör­per­li­chen Form soll juris­tisch kodi­fi­ziert und zu einem Grund­recht erho­ben wer­den, wel­ches, soll­te es sich durch­set­zen, eine wei­te­re Kas­ka­de von »neu­en Lebens­for­men«, »neu­en Lebens­sti­len« und »bis­her unbe­kann­ten Mor­pho­lo­gien« aus­lö­sen wür­de. Dies aller­dings sei längst über­fäl­lig, so die Wort­füh­rer der unein­ge­schränk­ten Frei­heits­ent­fal­tung, da »Selbst-Design« im Sin­ne einer tech­no­lo­gi­schen Funk­ti­ons­stei­ge­rung (Enhance­ment) oder auch als Bild­hau­er­ar­beit am eige­nen (plas­ti­schen) Kör­per mit stei­gen­der Ten­denz gewünscht werde.

Die Über­win­dung von Gren­zen und Limi­tie­run­gen im Zei­chen der Auto­no­mie gehört seit jeher zum Cre­do des kämp­fe­risch vor­ge­tra­ge­nen hedo­nis­ti­schen Indi­vi­dua­lis­mus. Der Glau­be an Selbst­er­mäch­ti­gung und Selbst­her­vor­brin­gung ist zur Ersatz­re­li­gi­on des moder­nen Zeit­al­ters gewor­den. Was nicht ver­wun­der­lich ist, wer­den doch Sub­jek­ti­vi­tät und Indi­vi­dua­li­tät nir­gend­wo sonst so inten­siv erfah­ren wie in der akti­ven Gestal­tung des eige­nen Kör­pers und des­sen Optimierungsversuchen.

Dar­aus ergibt sich aller­dings in zuneh­men­dem Maße, daß die Gestalt des Men­schen jeder­zeit zur Dis­po­si­ti­on ste­hen und belie­big form­bar sein muß, damit jeder sei­ne Frei­heit und Selbst­ent­fal­tung (das, was er für sein Glück als för­der­lich betrach­tet) ver­wirk­li­chen kann. Wobei frei­lich unklar bleibt, was das Selbst genau sein soll. Jede belie­bi­ge Iden­ti­fi­ka­ti­on mit jeder belie­bi­gen Vor­stel­lung (»Ich bin ein Black Ali­en«)  soll sich in Zukunft als fest­ge­schrie­be­nes Recht und somit als For­de­rung an die Gesell­schaft manifestieren.

Recht auf »mor­pho­lo­gi­sche Frei­heit« heißt vor allem, die Mit­men­schen allen mög­li­chen ästhe­ti­schen und inter­ak­ti­ven Zumu­tun­gen aus­zu­set­zen. Es ist die Ent­ta­bui­sie­rung des Anstö­ßi­gen, die Nor­ma­li­sie­rung des Abwei­chen­den. Hier geschieht etwas, was der fran­zö­si­sche Jurist und Men­schen­rechts­be­ob­ach­ter Gré­gor Pup­pinck die »Aus­wei­tung der Pri­vat­sphä­re durch Sub­jek­ti­vie­rung der Wirk­lich­keit« nennt, was bedeu­tet, daß die gefühl­te Wirk­lich­keit einer Pri­vat­per­son zu einer objek­tiv gül­ti­gen erklärt wird.

Der indi­vi­du­el­le Wil­le tritt als »Schöp­fer einer zwei­ten Wirk­lich­keit« her­vor. Immer häu­fi­ger wer­de die­se mit den Mit­teln der Rechts­ord­nung durch­ge­setzt. Das Wunsch­den­ken wer­de zum Ursprungs­ort sub­jek­ti­ver Rech­te, die mit einer grund­sätz­li­chen Legi­ti­mi­tät aus­ge­stat­tet wür­den. Sogar das unver­nünf­tigs­te Begeh­ren erhal­te den Rang einer Rechts­norm. Daß die­ses Gesche­hen im schärfs­ten Gegen­satz zur Ver­nunft steht, braucht hier nicht wei­ter aus­ge­führt zu wer­den. Heut­zu­ta­ge erle­ben wir die Nei­gung, jeg­li­cher Wunsch­vor­stel­lung den Vor­rang vor der Ver­nunft ein­zu­räu­men, und das hal­te das Indi­vi­du­um, so Pup­pinck, in der »Men­ta­li­tät eines Halb­wüch­si­gen« gefangen.

Dem ist ergän­zend anzu­mer­ken: Die größ­te Schwach­stel­le des Men­schen war schon immer sei­ne bis zum Selbst­ver­lust füh­ren­de Selbst­sucht. Die­se macht ihn so anfäl­lig für Ein­flüs­te­run­gen, die ihm damit schmei­cheln, eine Eigen-Art, etwas Beson­de­res zu sein. Dabei ver­gißt das nach Ori­gi­na­li­tät und Unver­wech­sel­bar­keit stre­ben­de Indi­vi­du­um viel zu leicht, daß es sei­ne See­le ist, die es ein­zig­ar­tig macht – und nicht sei­ne Körperoberfläche.

– – –

 

(1) – Don­na J. Hara­way: »Ein Mani­fest für Cyborgs«, in: dies.: Die Neu­erfin­dung der Natur – Pri­ma­ten, Cyborgs und Frau­en, Frank­furt a. M. 1995.

(2) – Don­na J. Hara­way: Unru­hig blei­ben. Die Ver­wandt­schaft der Arten im Cht­hu­lu­zän, Frank­furt a. M. 2018.

(3) – kin (engl. für Ver­wandt­schaft, Sipp­schaft, aus dem Alt­eng­li­schen cynn: Fami­lie, Ras­se, Art, Sor­te, Rang, Natur).

(4) – Vgl. Lisa Ohl: »Other­kin Defi­ni­ti­on: Wenn ­Men­schen sich als Tier iden­ti­fi­zie­ren«, in: praxistipps.focus.de vom
3. Febru­ar 2022.

(5) – Vgl. »Why be human when you can be other­kin?«, in: cam.ac.uk vom 16. Juli 2016.

(6) – Das Kunst­wort kin­ky oder kin­ki­ness (von eng. Krüm­mung oder Knick) beschreibt umgangs­sprach­lich nicht­kon­ven­tio­nel­le ­Sexua­li­tät und steht für spe­zi­el­le oder außer­ge­wöhn­li­che sexu­el­le Vorlieben.

(7) – Der Doku­men­tar­film Why I Left My Fian­cé to Beco­me a Dog gibt dar­über beredt Aus­kunft. Er ist auf You­Tube in vol­ler Län­ge verfügbar.

(8) – Nach­zu­le­sen unter pupplaygermany.de

(9) – Kaum einer hat die Selbst­ver­stüm­me­lung zum Zwe­cke sei­ner »Selbst­op­ti­mie­rung« so weit getrie­ben wie der Fran­zo­se ­Antho­ny Loff­re­do, der sich als Künst­ler ver­steht und die Miß­hand­lung sei­nes Kör­pers zum lang­jäh­ri­gen Kunst­pro­jekt erklärt hat.

(10) – Gré­gor Pup­pinck: Der dena­tu­rier­te Mensch und sei­ne Rech­te, Hei­li­gen­kreuz 2020.

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