150 Jahre Karl Kraus

von Sophie Liebnitz -- PDF der Druckfassung aus Sezession 119/ April 2024

»Goeb­bels ist ein Ken­ner aller ein­schlä­gi­gen Ter­mi­no­lo­gie, deren Ver­wen­dung dem Asphalt­schrift­tum nicht mehr mög­lich ist.

Er hat die Ein­stel­lung wie die Ein­füh­lung, erkennt den Antrieb wie den Auf­trieb, die Aus­wer­tung wie die Aus­wir­kung, die sze­ni­sche Auf­ma­chung, den fil­mi­schen Auf­riß wie die Auf­lo­cke­rung und was sonst zum Auf­bruch gehört […] er will das Ethos, das Pathos, jedoch auch den Mythos, er besorgt die Ein­ord­nung wie die Glie­de­rung in den Lebens­raum und den Arbeits­raum der Nati­on, er umfaßt den Gefühls­kreis der Gemein­schaft und die Vita­li­tät der Per­sön­lich­keit, er bejaht das Volks­mä­ßi­ge wie das Über­na­tio­na­le und bevor­zugt die Syn­the­se, er ver­leiht Impul­se und gibt Andeu­tun­gen im Peri­phe­ri­schen, ehe er zur zen­tra­len Erfas­sung gelangt, um das Laten­te zu ver­an­kern und das Pro­ble­ma­ti­sche im Zere­bra­len her­aus­zu­stel­len, er weiß Bescheid um Epi­go­ni­sches und um Wer­den­des, wer­tet das Wol­len, erkennt das Gewoll­te, wie daß Kunst ein Gekonn­tes ist, wür­digt das Gelös­te, das Auf­ge­schlos­se­ne, das Geform­te und kann zwi­schen einem Gestuf­ten und einem Geball­ten unter­schei­den, ja ich ver­mu­te, daß er sogar im Kos­mi­schen ori­en­tiert ist«.

Die­se Cha­rak­te­ri­sie­rung von Goeb­bels’ pro­pa­gan­dis­ti­schem Stil aus der Klas­si­schen Wal­pur­gis­nacht (post­hum 1952) ver­deut­licht auf kleins­tem Raum, war­um Karl Kraus (1874 – 1936) vor allem als Sprach­kri­ti­ker in die Geschich­te der deut­schen Lite­ra­tur ein­ge­gan­gen ist. Ich neh­me an, das Wort »Geschwur­bel« hat zu sei­ner Zeit noch nicht exis­tiert oder allen­falls eine Nischen­existenz geführt. Aber hier wird gewis­ser­ma­ßen in sei­ner Essenz greif­bar, was es heißt; vor dem Auge des leicht betäub­ten Lesers ent­fal­tet sich eine Begriffs- und Phra­sen­wol­ke, aus der jeg­li­che Bedeu­tung ver­dampft ist.

Daß die­ser Effekt hier natür­lich auch der Auf­lö­sung jedes Text­zu­sam­men­hangs geschul­det ist, ist klar; er erreicht jeden­falls, was Kraus eine »Erle­di­gung« nann­te, und wor­in er Meis­ter war. Sei­ne Abnei­gung galt nicht nur berech­tig­ter­wei­se den »Hakenkreuz­ottern« (zitiert aus Jens Mal­te Fischer: Karl Kraus. Der Wider­spre­cher, Wien 2020), son­dern zahl­rei­chen nam­haf­ten wie heu­te kaum bekann­ten Zeit­ge­nos­sen des lite­ra­ri­schen und öffent­li­chen Lebens, die das Pech hat­ten, die­sem intran­si­gen­ten Kri­ti­ker vor die Flin­te zu laufen.

Für die meis­ten heu­ti­gen Leser dürf­te sich eine Erst­be­geg­nung mit dem Über-Ich der Wie­ner Moder­ne als ein ambi­va­len­tes und merk­wür­dig ungreif­ba­res Erleb­nis gestal­ten. Das liegt zunächst an der Zer­klüf­t­et­heit von Per­son und Werk, die eine Ori­en­tie­rung über das Phä­no­men Kraus erschwert. Das Kli­schee, wonach jemand »in kei­ne Schub­la­de« pas­se, soll die Ein­zig­ar­tig­keit der Per­son beto­nen, auf die es ange­wen­det wird, und spie­gelt unse­ren kul­tu­rell tief­ver­an­ker­ten Kult der radi­ka­len Indi­vi­dua­li­tät. Meist ist das Unsinn, auf Kraus aber trifft es unbe­streit­bar zu, sowohl in Hin­blick auf das Werk selbst als auch auf sei­ne poli­ti­schen Positionen.

Von Haus aus kon­ser­va­tiv, stand er, durch den Ers­ten Welt­krieg pazi­fis­tisch gewor­den, spä­ter den Sozi­al­de­mo­kra­ten nahe und ergriff mit Beginn der drei­ßi­ger Jah­re die Sei­te von Engel­bert Doll­fuß, von dem er sich eine Abwehr der Natio­nal­so­zia­lis­ten erhoff­te. (Den Anschluß muß­te er nicht mehr erle­ben.) Die­se Schwenks machen ihn als Gali­ons­fi­gur für fest defi­nier­te ideo­lo­gi­sche Kom­ple­xe ungeeignet.

Der Zure­chen­bar­keit ent­zieht sich auch das Werk, des­sen The­men von Pro­sti­tu­ti­on (Sitt­lich­keit und Kri­mi­na­li­tät, 1908) über sein Dau­er­the­ma Pres­se- und Jour­na­lis­mus­kri­tik (Der Unter­gang der Welt durch schwar­ze Magie, 1922), natür­lich über Lite­ra­tur, den Zio­nis­mus (dem er höchst ableh­nend gegen­über­stand, Eine Kro­ne für Zion, 1898), den Ers­ten Welt­krieg, des­sen pan­op­ti­sche Schau in Die letz­ten Tage der Mensch­heit (1918) das stärks­te Nach­le­ben ent­fal­tet hat, bis schließ­lich zur Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus in der Drit­ten Wal­pur­gis­nacht, die Kraus nicht mehr zu ver­öf­fent­li­chen wag­te, reichen.

Oben­drauf kommt sein Spa­gat zwi­schen Zeit­kri­ti­ker und Dich­ter­tum, denn wäh­rend er als gefürch­te­ter Stil­kri­ti­ker, heroi­scher Fackel-Trä­ger und gal­li­ger Apho­ris­ti­ker in die all­ge­mei­ne Erin­ne­rung ein­ging, sah er sich selbst wesent­lich als Lyri­ker. Die Autor-Per­so­na, wenn man so will: die »Han­dels­mar­ke« Kraus, soweit sie im Bewußt­sein ist, ist des­halb noch weni­ger mit der his­to­ri­schen Per­son und ihrem Werk iden­tisch, als es sonst ohne­hin schon der Fall wäre. Kraus ist noch so viel mehr und ande­res als der erbit­ter­te und Erbit­te­rung aus­lö­sen­de Pole­mi­ker mit den blit­zen­den Brillengläsern.

Was von die­sem Werk übrig­ge­blie­ben ist? Zu Recht bemerkt Jens Mal­te Fischer in sei­ner Kraus-Bio­gra­phie, die Letz­ten Tage der Mensch­heit sei­en »als Titel berühmt, als gele­se­ner Text kaum prä­sent«, und letz­te­res dürf­te vom Rest des Wer­kes ver­mehrt gel­ten. Die Grün­de dafür sind nicht nur die oben ange­führ­ten. Eli­as ­Canet­ti hat einen gan­zen Band sei­ner »Lebens­ge­schich­te«, der das Jahr­zehnt von 1921 bis 1931 umgreift, in das Zei­chen von Karl Kraus gestellt: Die ­Fackel im Ohr (1980) ver­deut­licht als Titel eine dis­kur­si­ve Domi­nanz, die beim jun­gen ­Canet­ti in der Art einer Rund­um­be­schal­lung funk­tio­niert zu haben scheint.

Auf­fal­lend an Canet­tis Schil­de­rung sei­ner Begeg­nung mit Kraus ist, wie wenig die­ser über sei­ne Inhal­te wahr­ge­nom­men wird. Sowohl die Fami­lie von enthu­si­as­ti­schen Kraus-Ver­eh­rern, bei der der jun­ge Mann zu Gast ist, als in der Fol­ge auch er selbst schil­dern das Erleb­nis einer Kraus-Lesung als eine Art Natur­er­eig­nis: »Es gebe ein 800 Sei­ten lan­ges Dra­ma von ihm, Die letz­ten Tage der Mensch­heit, wenn er dar­aus vor­le­se, sei man wie erschla­gen. Da rüh­re sich nichts im Saal, man getraue sich kaum zu atmen. Alle Rol­len lese er selbst, Schie­ber und Gene­ra­le, die Scha­lek wie die armen Teu­fel, die die Opfer des Krie­ges sei­en, alle höre man von ihm so echt, als stün­den die Leu­te vor einem. Wer ihn gehört habe, der wol­le nie mehr ins Thea­ter gehen, das Thea­ter sei lang­wei­lig ver­gli­chen mit ihm, er allein sei ein gan­zes Thea­ter, aber bes­ser, und die­ses Welt­wun­der, die­ses Unge­heu­er, die­ses Genie trug den Namen Karl Kraus.«

Es gab also ein genui­nes dar­stel­le­ri­sches »Phä­no­men Kraus«, das ganz in der Aktua­li­tät exis­tier­te – dem­ge­gen­über schie­nen die Inhal­te dem geplät­te­ten Publi­kum fast zweit­ran­gig. Die­ses leben­di­ge, von man­chem Zeit­ge­nos­sen als ­demi­ur­gisch wahr­ge­nom­me­ne Phä­no­men ist nicht mehr. Allein­ge­las­sen mit sei­nen Tex­ten nach Jahr­zehn­ten, mit der Asche einer glü­hen­den Prä­senz, kann sich beim Leser eine gewis­se Rat­lo­sig­keit breit­ma­chen. Die Fül­le his­to­ri­scher Details, die schie­re Mas­se oft längst ver­ges­se­ner Per­so­nen, Pam­phle­te, Skan­da­le, Rän­ke und Intri­gen, droht ihn wie Flug­sand zuzu­de­cken. In die Fas­zi­na­ti­on mischt sich Ermü­dung ange­sichts der Dich­te ver­gan­ge­ner his­to­ri­scher Rea­li­tät. Dazu kommt die Anstren­gung, die damit ver­bun­den ist, sich die­sem Groß­meis­ter der Abnei­gung gegen fast alles aus­zu­set­zen: »Die beson­de­re Ener­gie sei­ner Apho­ris­men basiert, wie sein gan­zes Werk, auf dem unver­hüll­ten Haß auf alles, was der Vor­stel­lung vom Ursprung, der Spra­che, der Mensch­lich­keit und den dar­aus abge­lei­te­ten Maß­stä­ben nicht ent­spricht. Nicht alle Kraus-Leser hal­ten die unge­heu­re Aggres­si­vi­tät die­ses Man­nes aus.« (Jens Mal­te Fischer) Kraus ist ein Has­ser aus Idea­lis­mus, aber das ver­ein­facht den lesen­den Umgang nicht unbedingt.

Er wäre daher eigent­lich der idea­le Feind­bild-Kan­di­dat für alle Ver­fech­ter eines Haß­re­de-Kon­zep­tes, das per­fek­te Anti­pro­gramm, nicht nur zu Fae­ser und Co., son­dern zu all den wei­ner­li­chen Woken über­haupt. Nichts ver­deut­lich den Abstand zu sei­ner Epo­che stär­ker als der Ver­gleich des damals und des heu­te Sag­ba­ren. Ger­ne hät­te man sei­ne Kom­men­ta­re zu ­Caro­lin Emcke und ande­ren Betrof­fen­heits-Artis­ten gele­sen, zur Spra­che der neu­en Kriegs­trei­ber und ‑innen aller Cou­leur, zu den rhe­to­ri­schen Spiral­nebeln der Post­mo­der­ne im all­ge­mei­nen und der Gen­der­theo­rie im beson­de­ren. Tief ­beun­ru­hi­gend ist es, daß in den letz­ten Jah­ren fast jeder Blick in die sozia­len Medi­en Kom­men­ta­re zuta­ge för­dert, die den Kraus-Leser an die Spra­che erin­nern, die das Per­so­nal der Letz­ten Tage der Mensch­heit im Mun­de führt.

Ein geschätz­ter Autor unse­res Umfelds schrieb mir neu­lich: »Kraus hat­te ja furcht­ba­re Unar­ten: die Schul­meis­te­rei, die unnö­ti­ge Grau­sam­keit, die Ahnungs­lo­sig­keit bei metri­schen Fra­gen – und was als Werk, streng­ge­nom­men, für uns Heu­ti­ge nun lesens­wert ist – schwe­re Fra­ge. Ich bewun­de­re sei­ne Hal­tung und eig­ne mir sei­ne Metho­de ger­ne an – die Spra­che als Sym­ptom zu neh­men: Wel­cher Wahn deu­tet sich in einer schlech­ten For­mu­lie­rung an? Was ver­rät sie über sei­nen Urhe­ber? Die fal­sche Hal­tung zeigt sich in der Spra­che ganz unmittelbar.

Hin­ter dem stren­gen Arzt, der die Erkran­kung sei­ner Epo­che an den sprach­li­chen Sym­pto­men erkennt, steht noch eine ande­re, etwas gespens­ti­sche Figur, die man viel­leicht als Exor­zis­ten bezeich­nen könn­te, in bezug auf die Wal­pur­gis­nacht klingt es ja an. Ein Van Hel­sing, der die Dämo­nen unse­rer Epo­che jagt. Kraus besitzt, scheint mir, eine Nase für das abso­lut Böse, das in der Welt ist; für die schwar­ze Magie, die der Welt den Unter­gang bereitet.«

Haben wir einen Karl Kraus? Haben wir nicht. Leider.

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