Solche Bedeutung hat ihren Preis: die Reinigung des Erinnerungswürdigen von allem, was die Bedeutung stört. Deshalb wird beim Gedenken an das Jahr 1945 weder das Ende des britischen Imperiums noch der Beginn der stalinistischen Herrschaft in Ostmittel- und Osteuropa, weder die große „Säuberung“ in Frankreich noch der Abwurf der Atombomben über Japan eine Rolle spielen. Sonst wären Irritationen zu fürchten, müßte man über Kontinuität und Diskontinuität der Entwicklung in anderer als der gewohnten Weise nachdenken. Selbstverständlich gibt es in Großbritannien Historiker, die Churchill vorwerfen, die Überseegebiete ohne Not aufgegeben und damit dem Einfluß der USA ausgeliefert zu haben, und in Frankreich andere, die glauben, daß Zehntausende von Toten in Folge der épuration ein zu hoher Preis für die Schaffung der Vierten Republik gewesen seien. In den ehemaligen Ostblockstaaten fragen viele, wie man dazu kam, Stalin die Beute aus dem Pakt mit Hitler zu überlassen und ihm zu erlauben, seine Macht bis an die Elbe auszudehnen, und die Mehrheit der Japaner bezweifelt, daß die Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki militärisch sinnvoll oder moralisch akzeptabel gewesen sei. Aber nichts davon hat Einfluß auf das Bild vom Sieg des Guten über das Böse. Wer daran Korrekturen anbringen will, setzt sich dem Verdacht aus, der unbedingt gemieden wird, dem, für das Böse Partei zu ergreifen.
Dieser Verdacht ist in Deutschland besonders wirksam, weil das NSRegime den einzigen Fokus der deutschen Identität bildet: „Die deutsche Geschichte ist kurz. Sie dauert gerade einmal zwölf Jahre: von 1933 bis 1945. Davor mag es etwas gegeben haben und danach auch. Aber das sind nur Vergangenheiten. Geschichte – als etwas, das als Erzählung gegenwärtig geblieben ist – sind nur die Jahre der Barbarei. Der Nationalsozialismus und der Holocaust gelten heute als Dreh- und Angelpunkte der deutschen Geschichte. Und die Deutschen sind alles andere als ein geschichtsvergessenes Volk. Das Thema bestimmt die familiären Tradierungen, dominiert die Lehrpläne in den Schulen und ist ein festes Element in den Zeitungsfeuilletons. Keine Kinosaison ohne zwei bis drei Filme, die im Dritten Reich spielen. Keine Fernsehwoche ohne Nazidoku. Keine Buchhandlung ohne Hitler-Tisch.“
Die zitierten Sätze stammen von Robin Alexander, einem linken Journalisten. Sie kennzeichnen die Situation treffend, aber man spürt ein Unbehagen zwischen den Zeilen. Denn der beschriebene Zustand ist zwar das Ergebnis erfolgreicher linker Geschichtspolitik, aber die Homophonie der Auffassungen wirkt künstlich, nährt den Verdacht, daß der allgemeine Konsens nur durch Druck zustande kommt und dieser Druck einen Gegendruck erzeugen könnte, der auf die Dauer stark und stärker als der Druck wird. Die Angst vor dem Gegendruck erklärt viel von der Beunruhigung der Verantwortlichen im Hinblick auf das Gedenkjahr 2005. So äußerte Günter Morsch, der Direktor der Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Sorge über „Tendenzen …, die verschiedenen Verbrechenskomplexe des 20. Jahrhunderts zu vermischen und weniger zu differenzieren: Zu vergleichen, was nicht vergleichbar ist, und gleichzusetzen, was nicht gleichgesetzt werden kann. Dies verletzt die Gefühle der Opfer und schadet dem Ansehen Deutschlands.“
Gemeint sind vor allem zwei „Verbrechenskomplexe“, die in den vergangenen Jahren intensiv diskutiert wurden: der alliierte Bombenkrieg gegen die deutsche Zivilbevölkerung und die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten. In beiden Fällen führte die Konfrontation mit den lange verdrängten oder verschwiegenen Fakten zu einer erheblichen Irritation. Aber die naheliegende Frage, ob das, was die Sieger des Zweiten Weltkriegs den Deutschen angetan haben, nicht in irgendeiner Weise dem entspreche, was die Deutschen den Juden und anderen Völkern angetan hatten, war so hochgradig tabuiert, daß sie öffentlich nicht gestellt werden konnte. An der Virulenz des Problems der „Aufrechnung“ ändert das wenig. Das erklärt auch Morschs entlarvende Formulierung vom Vergleich, der „die Gefühle der Opfer“ verletze. Gemeint sind selbstverständlich nicht die Gefühle deutscher Opfer, vielmehr wird den Deutschen der Status als Opfer implizit aberkannt.
Die Meinung, daß „Täter keine Opfer“ sein können, vertritt nicht nur die „antideutsche“ Fraktion der Linken, sie bildet einen integralen Bestandteil des üblichen Deutungsmusters der NS-Zeit. Dadurch tabuiert man wirkungsvoll die Beschäftigung mit historischen Zusammenhängen, die „entlastend“ wirken könnten (von der Rationalität des Antikommunismus über die Ursachen des Zweiten Weltkriegs bis zur Inhumanität alliierter Politik) und stabilisiert die Kollektivschuldthese. Derzufolge sind die Deutschen qua ethnischer Zugehörigkeit verantwortlich und haftbar für das, was von der nationalsozialistischen Führung in ihrem Namen getan wurde. Der Begriff ist nicht sehr beliebt, da er faktisch die „völkische“ Definition des Deutschen voraussetzt und Denkmustern entspricht, die sonst als „rassistisch“ verurteilt werden. Aber alles Reden über „Tätervolk“ oder „Land der Mörder“ ist nur in diesem Zusammenhang sinnvoll.
So effektiv die Kollektivschuldthese geschichtspolitisch sein mag, sie stellt für die Deutschen auch das größte Hindernis dar, die allgemeine Deutung des Jahres 1945 zu übernehmen. Bezeichnenderweise wurde die Interpretation als „Befreiung“ in Deutschland lange Zeit nur von einer Minderheit vertreten. Nach dem Krieg sprachen bloß Kommunisten von „Befreiung“ und meinten damit die „Befreiung“ durch die Sowjetunion. Damit war immerhin klar, wen man als „Befreier“ ansehen sollte, weniger eindeutig war schon, wer als „Befreiter“ zu gelten hatte. Da kam neben der eigenen Partei nur die Masse der „Werktätigen“ in Frage, die der „Faschismus“ im Bündnis mit dem „Kapital“ unterdrückt hatte: der Sieg der Roten Armee als nachgeholte Revolution der Arbeiterklasse. In der DDR kanonisierte man später die Gleichsetzung von Proletariat und Nation, und bis heute gibt es einen gewissen intellektuellen Nachtrab, der in diesem Sinn vom 8. Mai als dem Tag spricht, an dem die „Befreiung der Deutschen“ (Kurt Pätzold) stattfand.
Die Vorstellung zwingt allerdings zu der Annahme, daß das NSRegime eine Art Fremdherrschaft gewesen sei, die von der Bevölkerung nur mit Zähneknirschen geduldet wurde. Die systematische Ersetzung des Begriffs „deutsch“ durch „faschistisch“ in der kommunistischen Geschichtsschreibung (etwa „faschistische Wehrmacht“ an Stelle von „deutsche Wehrmacht“) diente und dient derselben Absicht. Als verantwortlich gilt immer nur die „faschistische Clique“ mitsamt der „Reaktion“. In der DDR hat sich deshalb nie das Gefühl einer Verantwortung aller für das zwischen 1933 und 1945 Geschehene bilden können, schuldig war nur eine sozial genau abgrenzbare Minderheit.
Diese Exkulpation des Volkes hätte den Begriff der „Befreiung“ in Westdeutschland eigentlich verdächtig machen müssen. Wenn er in den beiden letzten Jahrzehnten trotzdem durchgesetzt wurde, so deshalb, weil man die Klarheit der DDR-Terminologie mied und vor allem der Alternative auszuweichen suchte: den 8. Mai 1945 als „Niederlage“ zu bestimmen. Heinrich Böll stellte einmal fest, man erkenne „… die Deutschen immer wieder daran …, ob sie den 8. Mai als Tag der Niederlage oder Befreiung bezeichnen“. Er meinte damit selbstverständlich, daß der, der von „Niederlage“ sprach, auf die Seite Hitlers trat, während der, der von „Befreiung“ redete, sich auf die Seite des Guten, Moralisch-Unbedenklichen und Demokratischen geschlagen hatte. So einfach liegen die Dinge aber nicht.
Das ist schon daran zu erkennen, daß der, der von „Befreiung“ spricht, tunlichst das Objekt der „Befreiung“ verschweigt. Die Kollektivschuld angenommen, kann das deutsche Volk jedenfalls nicht das Ziel des Befreiungsakts gewesen sein. In einem Text, der für die gängige Deutung symptomatisch ist, äußerte Gerhard Hirschfeld: „Die Mehrzahl der Deutschen hatte den Krieg ihres ‚Führers‘ bereits seit langem zu ihrem eigenen Krieg gemacht.“ Deshalb sei auch zuzugeben, daß die „… von außen erzwungene Beseitigung des NS-Regimes … für die Mehrheit der Deutschen gleichbedeutend mit dem Zusammenbruch von Staat und Gesellschaft und dem Verlust ihrer bisher gültigen Wertvorstellungen und Ideale“ war; nach der Besetzung des Reiches durch die Alliierten hätten sich nur die Opfer und Gegner des Nationalsozialismus befreit gefühlt. Stelle man aber die „Dialektik von Niederlage und Zerstörung einerseits und Befreiung und Neuanfang andererseits“ in Rechnung, müsse das Jahr 1945 als „wirkliche Befreiung“ betrachtet werden.
Von „wirklicher Befreiung“ wird hier in einem geschichtsphilosophischen Sinn gesprochen: da die Befreier ausdrücklich nicht als Befreier kamen, die Befreiung nirgends die Kennzeichen einer Befreiung aufwies und die Befreiten sich nicht als Befreite fühlten, muß es hinter dem Schleier der Tatsachen eine andere Realität geben. Die Folge der Ereignisse wird als historisch notwendig gedeutet, damit aber von allen konkreten Umständen abgesehen. Der Historiker Andreas Hillgruber hat auf die Konsequenzen, die diese Entfernung von der geschichtlichen Situation zur Folge haben muß, sehr früh hingewiesen. 1986 erschien sein Essay Zweierlei Untergang, in dem er die Frage stellte, mit wem sich die Deutschen in Erinnerung an die Kriegslage 1944 / 45 eher identifizieren wollten: mit der vorrükkenden sowjetischen Armee, die das Ende des NS-Regimes bringen würde – und also die „Befreiung“ – oder mit den Wehrmachtssoldaten, die in aussichtsloser Lage die Front hielten, um ihren Landsleuten die Flucht vor einem unbarmherzigen Feind zu ermöglichen. Hillgrubers Feststellung – „das deutsche Ostheer schützte in einem ganz elementaren Sinne die Menschen“ – trug ihm prompt den Vorwurf ein, er sei ein „konstitutioneller Nazi“.
Zum damaligen Zeitpunkt hatte sich schon etwas im kollektiven Bewußtsein der Deutschen verschoben. Nicht nur die Nachgeborenen, sondern auch die Erlebnisgeneration sah die Vorgänge von 1945 in einem anderen Licht. Bei einer Umfrage des Instituts für Demoskopie äußerten 58 Prozent der vor 1933 geborenen, daß sie den 8. Mai als „Befreiung“ erlebt hätten, 31 Prozent sprachen von einer „Niederlage“. Allerdings sagte mehr als die Hälfte, daß im Mai 1945 eine Welt zerbrochen sei, bei den Vertriebenen waren es sogar 60 Prozent. Unter ihnen dürfte die Erinnerung an das Elend des Zusammenbruchs noch am lebendigsten gewesen sein, aber auch sie lernten, daß Gefangenschaft, Internierung, Verschleppung und Verlust der Heimat an Bedeutung verloren, und daß Tod, Folter, Vergewaltigung und Beraubung von Deutschen bestenfalls als bedauerliche Begleitumstände, schlimmstenfalls als gerechte Strafe zu gelten hatten.
Gesetzt, daß die Auffassung der breiten Masse den Reflex von Anschauungen bildet, die die politische und intellektuelle Führung entwickelt hat, stellt sich die Frage, was die Eliten der Bundesrepublik dazu bewog, mit Nachdruck auf die Identifizierung von „1945“ und „Befreiung“ hinzuarbeiten. Das wichtigste Motiv dürfte darin liegen, an die Position der Sieger anzuschließen. Das heißt, es geht nicht um Fragen der Performance, sondern darum, die politische „Grund-Lage“ zu ändern: man tritt von der Seite der Verlierer auf die der Gewinner. Die Teilnahme Bundeskanzler Schröders an den Feiern in der Normandie im vergangenen Jahr und seine Ankündigung, im kommenden Mai nach Moskau zu reisen, sind signifikanter Ausdruck dafür.
Der Begriff der „Grund-Lage“ stammt von dem Politikwissenschaftler Hans-Joachim Arndt. Nach seiner Meinung war die Grund-Lage der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die von Besiegten: „Die Besiegten von 1945 mögen viele gute Gründe dafür anführen, dieses Datum als durch spätere Ereignisse und Entwicklungen überholt anzusehen, als durch folgende Entscheidungen und Gesinnungen und Handlungen überdeckt, zugeschüttet, gar getilgt – oder durch vorausliegende Ursach- Daten bedingt und damit relativiert. Das historische und politische Factum Brutum für die Deutschen bleibt dieser 8. Mai 1945 …“. Als Arndt das formulierte, konnte man längst deutlich erkennen, wie schwer es den Deutschen – vor allem den Westdeutschen – fiel, das „Factum Brutum“ anzuerkennen, wie groß ihre Neigung war, der unangenehmen Tatsache auf die eine oder andere Art auszuweichen, auf Wohlstand oder wiedergewonnene Reputation eine alternative Existenz zu gründen. Das sei aber, so Arndt, nur um den Preis der politischen Identität der deutschen Nation möglich.
Seit Gründung der Bundesrepublik hatte jeder Schritt zu größerer Eigenständigkeit damit erkauft werden müssen, den Westmächten Loyalität zuzusichern. Loyalität äußerte sich nicht nur in der Art der Reorganisation oder der Übernahme von Bündnispflichten, sondern auch in einer bestimmten Art von Geschichtspolitik. Schon zu Beginn der fünfziger Jahre war die Überzeugung verbreitet, daß der Neuanfang nur möglich sein würde, wenn man sich entschloß, über gewisse, noch sehr lebendige Erinnerungen an die Nachkriegszeit hinwegzugehen. Damals veröffentlichte die Bundesregierung eine Broschüre unter dem Titel Vom Chaos zum Neubeginn, die die Entwicklung seit der Kapitulation darstellen sollte. Der Text ist weniger aufschlußreich im Hinblick auf die Information, die er bietet, als im Hinblick auf das, was er verschweigt, und die Art und Weise, wie die Darstellung verkürzt wurde: „Ohne Hinweise auf die Politik der Siegermächte in den Jahren 1945 und 1946 wäre unsere Schilderung unvollständig geblieben. Diese Zeit ist bereits so geschichtlich, daß wir sie ohne Ressentiments betrachten können. Echter Historismus weiß nichts vom Recht des Siegers und der Rechtlosigkeit des Besiegten. Er weiß nur um die Verantwortung, die der Besitz der Macht auferlegt. Wir sind glücklich, daß unsere Beziehungen zu den Alliierten schon seit geraumer Zeit nur vom Geist dieser hohen Verpflichtung, die jeder Führende vor seinem Volk und vor der Geschichte trägt, bestimmt wird.“
Die Verklausulierung hatte den Zweck, ein ganz bestimmtes Bild von Krieg und Nachkrieg zu zeichnen: Erwähnt wurden ausdrücklich die Opfer an Menschen und Material, aber der Verursacher trat nur auf, wenn es sich um die Sowjetunion handelte, von den Bombenschäden etwa, die Briten und Amerikaner zu verantworten hatten, sprach man wie von Naturkatastrophen, im übrigen galt der Blick den Aufbauleistungen, jeder Bezug auf die Schrecken von 1945 stand im Ruch des „Ressentiments“. Der Gerechtigkeit halber sei hinzugefügt, daß keineswegs der Versuch gemacht wurde, unter Bezugnahme auf Hitler als Verursacher des Weltkriegs alle Opfer der Deutschen zu rechtfertigen, auch die Zusammenarbeit des Westens mit Stalin und das Nichteinhalten von Zusagen der Alliierten erschien in einem problematischen Licht. Solche Konzessionen waren unumgänglich, wegen der zeitlichen Nähe der Ereignisse einerseits, wegen der Sorge vor einem neuen deutschen Nationalismus andererseits, der aus Niederlage und kollektiver Demütigung erwachsen konnte.
Bis zum Ende der fünfziger Jahre zeigten sich viele Beobachter, nicht zuletzt auf Seiten der Siegermächte, irritiert, daß weder der Zusammenbruch noch der Verlust der Ostgebiete oder die Teilung zur Entstehung einer radikalen Bewegung führten. Man rechnete im Grunde mit der Wiederkehr Weimarer Verhältnisse und gewöhnte sich nur ganz allmählich daran, daß es keine „deutsche Gefahr“ mehr gab. Abgesehen von dem anderen Ausmaß der Niederlage 1945 im Vergleich zu der von 1918 spielte für die Aussichtslosigkeit eines neuen Nationalismus auch die kluge Haltung Adenauers eine Rolle, der dem nationalen Selbstgefühl Spielraum gab. Außerdem traten alle Parteien für die Wiedervereinigung ein und die wichtigsten lehnten die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ab, die Vertriebenenorganisationen hielten die Erinnerung an das Verlorene wach und der Staat selbst zeigte sich demonstrativ als deutscher Staat. Ein weiterer Faktor, der stabilisierend wirkte, war die ungestörte Überlieferung der Ereignisse an der Basis. In der Bevölkerung blieb die Erinnerung an Realitäten von Krieg und Nachkrieg erhalten, die die Politik aus Gründen der Opportunität verschwieg. Daß diese Erinnerung nicht stärker an die Oberfläche trat, hatte damit zu tun, daß der Wiederaufbau alle Energien band und mit dem wachsenden Wohlstand zu einer Entpolitisierung führte, die erst in den unruhigen sechziger Jahren in Frage gestellt wurde.
Der „Antifaschismus“ von Studentenbewegung und „Außerparlamentarischer Opposition“ zielte nicht nur auf eine Verschiebung im Bild der NS-Zeit, sondern auch auf eine Umwertung des Jahres 1945. Die Neue Linke vertrat dabei Interpretationen, die weniger orthodoxen marxistischen Vorgaben als vielmehr den Mustern der alliierten Umerziehung folgte. Erst jetzt konnte die Behauptung kollektiver Schuld auf breitere Zustimmung rechnen. Denn zu den wichtigsten Waffen im Kampf gegen das „Establishment“ gehörte die Behauptung, daß die Vätergeneration aus Verbrechern bestehe, und schlimmer noch: aus unbußfertigen Verbrechern. Das machte es möglich, die Verhältnisse insgesamt als „faschistisch“ zu bezeichnen, die ganze Nachkriegsentwicklung in Frage zu stellen und die neue Feindseligkeit gegenüber den Siegern, vor allem den USA, zu rechtfertigen. Aber das alles blieb affektiv und ohne schlüssiges Konzept, auch wenn ein konservativer Beobachter das Entstehen einer „nationalbolschewistischen“ (Caspar von Schrenck-Notzing) Strömung in der APO für möglich halten konnte.
Die Neigung zum Theaterhaften und Nur-Moralisierenden hat den Erfolg der Achtundsechziger nicht nur nicht verhindert, sondern erst ermöglicht. Jede ernsthafte Verknüpfung von „antiimperialistischer“ Agitation und Deutscher Frage hätte die Ordnung der Nachkriegszeit tatsächlich zur Disposition gestellt. Davor scheute die Studentenbewegung zurück, und das gleiche gilt für ihre Erben in der organisierten Linken, der grünen und der Friedensbewegung. Als 1985 des vierzigsten Jahrestags des Kriegsendes gedacht wurde, war ein Mann wie Ekkehart Krippendorff, der zu den Veteranen der APO gehörte, schon sehr allein mit seiner „Klassenanalyse“ des Geschehens von 1945: „Das Deutsche Reich sollte als Wirtschafts- und Militärmacht … auf Dauer zerschlagen werden. Befreiung von der NS-Herrschaft war das Mittel dazu, nicht aberZiel und Zweck. Natürlich wurden Hunderttausende aus den Konzentrationslagern, Zuchthäusern und Gefängnissen sehr real befreit im Zuge der siegreichen Kampfhandlungen, und insofern war und ist für sie der 8. Mai 1945 subjektiv Tag der Befreiung. Er ist es auch für diejenigen, die auf die Niederlage im Stillen seit langem gehofft hatten und nicht zuletzt auch für diejenigen, denen der Zusammenbruch von Reich und Regierung die Augen geöffnet hatte, die einzusehen begannen und aus den eigenen Fehlern zu lernen bereit waren: Neubeginn, Stunde Null. Aber objektiv, das heißt nach Maßgabe derer, die über Große Politik befanden und entschieden, war Befreiung und gar Volksherrschaft (,Demokratie‘) für die Deutschen nicht das Kriegsziel gewesen, sondern bestenfalls Mittel zur dauerhaften Sicherung des längerfristigen, des eigentlichen Projektes: der Ausschaltung des Deutschen Reiches als konkurrenzfähiger Großmacht“.
Diese Art „realpolitischer Beurteilung“ war in den achtziger Jahren noch nicht vollständig marginalisiert. Der Herausgeber des Spiegels, Rudolf Augstein, urteilte ähnlich wie Krippendorff über die Bedeutung des 8. Mai, und im bürgerlichen Lager gab es wenigstens Widerwillen dagegen, das Kriegsende zu „feiern“. Alfred Dreggers Einspruch gegen die Teilnahme Kanzler Kohls am alliierten Gedenken zum Jahrestag der Invasion hatte Erfolg und fand in der Union noch breite Unterstützung. Aber man sah sich doch einem neuen, mächtigen Zeitgeist gegenüber und dessen Inkarnation in Person des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Die von ihm in seiner Rede zum 8. Mai 1985 angebotene Deutung des Kriegsendes enthielt zum ersten Mal das, was bis heute als konsensfähig gilt. Dabei spielte der Bezug auf traditionelle Positionen – der Zusammenhang zwischen 1919 und 1939, der „Europäische Bürgerkrieg“, die Hoffnung, daß das Kriegsende nicht das Ende der deutschen Geschichte sei – kaum eine Rolle, entscheidend waren Uminterpretationen, wie die der Vertreibung als einer „erzwungenen Wanderschaft von Millionen Deutschen“, überhaupt die Neigung, das deutsche Leid einzuebnen im Verhältnis zum Leid aller anderen und die zentrale Formulierung: „der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“.
Weizsäckers Rede dürfte eine der wirkungsvollsten offiziellen Ansprachen der deutschen Nachkriegszeit gewesen sein. Das hing auch damit zusammen, daß er nicht nur auf die Deutung des Jahres 1945 zielte, sondern auf eine Korrektur des Bildes der Nachkriegsgeschichte insgesamt. Damit räumte er viele bis dahin zäh verteidigte Positionen der Bürgerlichen, gab den „Modernisierern“ nach und integrierte den Teil der Linken, der sich in der Partei der Grünen politisch etabliert hatte und über außerordentlichen Einfluß in den Medien verfügte. Hier zeichneten sich die ersten Umrisse der „Neuen Mitte“ ab, und Weizsäckers Rede war ihre Magna Charta.
Die Neue Mitte wurde seit den achtziger Jahren zum bestimmenden Faktor des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Das gilt für die Bonner wie für die Berliner Republik. Denn die Erwartung, daß die Ereignisse von 1989 die von 1945 in ihrer Bedeutung reduzieren würden, hat sich als falsch erwiesen. Im Vorfeld des fünfzigsten Jahrestags des Kriegsendes mutmaßte der Leiter des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, daß der durch den Kollaps der Sowjetunion eingeleitete „rasante historische Wandel“ ein Mehr an historischer Erfahrung mit sich bringe, das „die Wirkungsgeschichte des 8. Mai 1945 sehr viel komplexer erscheinen läßt als bis zum Jahr 1989“. Die Auseinandersetzung des Jahres 1995 um ein angemessenes Gedenken zeigte allerdings, daß die tonangebenden Kreise mit Zähigkeit an der einmal etablierten Auffassung festhalten wollten und gerade jeden Versuch zurückweisen würden, den Aspekt des Zusammenbruchs oder den der Gründung einer zweiten deutschen Diktatur im Kontext des Jahres 1945 zur Geltung zu bringen.
Die Zahl der Opponenten war klein und beschränkte sich im wesentlichen auf einen Kreis jüngerer konservativer Intellektueller. Diese „Neue Rechte“ versuchte durch den in vielen Zeitungen publizierten Aufruf „Gegen das Vergessen“ und eine zentrale Gedenkveranstaltung einen anderen Akzent zu setzen als in den offiziellen Feierlichkeiten. Aber man hatte die Entschlossenheit unterschätzt, mit der diese Absicht von einer großen Koalition bekämpft wurde, die von der radikalen Linken bis zum Bundeskanzleramt reichte. Das eigenartige Bündnis kam zustande, weil mit dem Appell „Gegen das Vergessen“ eine zentrale geschichtspolitische Formel aus ihrem Kontext – der NS-Vergangenheitsbewältigung – genommen und auf die Situation der Deutschen im Jahr 1945 bezogen worden war. Das berührte einen empfindlichen Punkt. Denn diese Formel besaß rituellen Charakter und gehörte zu den wichtigsten Elementen jener „Zivilreligion“, die in den achtziger Jahren eingesetzt wurde, um die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus wachzuhalten.
Für die Linke bedeutete es eine massive Irritation, daß ausgerechnet die von Union und FDP gestellte Regierung das Bekenntnis deutscher Schuld zum Mittelpunkt eines Bürgerkultes machte, sogar auf dem „singulären“ und „unvergleichbaren“ Charakter dieser Schuld beharrte. Allerdings ging und geht es nicht nur um Schuld. Denn der Erinnerung wird ein praktischer und ein metaphysischer Nutzen zugeschrieben: sie verhindert die Wiederholung des Übels und verhilft zur Absolution: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung“. Insofern muß jedes konkurrierende Gedenken als problematisch betrachtet werden.
Zugespitzt könnte man sagen, daß für die Ereignisse von 1945 und das, was Deutschen widerfahren ist, die Umkehrung dessen gelten soll, was im Hinblick auf die Untaten der NS-Zeit gilt: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Vergessen“. Für ein solches Vergessen lassen sich gute Gründe anführen. Es gibt unter Psychologen seit langem Zweifel daran, daß die permanente Konfrontation mit dem Schrecken der Vergangenheit zur Gesundung der menschlichen Seele führe. Und was auf den einzelnen zutrifft, könnte auch auf das Kollektiv zutreffen. Wenn man die Entschlossenheit, mit der die Deutschen die Vorgänge des Jahres 1945 verdrängen, wohlwollend deutete, müßte man den Schluß ziehen, daß es sich um eine lebensrettende Maßnahme handelt. Eine Art Amnesie, um nicht immer wieder auf etwas gestoßen zu werden, was unerträglich ist.
Allerdings vergessen die Nationen normalerweise ihre Schandtaten – die Franzosen die Bartholomäusnacht und die Massaker der Revolution, die Amerikaner die Ausrottung der Indianer, die Russen die Unterstützung des bolschewistischen Terrors –, nicht das Leid, das ihnen zugefügt wurde. In der Geschichte dürften sich kaum Parallelen zum Verhalten der Deutschen finden lassen, weshalb der Verdacht nahe liegt, daß es sich nicht um Therapie, sondern um Pathologie handelt. Und wenn man nach der eigentlichen Ursache dieser Pathologie forscht, dann findet man sie in der Niederlage selbst. Die Niederlage hat die Deutschen davon überzeugt, daß sie zu den „widerlegten Völkern“ (Arnold Gehlen) gehören.