»Goebbels ist ein Kenner aller einschlägigen Terminologie, deren Verwendung dem Asphaltschrifttum nicht mehr möglich ist.
Er hat die Einstellung wie die Einfühlung, erkennt den Antrieb wie den Auftrieb, die Auswertung wie die Auswirkung, die szenische Aufmachung, den filmischen Aufriß wie die Auflockerung und was sonst zum Aufbruch gehört […] er will das Ethos, das Pathos, jedoch auch den Mythos, er besorgt die Einordnung wie die Gliederung in den Lebensraum und den Arbeitsraum der Nation, er umfaßt den Gefühlskreis der Gemeinschaft und die Vitalität der Persönlichkeit, er bejaht das Volksmäßige wie das Übernationale und bevorzugt die Synthese, er verleiht Impulse und gibt Andeutungen im Peripherischen, ehe er zur zentralen Erfassung gelangt, um das Latente zu verankern und das Problematische im Zerebralen herauszustellen, er weiß Bescheid um Epigonisches und um Werdendes, wertet das Wollen, erkennt das Gewollte, wie daß Kunst ein Gekonntes ist, würdigt das Gelöste, das Aufgeschlossene, das Geformte und kann zwischen einem Gestuften und einem Geballten unterscheiden, ja ich vermute, daß er sogar im Kosmischen orientiert ist«.
Diese Charakterisierung von Goebbels’ propagandistischem Stil aus der Klassischen Walpurgisnacht (posthum 1952) verdeutlicht auf kleinstem Raum, warum Karl Kraus (1874 – 1936) vor allem als Sprachkritiker in die Geschichte der deutschen Literatur eingegangen ist. Ich nehme an, das Wort »Geschwurbel« hat zu seiner Zeit noch nicht existiert oder allenfalls eine Nischenexistenz geführt. Aber hier wird gewissermaßen in seiner Essenz greifbar, was es heißt; vor dem Auge des leicht betäubten Lesers entfaltet sich eine Begriffs- und Phrasenwolke, aus der jegliche Bedeutung verdampft ist.
Daß dieser Effekt hier natürlich auch der Auflösung jedes Textzusammenhangs geschuldet ist, ist klar; er erreicht jedenfalls, was Kraus eine »Erledigung« nannte, und worin er Meister war. Seine Abneigung galt nicht nur berechtigterweise den »Hakenkreuzottern« (zitiert aus Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher, Wien 2020), sondern zahlreichen namhaften wie heute kaum bekannten Zeitgenossen des literarischen und öffentlichen Lebens, die das Pech hatten, diesem intransigenten Kritiker vor die Flinte zu laufen.
Für die meisten heutigen Leser dürfte sich eine Erstbegegnung mit dem Über-Ich der Wiener Moderne als ein ambivalentes und merkwürdig ungreifbares Erlebnis gestalten. Das liegt zunächst an der Zerklüftetheit von Person und Werk, die eine Orientierung über das Phänomen Kraus erschwert. Das Klischee, wonach jemand »in keine Schublade« passe, soll die Einzigartigkeit der Person betonen, auf die es angewendet wird, und spiegelt unseren kulturell tiefverankerten Kult der radikalen Individualität. Meist ist das Unsinn, auf Kraus aber trifft es unbestreitbar zu, sowohl in Hinblick auf das Werk selbst als auch auf seine politischen Positionen.
Von Haus aus konservativ, stand er, durch den Ersten Weltkrieg pazifistisch geworden, später den Sozialdemokraten nahe und ergriff mit Beginn der dreißiger Jahre die Seite von Engelbert Dollfuß, von dem er sich eine Abwehr der Nationalsozialisten erhoffte. (Den Anschluß mußte er nicht mehr erleben.) Diese Schwenks machen ihn als Galionsfigur für fest definierte ideologische Komplexe ungeeignet.
Der Zurechenbarkeit entzieht sich auch das Werk, dessen Themen von Prostitution (Sittlichkeit und Kriminalität, 1908) über sein Dauerthema Presse- und Journalismuskritik (Der Untergang der Welt durch schwarze Magie, 1922), natürlich über Literatur, den Zionismus (dem er höchst ablehnend gegenüberstand, Eine Krone für Zion, 1898), den Ersten Weltkrieg, dessen panoptische Schau in Die letzten Tage der Menschheit (1918) das stärkste Nachleben entfaltet hat, bis schließlich zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Dritten Walpurgisnacht, die Kraus nicht mehr zu veröffentlichen wagte, reichen.
Obendrauf kommt sein Spagat zwischen Zeitkritiker und Dichtertum, denn während er als gefürchteter Stilkritiker, heroischer Fackel-Träger und galliger Aphoristiker in die allgemeine Erinnerung einging, sah er sich selbst wesentlich als Lyriker. Die Autor-Persona, wenn man so will: die »Handelsmarke« Kraus, soweit sie im Bewußtsein ist, ist deshalb noch weniger mit der historischen Person und ihrem Werk identisch, als es sonst ohnehin schon der Fall wäre. Kraus ist noch so viel mehr und anderes als der erbitterte und Erbitterung auslösende Polemiker mit den blitzenden Brillengläsern.
Was von diesem Werk übriggeblieben ist? Zu Recht bemerkt Jens Malte Fischer in seiner Kraus-Biographie, die Letzten Tage der Menschheit seien »als Titel berühmt, als gelesener Text kaum präsent«, und letzteres dürfte vom Rest des Werkes vermehrt gelten. Die Gründe dafür sind nicht nur die oben angeführten. Elias Canetti hat einen ganzen Band seiner »Lebensgeschichte«, der das Jahrzehnt von 1921 bis 1931 umgreift, in das Zeichen von Karl Kraus gestellt: Die Fackel im Ohr (1980) verdeutlicht als Titel eine diskursive Dominanz, die beim jungen Canetti in der Art einer Rundumbeschallung funktioniert zu haben scheint.
Auffallend an Canettis Schilderung seiner Begegnung mit Kraus ist, wie wenig dieser über seine Inhalte wahrgenommen wird. Sowohl die Familie von enthusiastischen Kraus-Verehrern, bei der der junge Mann zu Gast ist, als in der Folge auch er selbst schildern das Erlebnis einer Kraus-Lesung als eine Art Naturereignis: »Es gebe ein 800 Seiten langes Drama von ihm, Die letzten Tage der Menschheit, wenn er daraus vorlese, sei man wie erschlagen. Da rühre sich nichts im Saal, man getraue sich kaum zu atmen. Alle Rollen lese er selbst, Schieber und Generale, die Schalek wie die armen Teufel, die die Opfer des Krieges seien, alle höre man von ihm so echt, als stünden die Leute vor einem. Wer ihn gehört habe, der wolle nie mehr ins Theater gehen, das Theater sei langweilig verglichen mit ihm, er allein sei ein ganzes Theater, aber besser, und dieses Weltwunder, dieses Ungeheuer, dieses Genie trug den Namen Karl Kraus.«
Es gab also ein genuines darstellerisches »Phänomen Kraus«, das ganz in der Aktualität existierte – demgegenüber schienen die Inhalte dem geplätteten Publikum fast zweitrangig. Dieses lebendige, von manchem Zeitgenossen als demiurgisch wahrgenommene Phänomen ist nicht mehr. Alleingelassen mit seinen Texten nach Jahrzehnten, mit der Asche einer glühenden Präsenz, kann sich beim Leser eine gewisse Ratlosigkeit breitmachen. Die Fülle historischer Details, die schiere Masse oft längst vergessener Personen, Pamphlete, Skandale, Ränke und Intrigen, droht ihn wie Flugsand zuzudecken. In die Faszination mischt sich Ermüdung angesichts der Dichte vergangener historischer Realität. Dazu kommt die Anstrengung, die damit verbunden ist, sich diesem Großmeister der Abneigung gegen fast alles auszusetzen: »Die besondere Energie seiner Aphorismen basiert, wie sein ganzes Werk, auf dem unverhüllten Haß auf alles, was der Vorstellung vom Ursprung, der Sprache, der Menschlichkeit und den daraus abgeleiteten Maßstäben nicht entspricht. Nicht alle Kraus-Leser halten die ungeheure Aggressivität dieses Mannes aus.« (Jens Malte Fischer) Kraus ist ein Hasser aus Idealismus, aber das vereinfacht den lesenden Umgang nicht unbedingt.
Er wäre daher eigentlich der ideale Feindbild-Kandidat für alle Verfechter eines Haßrede-Konzeptes, das perfekte Antiprogramm, nicht nur zu Faeser und Co., sondern zu all den weinerlichen Woken überhaupt. Nichts verdeutlich den Abstand zu seiner Epoche stärker als der Vergleich des damals und des heute Sagbaren. Gerne hätte man seine Kommentare zu Carolin Emcke und anderen Betroffenheits-Artisten gelesen, zur Sprache der neuen Kriegstreiber und ‑innen aller Couleur, zu den rhetorischen Spiralnebeln der Postmoderne im allgemeinen und der Gendertheorie im besonderen. Tief beunruhigend ist es, daß in den letzten Jahren fast jeder Blick in die sozialen Medien Kommentare zutage fördert, die den Kraus-Leser an die Sprache erinnern, die das Personal der Letzten Tage der Menschheit im Munde führt.
Ein geschätzter Autor unseres Umfelds schrieb mir neulich: »Kraus hatte ja furchtbare Unarten: die Schulmeisterei, die unnötige Grausamkeit, die Ahnungslosigkeit bei metrischen Fragen – und was als Werk, strenggenommen, für uns Heutige nun lesenswert ist – schwere Frage. Ich bewundere seine Haltung und eigne mir seine Methode gerne an – die Sprache als Symptom zu nehmen: Welcher Wahn deutet sich in einer schlechten Formulierung an? Was verrät sie über seinen Urheber? Die falsche Haltung zeigt sich in der Sprache ganz unmittelbar.
Hinter dem strengen Arzt, der die Erkrankung seiner Epoche an den sprachlichen Symptomen erkennt, steht noch eine andere, etwas gespenstische Figur, die man vielleicht als Exorzisten bezeichnen könnte, in bezug auf die Walpurgisnacht klingt es ja an. Ein Van Helsing, der die Dämonen unserer Epoche jagt. Kraus besitzt, scheint mir, eine Nase für das absolut Böse, das in der Welt ist; für die schwarze Magie, die der Welt den Untergang bereitet.«
Haben wir einen Karl Kraus? Haben wir nicht. Leider.