Vor 700 Jahren, am 8. Januar 1324, starb Marco Polo in seiner Vaterstadt Venedig. Mehr als ein Drittel seines Lebens, fast 25 Jahre, hatte er auf der »größten Reise des 13. Jahrhunderts« verbracht.
Nie zuvor hatte ein Europäer den bis dahin eher sagenhaften Fernen Osten so ausgiebig bereist und über Indien, China und Indonesien berichtet; und selbst über Japan (»Zipangu«), von dessen Existenz Polo vermutlich als erster Europäer überhaupt Kenntnis nahm. Sein Reisebericht Beschreibung der Welt wurde viele Male abgeschrieben, früh gedruckt, oft übersetzt und war ungeheuer erfolgreich. Das »zunächst ungläubig aufgenommene Buch« (Ferdinand Seibt) über die unvorstellbaren Reichtümer des Orients beflügelte noch Jahrhunderte später die Phantasie der Leser – und die zahlreicher abendländischer Entdeckungsreisender.
Eine vergleichbare Reiseschilderung aus der Feder des Ibn Battuta dagegen »verstaubte sehr bald in den orientalischen Bibliotheken« (Theodor A. Knust). Warum Europa? – ein Mosaiksteinchen zur Beantwortung der klassischen Frage findet sich auch hier, und Michael Mitterauer führt in seinem gleichnamigen Werk aus: »Sowohl der Protokolonialismus der italienischen Seestädte als die in etwa gleichzeitig aufkommende Kreuzzugsbewegung stellen spezifische Erscheinungen des europäischen Sonderwegs dar, zu denen es außerhalb Europas keine Entsprechung gibt.«
Die Kreuzzüge hatten erheblichen Einfluß auf das weitere Geschick von Genua und vor allem von Marco Polos Heimat Venedig. Schon zum ersten Kreuzzug 1096 hatten die beiden Stadtstaaten ihre unentbehrlichen Flotten nur widerwillig entsandt, da sie die lukrativen Geschäftsbeziehungen zu islamischen Handelspartnern nicht gefährden wollten. Im 12. Jahrhundert schlossen die Kaufleute der Seerepubliken Handelsverträge just mit jenen islamischen Reichen, gegen die das übrige Europa zu Felde zog.
Mehr noch: Im 13. Jahrhundert dienten die Kolonien Genuas und Venedigs am Schwarzen Meer nicht nur als Tor für den Handel mit dem Osten – beide betrieben von dort aus auch einen Handel mit Sklaven, deren Abnehmer ausgerechnet die moslemischen Mamelucken in Ägypten waren.
Und damit nicht genug: Im Vierten Kreuzzug ließ Venedig das Ritterheer den Preis der Überfahrt »abarbeiten«, indem dieses an der Küste Dalmatiens die Vorherrschaft der Serenissima wiederherstellte und dort plündernd auf den Geschmack kam. Von da war es nur noch ein Schritt, 1203/04 Konstantinopel grausam zu verheeren – ein Schlag, von dem sich die Stadt bis zu ihrem Fall an die Muslime nie wieder erholen sollte. Parallel öffnete die Ausdehnung des Tataren- und Mongolenreiches bis Liegnitz im Westen und bis China im Osten, seit 1260 mit Peking als Mittelpunkt, durch die resultierende Konsolidierung zersplitterter Territorien schließlich auch Ausländern bisher verschlossene Handelsrouten.
Das machten sich auch Niccolò und Maffeo Polo, Marcos Vater und Onkel, zunutze, die im Zuge einer langen Handelsreise, mit der Marcos Bericht einsetzt, schließlich an den Hof des Mongolenherrschers Kublai Khan gelangten. Dieser beauftragte die beiden, den Papst um Entsendung christlicher Gelehrten in sein Reich zu ersuchen – Peter Frankopan schreibt den Mongolen in Licht aus dem Osten »eine bemerkenswerte Offenheit, wenn es um den Glauben ging«, zu.
»Das Scheitern der Kreuzzüge«, so Frankopan, »bedeutete keineswegs ein Scheitern des Christentums in ganz Asien«. 1269 heimgekehrt, machten sich die Gebrüder Polo 1271 mit entsprechenden Sendschreiben des neugewählten Papstes Gregor X. und Niccolòs 1254 geborenem Sohn Marco auf den dreieinhalb Jahre langen Weg zurück zum Großkhan, der den jungen Marco zu einem seiner »Ehrenbegleiter« erhob. Dieser zeigte sich bald »so nützlich, daß er zu vertraulichen Missionen in alle Teile des Reiches gesandt wurde«.
Seine Wahrnehmungen auf diesen Missionen – nicht aber seine eigentliche Tätigkeit unterwegs – bilden den Kern von Marco Polos epochalem Reisebericht. Diesen diktierte er Jahre nach seiner Rückkehr nach Venedig (1295) während einer vierjährigen Kriegsgefangenschaft in Genua seinem Pisaner Leidensgenossen Rustichello. Ein Satz findet sich dort immer wieder: »Die Einwohner sind Götzenanbeter, verbrennen ihre Toten, haben Papiergeld und sind dem Großkhan untertan.«
Mit »Götzenanbetern« sind dabei stets die Buddhisten gemeint; Hindus hingegen bezeichnet Polo, der häufig auch auf nestorianische Christen trifft, als »ruchlose« Götzendiener. Der Venezianer durchquert Ländereien ohne Zahl, berichtet über die Landesnatur, ausführlich über exotische oder Fabeltiere und als gelernter Kaufmann detailliert in ständigen Superlativen über das jeweilige Warenangebot und dessen Preise – in venezianischen Münzen. Hier aber »wagt es niemand«, das Papiergeld des Großkhans »als nichtgültige Zahlung abzulehnen«. Von der lebensfeindlichen Wüste Lop Nor an der Seidenstraße über eine »Substanz von der Natur eines Salamanders […], die, zu Tuch gewebt und ins Feuer geworfen, nicht verbrennt« (Asbest), reichen die Beschreibungen bis zu Kannibalen auf Sumatra oder einer Völkerschaft, die es begrüßt, »wenn die Reisenden ihre Frauen, Töchter oder Schwestern mißbrauchen. […] Das tun sie zu Ehren ihrer Götzen«.
Polo preist die Kriegstugend der Mongolen – »kein Volk auf Erden übertrifft sie an Tapferkeit« und spendet so manche entsprechende Anekdote: »Wenn es besondere Umstände erfordern, können sie zehn Tage reiten, ohne gekochte Speisen zu sich zu nehmen; dann leben sie vom Blut ihrer Pferde, denen sie eine Ader öffnen, um davon zu trinken«. Und mehr: »Ihre Natur ist grausam«, und »es ist üblich, daß diejenigen, welche den Leichnam ihres Fürsten durch das Land geleiten, alle Personen, die ihnen unterwegs begegnen, erwürgen, indem sie zu diesen sagen: ›Geht hinüber in die andere Welt und dient dort eurem verstorbenen Herrn!‹«.
Selbst »linde« Anwandlungen der Mongolen machen schaudern: »Man legte Nayan in zwei Teppiche, die so lange hin und her geschüttelt wurden, bis sein Geist sich vom Körper gelöst hatte […], weil Sonne und Luft nicht Zeuge sein sollten, daß das Blut eines Mitglieds der kaiserlichen Familie vergossen würde«.
Dazu beschreibt Marco Polo die ungeheuren Ausmaße und die Pracht von »Kambalu«, dem von Kublai Khan erbauten Teil Pekings, später »Mongolenstadt« und schließlich »Verbotene Stadt« genannt; und die geradezu märchenhaft reiche Stadt »Kinsai«, das seit dem 12. Jahrhundert Residenz der chinesischen Kaiser gewesene Hangtschou, dessen »Bewohner glauben können, sie wohnten im Paradiese«.
Kurzum: »Nach den Schilderungen der Reisenden jener Zeit war der Reichtum des Ostens legendär – und stand in krassem Gegensatz zu den Zuständen in Europa« (Frankopan). Die Wirkung und die Anziehungskraft entsprechender Berichte auf die damaligen Europäer dürften kaum zu überschätzen sein. Marco Polo selbst drang auf dem asiatischen Festland vermutlich bis Mandalay im heutigen Myanmar / Birma vor.
Auch für das Schicksal des oft als »deutscher Marco Polo« bezeichneten Johannes Schiltberger spielten die Kreuzzüge eine entscheidende Rolle – allerdings mit gänzlich anderen Vorzeichen als bei seinem venezianischen »Vorgänger«. Dieser reiste im Auftrag des Großkhans und regierte als dessen Statthalter Provinzen; Schiltberger hingegen brachte, wie auch der Titel seines Buches lautet, Als Sklave im Osmanischen Reich und bei den Tataren mehr als dreißig Jahre seines Lebens unfreiwillig als Soldat wechselnder fremder Herren im Osten zu. Kein Deutscher vor ihm war dort so weit vorgedrungen und hatte dabei so viele Länder kennengelernt. Schiltberger war 1380 in Freising oder München zur Welt gekommen, sein Todesjahr ist unbekannt.
1389 waren die vereinigten Truppen verschiedener Balkanfürsten auf dem Amselfeld dem Sultan der Osmanen Murad I. unterlegen. König Sigismund von Ungarn sammelte daraufhin ein Kreuzfahrerheer, das 1396 im äußersten Norden des heutigen Bulgariens auf die Osmanen unter ihrem neuen Sultan Bayazid traf. Auch wegen Unstimmigkeiten, welchem christlichen Fürsten der Ehrenvorrang beim ersten Angriff gebühre, endete die Schlacht bei Nikopolis – und mit ihr der Kreuzzug – in einer schweren Niederlage Sigismunds.
Schiltbergers eigener Herr fiel, der Knappe geriet in Kriegsgefangenschaft und entging als Sechzehnjähriger nur wegen seiner Jugend Bayazids Zorn und der exemplarischen Hinrichtung unzähliger seiner Kameraden: »Da mußte ich, zusammen mit den anderen, sechs Jahre lang überall, wohin er zog, zu Fuß vorneweg marschieren, denn es ist dort üblich, daß man zu Fuß vor den Herren hergeht. In diesen sechs Jahren erwarb ich mir das Verdienst, ein Reittier zu haben, und ich ritt sechs weitere Jahre mit ihm, so daß ich insgesamt zwölf Jahre bei ihm war.«
Während dieser Periode wächst das Osmanische Reich, fällt aber beinahe dem letzten Aufbäumen des schon lange auf dem absteigenden Ast befindlichen Mongolenreiches zum Opfer. Bayazid wird von dessen Herrscher Timur Lenk, bei Schiltberger »Tämerlin«, 1402 mit »sechzehnhunderttausend Mann« besiegt; das Eigentum an dem unglücklichen Bayern geht auf den Mongolenfürsten über, und der Weg Schiltbergers führt tief nach Asien. Er nimmt an Timurs Eroberung von Aleppo, Damaskus und Bagdad teil. Später geht es in dessen Gefolge über Persien und Indien in die Residenz Samarkand, wo Timur 1405 stirbt – laut Schiltberger unter anderem wegen der Schmach, den Liebhaber einer seiner Gattinnen nicht in die Hände bekommen zu haben. Auch angesichts der davor ausgiebig geschilderten beispiellosen Grausamkeit dieses berüchtigtsten aller Mongolenherrscher wird man dessen Nebenbuhler eine beachtliche Kühnheit nicht absprechen können.
In den folgenden gut zwei Jahrzehnten gelangt Schiltberger an immer neue Herren und mit diesen unter anderem nach Sibirien (dessen Name sich in seinem Bericht zum erstenmal findet) sowie nach Konstantinopel und Jerusalem, das er ausführlich beschreibt. Anders als Marco Polo verkehrt der Deutsche freilich nicht in höchsten Kreisen, sondern mit anderen einfachen Soldaten, die ihm als Informationsquelle dienen. Fast wie ein Ethnologe berichtet er über Geschichte, Geographie, Wirtschaft und Sagen der Ländereien, in die es ihn buchstäblich verschlug, höchst bescheiden, niemals über seine Waffentaten und ausgesprochen korrekt über die zahlreichen Religionen, denen er begegnet. Deren Angehörige bezeichnet er schlicht als »Heiden«, ohne wie Marco Polo die Moslems von den »Götzenanbetern« zu unterscheiden.
In Armenien nimmt Schiltberger stets bei den Einheimischen Quartier, »denn sie sind den Deutschen gewogen und nahmen mich allein schon auf, weil ich ein Deutscher war. Sie lehrten mich ihre Sprache und ihr Vaterunser« – das auf armenisch und türkisch den Bericht abschließt. Vom westlichen Georgien aus gelang ihm die abenteuerliche Flucht, die ihn 1427 heim nach Bayern führte – nach fast 33 Jahren als Militärsklave.
Diesen bedauernswerten Stand teilte Schiltberger mit Hunderttausenden Angehörigen des osmanischen Janitscharenkorps, das sich aus geraubten unverheirateten Christen zusammensetzte. Bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr leisteten die Jungen Zwangsarbeit auf anatolischen Landgütern; erst erwachsen, sprachkundig und »bekehrt«, rückten sie als Rekruten in die Kasernen des Korps mit seinem eisernen Drill ein. Dort lebten sie zölibatär, praktisch unbesoldet und bezogen lediglich regelmäßige Mahlzeiten. Bezeichnenderweise bildeten gekreuzte Löffel die Rangabzeichen der Offiziere, und anstelle von Fahnen wurden der gefürchteten Elitetruppe große Suppenkessel als Feldzeichen vorangetragen.
Freilich gab es eine Möglichkeit, der »Knabenlese« zu entgehen, die von den Türken auch propagiert wurde: den Übertritt zum Islam. Insofern ist es von beachtlichem Zynismus, wenn im dickleibigen Sammelband Orient & Okzident zu lesen ist: »Am Beispiel des südöstlichen Europa kann aufgezeigt werden, wie die Muslime die dortige christliche Bevölkerung auf verschiedenen Ebenen […] beeinflußt haben. Einschlägige Übernahmen erfolgten nicht unter Zwang, sondern waren […] Ergebnisse interkultureller Kommunikation«.
An dieser politisch korrekten Schönfärberei scheinen die Autoren sich auch dann nicht zu stoßen, wenn sie drei Seiten weiter die folgenden »bemerkenswerten Sätze« von Aleida Assmann preisen: »Ein Weltbild ist ein Bild, das man nicht sehen kann, weil man mit ihm sieht. Erst wenn wir aus seinem Bann herausgetreten sind, können wir seine Konturen erkennen und analysieren.« Dasselbe könnte für das »Weltbild« der Verächter des lange überaus beliebten, inzwischen nur mehr als »berüchtigt« geführten Kinderbuches Hatschi Bratschis Luftballon von Franz Karl Ginzkey gelten: Dort entführt der Türke Hatschi Bratschi mit einem Heißluftballon den kleinen Fritz, dem es aber schließlich gelingt, alle im »Türkenland« eingesperrten Kinder zu befreien.
Die heftige Kritik an »Rassismus«, »Stereotypen« und »Chauvinismus« des Kinderbuchklassikers läßt dessen ebenso offenkundige wie historisch zutreffende Wurzeln in der »Knabenlese« gänzlich außer acht. Hans Magnus Enzensberger schrieb 2004 über die resultierende Zensur in der FAZ: »Nichtswürdige Verleger haben es verstümmelt, blöde Illustratoren verfälscht, pädagogische Aufseher kastriert, und am Ende wurde es ganz aus dem Verkehr gezogen«.
Strapaziös, aber glückhafter verlief der im gleichnamigen Buch dargestellte Vorstoß zum Drachenthron des universell gebildeten Jesuitenmönchs und Missionars Matteo Ricci (*1552), der »als erster imstande war, mit Sicherheit zu behaupten, daß China das gleiche Land wäre wie das im 13. Jh. von Marco Polo bereiste geheimnisvolle Reich Cathay.« Schon seit Jahrhunderten hatte das »Reich der Mitte« seine Pforten Ausländern wieder verschlossen. Doch fast zwanzig Jahre, nachdem er China erstmals betreten hatte, gelang es »Li Ma-tou« im Jahre 1601 sogar, in den Palast von Kaiser Wan Li zu gelangen und eine florierende Christengemeinde in Peking aufzubauen. Dort starb er 1610 und wurde in einer Gruft bestattet, die der Kaiser selbst ihm überlassen hatte.
Besonders beeindruckt hatte Wan Li unter den Geschenken des Jesuiten neben einem Christusbild eine Auswahl feinster Uhren – ein Motiv, dem man auch in Christoph Ransmayrs Roman Cox oder Der Lauf der Zeit begegnet: Hier wird ein historischer englischer Uhrmacher und Automatenkonstrukteur des 18. Jahrhunderts an den Hof Qiánlóngs gerufen. »Der Kaiser wollte, daß Cox ihm für die fliegenden, kriechenden oder erstarrten Zeiten eines menschlichen Lebens Uhren baute, Maschinen, die gemäß dem Zeitempfinden eines Liebenden, eines Kindes, eines Verurteilten und anderer […] Menschen den Stunden- oder Tageskreis anzeigen sollten – das wechselnde Tempo der Zeit«.
Ein solcher Automat hätte gewiß auch für die frühen Europäer im Morgenland – von Marco Polo bis Johannes Schiltberger, von den namenlosen Janitscharen bis Matteo Ricci – zwischen Verheißung und Verhängnis ein höchst unterschiedlich schnell ablaufendes Zeitmaß ermittelt.