Guillaume, 74, Brandt

von Erik Lommatzsch -- PDF der Druckfassung aus Sezession 119/ April 2024

Am 1. Mai 1974 mach­te sich deut­lich bemerk­bar, daß Gün­ter Guil­laume nicht mehr als »Rei­se­mar­schall« für Wil­ly Brandt fun­gier­te. Die Fahrt des Kanz­lers nach Hel­go­land war schon län­ger geplant.

Gewor­ben wer­den soll­te für Brandt, auch wenn man nicht im Wahl­kampf steck­te. Indes: Die Koor­di­na­ti­on war fatal. Zur Zeit des Rund­gangs des Kanz­lers waren die Tages­aus­flüg­ler schon wie­der weg, die Über­tra­gung eines Län­der­spiels hielt die Ein­hei­mi­schen vor dem Fern­se­her. Die Ent­sal­zungsan­lan­ge, die Brandt publi­kums­wirk­sam besich­ti­gen woll­te, war fei­er­tags­be­dingt nur spär­lich besetzt. In der Entou­ra­ge des Kanz­lers wur­de gemur­melt, daß so etwas »mit Gün­ter« nicht pas­siert wäre.

Der san­ges­freu­dig-feuch­te Schun­kel­abend, den der SPD-Orts­ver­ein der Nord­see­insel bot, wur­de zur Far­ce. Brandt war moroser Stim­mung und sprach von »Scheiß­le­ben«. Der ver­patz­te Insel­be­such war dabei ledig­lich ein i‑Tüpfelchen. Spä­ter sag­te er, er hät­te sich in die­ser Nacht erschos­sen, sofern er einen Revol­ver gehabt hät­te. Aber der war nicht zur Hand, und eine der­ar­ti­ge Denk­va­ri­an­te ist viel­leicht wirk­lich nur etwas für die Freun­de des ganz gro­ßen his­to­ri­schen Dramas.

Für die Öffent­lich­keit hat­te am 24. April 1974, genau eine Woche vor der Hel­go­land­rei­se, die »Guil­laume-Affä­re« begon­nen. An die­sem Tag war der Kanz­ler­re­fe­rent, des­sen orga­ni­sa­to­ri­sche Bega­bung nun­mehr so schmerz­lich ver­mißt wur­de, ver­haf­tet wor­den. Fast zwei Jahr­zehn­te hat­te er als Agent des Minis­te­ri­ums für Staats­si­cher­heit der DDR (MfS) in der Bun­des­re­pu­blik gewirkt. Knapp eine Woche nach der Hel­go­land­rei­se, in den spä­ten Abend­stun­den des 6. Mai 1974, erklär­te Brandt sei­nen Rück­tritt als Bun­des­kanz­ler: Er über­neh­me damit »die poli­ti­sche Ver­ant­wor­tung für die Fahr­läs­sig­kei­ten« im Zusam­men­hang mit der Tätig­keit des Spions.

Die bei­den Daten, der 24. April und der 6. Mai, sind über die »Guil­laume-Affä­re« mit­ein­an­der ver­bun­den, mar­kie­ren aller­dings die End­punk­te zwei­er Geschich­ten, die sich durch­aus getrennt von­ein­an­der betrach­ten las­sen. Da ist auf der einen Sei­te der DDR-Agent Gün­ter Guil­laume, der sich beharr­lich bis in die unmit­tel­ba­re Nähe des Kanz­lers hoch­ge­ar­bei­tet hat­te. Begüns­tigt war er durch glück­li­che Fügun­gen, vor allem aber durch das wie­der­hol­te Ver­sa­gen der­je­ni­gen, deren Auf­ga­be es gewe­sen wäre, ihn zumin­dest von Bri­san­tem fern­zu­hal­ten, sofern vor­lie­gen­de Erkennt­nis­se nicht dazu aus­ge­reicht hät­ten, ihn zu ent­tar­nen und ding­fest zu machen. Das Mate­ri­al, das er tat­säch­lich nach Ost-Ber­lin gelie­fert hat, gilt als zweit­ran­gig. Der Skan­dal an sich war sei­ne Stel­lung im Kanz­ler­amt, zuletzt als einer von drei per­sön­li­chen Refe­ren­ten Brandts, und die damit ver­bun­de­nen – poten­ti­el­len – Möglichkeiten.

Auf der ande­ren Sei­te steht Bun­des­kanz­ler Brandt, für den die »Guil­laume-Affä­re« Anlaß zum Rück­tritt war. Die kata­stro­pha­le Sicher­heits­si­tua­ti­on fiel nicht in sei­ne Ver­ant­wor­tung. Der unmit­tel­ba­re Abgang von Innen­mi­nis­ter Hans-Diet­rich Gen­scher oder Ver­fas­sungs­schutz­chef Gün­ther Noll­au wäre ange­bracht und sach­lich nach­voll­zieh­ba­rer gewe­sen. Aber Brandt war am Ende. Spä­tes­tens seit dem Sieg in der vor­ge­zo­ge­nen Bun­des­tags­wahl im Novem­ber 1972 galt der Frie­dens­no­bel­preis­trä­ger mit dem War­schau­er Knie­fall und der Ost­block­an­näh­rung als kraft- und glück­los. Füh­rungs­stark war er nie. Die popu­la­ri­täts­wirk­sa­me, iko­ni­sche Ver­klä­rung und sein Agie­ren in der Rea­li­tät des poli­ti­schen Tages­geschäfts waren zwei sehr ver­schie­de­ne Dinge.

Die men­ta­le Ver­faßt­heit war oft trüb, der Spott­na­me »Cognac-Wil­ly« war nicht völ­lig ohne eige­nes Zutun auf­ge­kom­men, und was die Damen­welt betraf, war Brandt alles ande­re als ein Kost­ver­äch­ter. Vor­an­ge­trie­ben wur­de der Sturz aus den eige­nen Rei­hen, vor allem durch den SPD-Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den ­Her­bert Weh­ner, der zuneh­mend der Mei­nung war, Brandt sei sei­nen Auf­ga­ben nicht mehr gewach­sen. Sein Aus­spruch aus dem Herbst 1973, der Kanz­ler »badet gern lau«, war publik gewor­den. Ver­mu­tet wur­de auch, daß Weh­ner durch sei­ne Kon­tak­te zu Erich Hon­ecker von der Pla­zie­rung Guil­laumes schon län­ger Kennt­nis hatte.

Eine der zahl­rei­chen Poin­ten der »Guil­laume-­Af­fä­re« besteht dar­in, daß man in der DDR wenig ange­tan davon war, daß das Wir­ken des eig­nen Agen­ten Aus­lö­ser des Rück­tritts des Ent­span­nungs­kanz­lers war. Noch im April 1972 hat­te man von hier aus durch Stim­men­kauf dafür gesorgt, daß das von den Uni­ons­par­tei­en initi­ier­te kon­struk­ti­ve Miß­trau­ens­vo­tum gegen Brandt schei­ter­te. Mar­kus Wolf, Chef der Aus­lands­spio­na­ge des MfS, führt in sei­nen »Erin­ne­run­gen«, Spio­na­ge­chef im gehei­men Krieg, aus, der »Fall Guil­laume« sei »für mei­nen Dienst die größ­te Nie­der­la­ge«, der Rück­tritt des Kanz­lers »kei­nes­wegs gewollt« gewe­sen, »und selbst aus dama­li­ger Sicht konn­te das nur ein poli­ti­sches Eigen­tor für die DDR sein«.

Gebo­ren 1927 in Ber­lin, arbei­te­te Gün­ter Guil­laume zunächst als Foto­graf. Er war beim Ver­lag Volk und Wis­sen in Ost-Ber­lin beschäf­tigt und betä­tig­te sich früh als DDR-Pro­pa­gan­dist im Wes­ten. Als haupt­amt­li­cher Mit­ar­bei­ter des MfS »floh« er 1956 nach West­deutsch­land und begann dort, gemein­sam mit sei­ner Frau Chris­tel, ein Dop­pel­le­ben. Sie lie­ßen sich in Frank­furt am Main nie­der, tra­ten der SPD bei und streb­ten beruf­lich ins poli­ti­sche Umfeld. Chris­tel Guil­laume wur­de unter ande­rem Büro­lei­te­rin des Chefs der Hes­si­schen Staats­kanz­lei. Die von ihr gelie­fer­ten Infor­ma­tio­nen waren ins­ge­samt deut­lich ertrag­rei­cher als die ihres Mannes.

Gün­ter Guil­laume brach­te es zum Geschäfts­füh­rer der Frank­fur­ter SPD-Stadt­rats­frak­ti­on. Er erar­bei­te­te sich den Ruf, »rech­ter« Sozi­al­de­mo­krat und nim­mer­mü­der, geschick­ter Orga­ni­sa­tor zu sein, vor allem auch im Wahl­kampf. Das ebne­te ihm nach der Bil­dung der sozi­al­li­be­ra­len Koali­ti­on den Weg ins Bon­ner Kanz­ler­amt. Dort stieg er im Dezem­ber 1972 schließ­lich zum Par­tei­re­fe­ren­ten bei Brandt auf. Trotz sei­ner Tätig­keit als »Kund­schaf­ter«, so der MfS-Duk­tus, ent­wi­ckel­te Guil­laume eine merk­wür­di­ge Loya­li­tät gegen­über dem Kanz­ler, den er nahe­zu bewun­der­te oder gar ver­ehr­te. Brandt hin­ge­gen war der beflis­sen die­nern­de Guil­laume eher läs­tig, er über­sah ihn gern. Als Gesprächs­part­ner auf Augen­hö­he betrach­te­te er ihn nie und trau­te ihm wenig zu, auch nicht die Spio­na­ge, nach­dem er von einem sol­chen Ver­dacht in Kennt­nis gesetzt wor­den war.

Schon die Sicher­heits­über­prü­fung bei der Ein­stel­lung ins Kanz­ler­amt hät­te Guil­laume nicht über­ste­hen dür­fen. Unstim­mig­kei­ten im Zusam­men­hang mit sei­ner »Flucht« fie­len nicht auf. Die Orga­ni­sa­ti­on Geh­len, Vor­gän­ger des BND, hat­te Guil­laume seit März 1951 in den Akten. Auch der Unter­su­chungs­aus­schuß Frei­heit­li­cher Juris­ten doku­men­tier­te Ver­däch­ti­ges, 1955 etwa Frei­stel­lun­gen für »West­ar­beit«. Zudem hät­te man wis­sen kön­nen, daß der Ver­lag Volk und Wis­sen auch als Tar­n­ar­beit­ge­ber für das MfS dien­te. Daß Guil­laume ledig­lich einen Volks­schul­ab­schluß besaß und damit den Pos­ten nicht hät­te bekom­men dür­fen, wur­de eben­so nicht beachtet.

Ent­deckt wur­de Guil­laume durch Zufall: Ende Febru­ar 1973 kam einem Ver­fas­sungs­schutz­be­am­ten der Name Guil­laume im Zusam­men­hang mit gleich drei Spio­na­ge­ver­dachts­fäl­len unter. Ein wei­te­rer Ver­fas­sungs­schüt­zer erin­ner­te sich an abge­fan­ge­ne Funk­sprü­che mit Geburts­tags­glück­wün­schen des MfS für einen ihrer Agen­ten, die nun Guil­laume zuge­ord­net wer­den konn­ten. Den­noch beließ man den drin­gend Ver­däch­ti­gen auf sei­nem Posten.

Das Argu­ment, man müs­se wei­ter beob­ach­ten, aber auch unvoll­stän­dig wei­ter­ge­ge­be­ne Infor­ma­tio­nen und Kar­rie­re­ängs­te für den Fall, daß man doch falsch lag, sorg­ten dafür, daß Guil­laume bis kurz vor sei­ner Ver­haf­tung Ende April 1974 unbe­hel­ligt agie­ren konn­te. Beson­de­res Kurio­sum war, daß Guil­laume Brandt im Som­mer 1973 als Refe­rent in des­sen Nor­we­gen­ur­laub beglei­te­te. Die Mate­ria­li­en, die er von hier über­mit­telt haben will und die angeb­lich nie in Ost-Ber­lin anka­men, soll­ten dann im Pro­zeß gegen ihn eine wesent­li­che Rol­le spie­len. Sie waren der ent­schei­den­de Grund dafür, daß Guil­laume gemein­sam mit sei­ner Frau wegen Lan­des­ver­rats ver­ur­teilt wer­den konn­te. Noch zum Zeit­punkt sei­ner Fest­nah­me waren die Unsi­cher­hei­ten groß.

Die­se Ver­haf­tung war Auf­takt zum Abgang Brandts von der »Bon­ner Büh­ne«, den er sich, »wenn es sein muß­te, dann nicht so schmäh­lich« gewünscht hät­te. Bekannt war, daß der all­ge­gen­wär­ti­ge Guil­laume auch amou­rö­se Arran­ge­ments für den Kanz­ler getä­tigt hat­te. Das ver­mu­te­te Wis­sen des eins­ti­gen Refe­ren­ten, das ver­mu­te­te Wis­sen über die­se Din­ge in Ost-Ber­lin, die befürch­te­te Bloß­stel­lung und Erpreß­bar­keit – all dies führ­te zu Befra­gun­gen im Umfeld Brandts und einer für ihn pein­li­chen Zusam­men­stel­lung der Ergeb­nis­se durch den Chef des Bundeskriminalamts.

Zu Recht emp­fand der Kanz­ler die wohl auch über­trie­be­ne Auf­lis­tung als ehr­ab­schnei­dend, zumal die in Fra­ge ste­hen­den Vor­gän­ge kei­ner­lei recht­li­che Rele­vanz auf­wie­sen. Kurz vor der Hel­go­land­rei­se hat­te er von der Aus­ar­bei­tung Kennt­nis erhal­ten. Gestürzt ist er über die eige­nen Par­tei­freun­de, die dem ohne­hin ange­schla­ge­nen Kanz­ler, der das Amt nur mehr als »Last« betrach­tet hat­te, kei­nen Rück­halt gaben und das Pri­va­te genüß­lich aus­nutz­ten – nicht über Guil­laume, den er poli­tisch hät­te über­le­ben können.

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