Am 1. Mai 1974 machte sich deutlich bemerkbar, daß Günter Guillaume nicht mehr als »Reisemarschall« für Willy Brandt fungierte. Die Fahrt des Kanzlers nach Helgoland war schon länger geplant.
Geworben werden sollte für Brandt, auch wenn man nicht im Wahlkampf steckte. Indes: Die Koordination war fatal. Zur Zeit des Rundgangs des Kanzlers waren die Tagesausflügler schon wieder weg, die Übertragung eines Länderspiels hielt die Einheimischen vor dem Fernseher. Die Entsalzungsanlange, die Brandt publikumswirksam besichtigen wollte, war feiertagsbedingt nur spärlich besetzt. In der Entourage des Kanzlers wurde gemurmelt, daß so etwas »mit Günter« nicht passiert wäre.
Der sangesfreudig-feuchte Schunkelabend, den der SPD-Ortsverein der Nordseeinsel bot, wurde zur Farce. Brandt war moroser Stimmung und sprach von »Scheißleben«. Der verpatzte Inselbesuch war dabei lediglich ein i‑Tüpfelchen. Später sagte er, er hätte sich in dieser Nacht erschossen, sofern er einen Revolver gehabt hätte. Aber der war nicht zur Hand, und eine derartige Denkvariante ist vielleicht wirklich nur etwas für die Freunde des ganz großen historischen Dramas.
Für die Öffentlichkeit hatte am 24. April 1974, genau eine Woche vor der Helgolandreise, die »Guillaume-Affäre« begonnen. An diesem Tag war der Kanzlerreferent, dessen organisatorische Begabung nunmehr so schmerzlich vermißt wurde, verhaftet worden. Fast zwei Jahrzehnte hatte er als Agent des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) in der Bundesrepublik gewirkt. Knapp eine Woche nach der Helgolandreise, in den späten Abendstunden des 6. Mai 1974, erklärte Brandt seinen Rücktritt als Bundeskanzler: Er übernehme damit »die politische Verantwortung für die Fahrlässigkeiten« im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Spions.
Die beiden Daten, der 24. April und der 6. Mai, sind über die »Guillaume-Affäre« miteinander verbunden, markieren allerdings die Endpunkte zweier Geschichten, die sich durchaus getrennt voneinander betrachten lassen. Da ist auf der einen Seite der DDR-Agent Günter Guillaume, der sich beharrlich bis in die unmittelbare Nähe des Kanzlers hochgearbeitet hatte. Begünstigt war er durch glückliche Fügungen, vor allem aber durch das wiederholte Versagen derjenigen, deren Aufgabe es gewesen wäre, ihn zumindest von Brisantem fernzuhalten, sofern vorliegende Erkenntnisse nicht dazu ausgereicht hätten, ihn zu enttarnen und dingfest zu machen. Das Material, das er tatsächlich nach Ost-Berlin geliefert hat, gilt als zweitrangig. Der Skandal an sich war seine Stellung im Kanzleramt, zuletzt als einer von drei persönlichen Referenten Brandts, und die damit verbundenen – potentiellen – Möglichkeiten.
Auf der anderen Seite steht Bundeskanzler Brandt, für den die »Guillaume-Affäre« Anlaß zum Rücktritt war. Die katastrophale Sicherheitssituation fiel nicht in seine Verantwortung. Der unmittelbare Abgang von Innenminister Hans-Dietrich Genscher oder Verfassungsschutzchef Günther Nollau wäre angebracht und sachlich nachvollziehbarer gewesen. Aber Brandt war am Ende. Spätestens seit dem Sieg in der vorgezogenen Bundestagswahl im November 1972 galt der Friedensnobelpreisträger mit dem Warschauer Kniefall und der Ostblockannährung als kraft- und glücklos. Führungsstark war er nie. Die popularitätswirksame, ikonische Verklärung und sein Agieren in der Realität des politischen Tagesgeschäfts waren zwei sehr verschiedene Dinge.
Die mentale Verfaßtheit war oft trüb, der Spottname »Cognac-Willy« war nicht völlig ohne eigenes Zutun aufgekommen, und was die Damenwelt betraf, war Brandt alles andere als ein Kostverächter. Vorangetrieben wurde der Sturz aus den eigenen Reihen, vor allem durch den SPD-Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, der zunehmend der Meinung war, Brandt sei seinen Aufgaben nicht mehr gewachsen. Sein Ausspruch aus dem Herbst 1973, der Kanzler »badet gern lau«, war publik geworden. Vermutet wurde auch, daß Wehner durch seine Kontakte zu Erich Honecker von der Plazierung Guillaumes schon länger Kenntnis hatte.
Eine der zahlreichen Pointen der »Guillaume-Affäre« besteht darin, daß man in der DDR wenig angetan davon war, daß das Wirken des eignen Agenten Auslöser des Rücktritts des Entspannungskanzlers war. Noch im April 1972 hatte man von hier aus durch Stimmenkauf dafür gesorgt, daß das von den Unionsparteien initiierte konstruktive Mißtrauensvotum gegen Brandt scheiterte. Markus Wolf, Chef der Auslandsspionage des MfS, führt in seinen »Erinnerungen«, Spionagechef im geheimen Krieg, aus, der »Fall Guillaume« sei »für meinen Dienst die größte Niederlage«, der Rücktritt des Kanzlers »keineswegs gewollt« gewesen, »und selbst aus damaliger Sicht konnte das nur ein politisches Eigentor für die DDR sein«.
Geboren 1927 in Berlin, arbeitete Günter Guillaume zunächst als Fotograf. Er war beim Verlag Volk und Wissen in Ost-Berlin beschäftigt und betätigte sich früh als DDR-Propagandist im Westen. Als hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS »floh« er 1956 nach Westdeutschland und begann dort, gemeinsam mit seiner Frau Christel, ein Doppelleben. Sie ließen sich in Frankfurt am Main nieder, traten der SPD bei und strebten beruflich ins politische Umfeld. Christel Guillaume wurde unter anderem Büroleiterin des Chefs der Hessischen Staatskanzlei. Die von ihr gelieferten Informationen waren insgesamt deutlich ertragreicher als die ihres Mannes.
Günter Guillaume brachte es zum Geschäftsführer der Frankfurter SPD-Stadtratsfraktion. Er erarbeitete sich den Ruf, »rechter« Sozialdemokrat und nimmermüder, geschickter Organisator zu sein, vor allem auch im Wahlkampf. Das ebnete ihm nach der Bildung der sozialliberalen Koalition den Weg ins Bonner Kanzleramt. Dort stieg er im Dezember 1972 schließlich zum Parteireferenten bei Brandt auf. Trotz seiner Tätigkeit als »Kundschafter«, so der MfS-Duktus, entwickelte Guillaume eine merkwürdige Loyalität gegenüber dem Kanzler, den er nahezu bewunderte oder gar verehrte. Brandt hingegen war der beflissen dienernde Guillaume eher lästig, er übersah ihn gern. Als Gesprächspartner auf Augenhöhe betrachtete er ihn nie und traute ihm wenig zu, auch nicht die Spionage, nachdem er von einem solchen Verdacht in Kenntnis gesetzt worden war.
Schon die Sicherheitsüberprüfung bei der Einstellung ins Kanzleramt hätte Guillaume nicht überstehen dürfen. Unstimmigkeiten im Zusammenhang mit seiner »Flucht« fielen nicht auf. Die Organisation Gehlen, Vorgänger des BND, hatte Guillaume seit März 1951 in den Akten. Auch der Untersuchungsausschuß Freiheitlicher Juristen dokumentierte Verdächtiges, 1955 etwa Freistellungen für »Westarbeit«. Zudem hätte man wissen können, daß der Verlag Volk und Wissen auch als Tarnarbeitgeber für das MfS diente. Daß Guillaume lediglich einen Volksschulabschluß besaß und damit den Posten nicht hätte bekommen dürfen, wurde ebenso nicht beachtet.
Entdeckt wurde Guillaume durch Zufall: Ende Februar 1973 kam einem Verfassungsschutzbeamten der Name Guillaume im Zusammenhang mit gleich drei Spionageverdachtsfällen unter. Ein weiterer Verfassungsschützer erinnerte sich an abgefangene Funksprüche mit Geburtstagsglückwünschen des MfS für einen ihrer Agenten, die nun Guillaume zugeordnet werden konnten. Dennoch beließ man den dringend Verdächtigen auf seinem Posten.
Das Argument, man müsse weiter beobachten, aber auch unvollständig weitergegebene Informationen und Karriereängste für den Fall, daß man doch falsch lag, sorgten dafür, daß Guillaume bis kurz vor seiner Verhaftung Ende April 1974 unbehelligt agieren konnte. Besonderes Kuriosum war, daß Guillaume Brandt im Sommer 1973 als Referent in dessen Norwegenurlaub begleitete. Die Materialien, die er von hier übermittelt haben will und die angeblich nie in Ost-Berlin ankamen, sollten dann im Prozeß gegen ihn eine wesentliche Rolle spielen. Sie waren der entscheidende Grund dafür, daß Guillaume gemeinsam mit seiner Frau wegen Landesverrats verurteilt werden konnte. Noch zum Zeitpunkt seiner Festnahme waren die Unsicherheiten groß.
Diese Verhaftung war Auftakt zum Abgang Brandts von der »Bonner Bühne«, den er sich, »wenn es sein mußte, dann nicht so schmählich« gewünscht hätte. Bekannt war, daß der allgegenwärtige Guillaume auch amouröse Arrangements für den Kanzler getätigt hatte. Das vermutete Wissen des einstigen Referenten, das vermutete Wissen über diese Dinge in Ost-Berlin, die befürchtete Bloßstellung und Erpreßbarkeit – all dies führte zu Befragungen im Umfeld Brandts und einer für ihn peinlichen Zusammenstellung der Ergebnisse durch den Chef des Bundeskriminalamts.
Zu Recht empfand der Kanzler die wohl auch übertriebene Auflistung als ehrabschneidend, zumal die in Frage stehenden Vorgänge keinerlei rechtliche Relevanz aufwiesen. Kurz vor der Helgolandreise hatte er von der Ausarbeitung Kenntnis erhalten. Gestürzt ist er über die eigenen Parteifreunde, die dem ohnehin angeschlagenen Kanzler, der das Amt nur mehr als »Last« betrachtet hatte, keinen Rückhalt gaben und das Private genüßlich ausnutzten – nicht über Guillaume, den er politisch hätte überleben können.