Abendländische Begegnungen – 700 Jahre Marco Polo

von Konrad Markward Weiß -- PDF der Druckfassung aus Sezession 119/ April 2024

Vor 700 Jah­ren, am 8. Janu­ar 1324, starb Mar­co Polo in sei­ner Vater­stadt Vene­dig. Mehr als ein Drit­tel sei­nes Lebens, fast 25 Jah­re, hat­te er auf der »größ­ten Rei­se des 13. Jahr­hun­derts« verbracht.

Nie zuvor hat­te ein Euro­pä­er den bis dahin eher sagen­haf­ten Fer­nen Osten so aus­gie­big bereist und über Indi­en, Chi­na und Indo­ne­si­en berich­tet; und selbst über ­Japan (»Zipan­gu«), von des­sen Exis­tenz Polo ver­mut­lich als ers­ter Euro­pä­er über­haupt Kennt­nis nahm. Sein Rei­se­be­richt Beschrei­bung der Welt wur­de vie­le Male abge­schrie­ben, früh gedruckt, oft über­setzt und war unge­heu­er erfolg­reich. Das »zunächst ungläu­big auf­ge­nom­me­ne Buch« (­Fer­di­nand Seibt) über die unvor­stell­ba­ren Reich­tü­mer des Ori­ents beflü­gel­te noch Jahr­hun­der­te spä­ter die Phan­ta­sie der Leser – und die zahl­rei­cher abend­län­di­scher Entdeckungsreisender.

Eine ver­gleich­ba­re Rei­se­schil­de­rung aus der Feder des Ibn Bat­tu­ta dage­gen »ver­staub­te sehr bald in den ori­en­ta­li­schen Biblio­the­ken« (Theo­dor A. Knust). War­um Euro­pa? – ein Mosa­ik­stein­chen zur Beant­wor­tung der klas­si­schen Fra­ge fin­det sich auch hier, und Micha­el Mit­ter­au­er führt in sei­nem gleich­na­mi­gen Werk aus: »Sowohl der Pro­to­ko­lo­nia­lis­mus der ita­lie­ni­schen See­städ­te als die in etwa gleich­zei­tig auf­kom­men­de Kreuz­zugs­be­we­gung stel­len spe­zi­fi­sche Erschei­nun­gen des euro­päi­schen Son­der­wegs dar, zu denen es außer­halb Euro­pas kei­ne Ent­spre­chung gibt.«

Die Kreuz­zü­ge hat­ten erheb­li­chen Ein­fluß auf das wei­te­re Geschick von Genua und vor allem von Mar­co Polos Hei­mat Vene­dig. Schon zum ers­ten Kreuz­zug 1096 hat­ten die bei­den Stadt­staa­ten ihre unent­behr­li­chen Flot­ten nur wider­wil­lig ent­sandt, da sie die lukra­ti­ven Geschäfts­be­zie­hun­gen zu isla­mi­schen Han­dels­part­nern nicht gefähr­den woll­ten. Im 12. Jahr­hun­dert schlos­sen die Kauf­leu­te der See­re­pu­bli­ken Han­dels­ver­trä­ge just mit jenen isla­mi­schen Rei­chen, gegen die das übri­ge Euro­pa zu Fel­de zog.

Mehr noch: Im 13. Jahr­hun­dert dien­ten die Kolo­nien Genu­as und Vene­digs am Schwar­zen Meer nicht nur als Tor für den Han­del mit dem Osten – bei­de betrie­ben von dort aus auch einen Han­del mit Skla­ven, deren Abneh­mer aus­ge­rech­net die mos­le­mi­schen Mame­lu­cken in Ägyp­ten waren.

Und damit nicht genug: Im Vier­ten Kreuz­zug ließ Vene­dig das Rit­ter­heer den Preis der Über­fahrt »abar­bei­ten«, indem die­ses an der Küs­te Dal­ma­ti­ens die Vor­herr­schaft der Sere­nis­si­ma wie­der­her­stell­te und dort plün­dernd auf den Geschmack kam. Von da war es nur noch ein Schritt, 1203/04 Kon­stan­ti­no­pel grau­sam zu ver­hee­ren – ein Schlag, von dem sich die Stadt bis zu ihrem Fall an die Mus­li­me nie wie­der erho­len soll­te. Par­al­lel öff­ne­te die Aus­deh­nung des Tata­ren- und Mon­go­len­rei­ches bis Lie­gnitz im Wes­ten und bis Chi­na im Osten, seit 1260 mit Peking als Mit­tel­punkt, durch die resul­tie­ren­de Kon­so­li­die­rung zer­split­ter­ter Ter­ri­to­ri­en schließ­lich auch Aus­län­dern bis­her ver­schlos­se­ne Handelsrouten.

Das mach­ten sich auch Nic­colò und Maf­feo Polo, Mar­cos Vater und Onkel, zunut­ze, die im Zuge einer lan­gen Han­dels­rei­se, mit der Mar­cos Bericht ein­setzt, schließ­lich an den Hof des Mon­go­len­herr­schers Kub­lai Khan gelang­ten. Die­ser beauf­trag­te die bei­den, den Papst um Ent­sen­dung christ­li­cher Gelehr­ten in sein Reich zu ersu­chen – Peter Fran­kop­an schreibt den Mon­go­len in Licht aus dem Osten »eine bemer­kens­wer­te Offen­heit, wenn es um den Glau­ben ging«, zu.

»Das Schei­tern der Kreuz­zü­ge«, so Fran­kop­an, »bedeu­te­te kei­nes­wegs ein Schei­tern des Chris­ten­tums in ganz Asi­en«. 1269 heim­ge­kehrt, mach­ten sich die Gebrü­der Polo 1271 mit ent­spre­chen­den Send­schrei­ben des neu­ge­wähl­ten Paps­tes Gre­gor X. und ­Nic­colòs 1254 gebo­re­nem Sohn Mar­co auf den drei­ein­halb Jah­re lan­gen Weg zurück zum Groß­khan, der den jun­gen Mar­co zu einem sei­ner »Ehren­begleiter« erhob. Die­ser zeig­te sich bald »so nütz­lich, daß er zu ver­trau­li­chen Mis­sio­nen in alle Tei­le des Rei­ches gesandt wurde«.

Sei­ne Wahr­neh­mun­gen auf die­sen Mis­sio­nen – nicht aber sei­ne eigent­li­che Tätig­keit unter­wegs – bil­den den Kern von Mar­co Polos epo­cha­lem Rei­se­be­richt. Die­sen dik­tier­te er Jah­re nach sei­ner Rück­kehr nach Vene­dig (1295) wäh­rend einer vier­jäh­ri­gen Kriegs­ge­fan­gen­schaft in Genua sei­nem Pisaner Lei­dens­ge­nos­sen Rusti­chel­lo. Ein Satz fin­det sich dort immer wie­der: »Die Ein­woh­ner sind Göt­zen­an­be­ter, ver­bren­nen ihre Toten, haben Papier­geld und sind dem Groß­khan untertan.«

Mit »Göt­zen­an­be­tern« sind dabei stets die Bud­dhis­ten gemeint; Hin­dus hin­ge­gen bezeich­net Polo, der häu­fig auch auf nes­to­ria­ni­sche Chris­ten trifft, als »ruch­lo­se« Göt­zen­die­ner. Der Vene­zia­ner durch­quert Län­de­rei­en ohne Zahl, berich­tet über die Lan­des­na­tur, aus­führ­lich über exo­ti­sche oder Fabel­tie­re und als gelern­ter Kauf­mann detail­liert in stän­di­gen Super­la­ti­ven über das jewei­li­ge Waren­an­ge­bot und des­sen Prei­se – in vene­zia­ni­schen Mün­zen. Hier aber »wagt es nie­mand«, das Papier­geld des Groß­khans »als nicht­gül­ti­ge Zah­lung abzu­leh­nen«. Von der lebens­feind­li­chen Wüs­te Lop Nor an der Sei­den­stra­ße über eine »Sub­stanz von der Natur eines Sala­man­ders […], die, zu Tuch gewebt und ins Feu­er gewor­fen, nicht ver­brennt« (Asbest), rei­chen die Beschrei­bun­gen bis zu Kan­ni­ba­len auf Suma­tra oder einer Völ­ker­schaft, die es begrüßt, »wenn die Rei­sen­den ihre Frau­en, Töch­ter oder Schwes­tern miß­brauchen. […] Das tun sie zu Ehren ihrer Götzen«.

Polo preist die Kriegs­tu­gend der Mon­go­len – »kein Volk auf Erden über­trifft sie an Tap­fer­keit« und spen­det so man­che ent­spre­chen­de Anek­do­te: »Wenn es beson­de­re Umstän­de erfor­dern, kön­nen sie zehn Tage rei­ten, ohne gekoch­te Spei­sen zu sich zu neh­men; dann leben sie vom Blut ihrer Pfer­de, denen sie eine Ader öff­nen, um davon zu trin­ken«. Und mehr: »Ihre Natur ist grau­sam«, und »es ist üblich, daß die­je­ni­gen, wel­che den Leich­nam ihres Fürs­ten durch das Land gelei­ten, alle Per­so­nen, die ihnen unter­wegs begeg­nen, erwür­gen, indem sie zu die­sen sagen: ›Geht hin­über in die ande­re Welt und dient dort eurem ver­stor­be­nen Herrn!‹«.

Selbst »lin­de« Anwand­lun­gen der Mon­go­len machen schau­dern: »Man leg­te ­Nayan in zwei Tep­pi­che, die so lan­ge hin und her geschüt­telt wur­den, bis sein Geist sich vom Kör­per gelöst hat­te […], weil Son­ne und Luft nicht Zeu­ge sein soll­ten, daß das Blut eines Mit­glieds der kai­ser­li­chen Fami­lie ver­gos­sen würde«.

Dazu beschreibt Mar­co Polo die unge­heu­ren Aus­ma­ße und die Pracht von »Kam­ba­lu«, dem von Kub­lai Khan erbau­ten Teil Pekings, spä­ter »Mon­go­len­stadt« und schließ­lich »Ver­bo­te­ne Stadt« genannt; und die gera­de­zu mär­chen­haft rei­che Stadt »Kin­sai«, das seit dem 12. Jahr­hun­dert Resi­denz der chi­ne­si­schen Kai­ser gewe­se­ne Hang­tschou, des­sen »Bewoh­ner glau­ben kön­nen, sie wohn­ten im Paradiese«.

Kurz­um: »Nach den Schil­de­run­gen der Rei­sen­den jener Zeit war der Reich­tum des Ostens legen­där – und stand in kras­sem Gegen­satz zu den Zustän­den in Euro­pa« (Fran­kop­an). Die Wir­kung und die Anzie­hungs­kraft ent­spre­chen­der Berich­te auf die dama­li­gen Euro­pä­er dürf­ten kaum zu über­schät­zen sein. Mar­co Polo selbst drang auf dem asia­ti­schen Fest­land ver­mut­lich bis Man­da­lay im heu­ti­gen Myan­mar / Bir­ma vor.

Auch für das Schick­sal des oft als »deut­scher Mar­co Polo« bezeich­ne­ten Johan­nes Schilt­ber­ger spiel­ten die Kreuz­zü­ge eine ent­schei­den­de Rol­le – aller­dings mit gänz­lich ande­ren Vor­zei­chen als bei sei­nem vene­zia­ni­schen »Vor­gän­ger«. Die­ser reis­te im Auf­trag des Groß­khans und regier­te als des­sen Statt­hal­ter Pro­vin­zen; Schilt­ber­ger hin­ge­gen brach­te, wie auch der Titel sei­nes Buches lau­tet, Als Skla­ve im Osma­ni­schen Reich und bei den Tata­ren mehr als drei­ßig Jah­re sei­nes Lebens unfrei­wil­lig als Sol­dat wech­seln­der frem­der Her­ren im Osten zu. Kein Deut­scher vor ihm war dort so weit vor­ge­drun­gen und hat­te dabei so vie­le Län­der ken­nen­ge­lernt. Schilt­ber­ger war 1380 in Frei­sing oder Mün­chen zur Welt gekom­men, sein Todes­jahr ist unbekannt.

1389 waren die ver­ei­nig­ten Trup­pen ver­schie­de­ner Bal­kan­fürs­ten auf dem Amsel­feld dem Sul­tan der Osma­nen Murad I. unter­le­gen. König Sigis­mund von Ungarn sam­mel­te dar­auf­hin ein Kreuz­fah­rer­heer, das 1396 im äußers­ten Nor­den des heu­ti­gen Bul­ga­ri­ens auf die Osma­nen unter ihrem neu­en Sul­tan Baya­zid traf. Auch wegen Unstim­mig­kei­ten, wel­chem christ­li­chen Fürs­ten der Ehren­vor­rang beim ers­ten Angriff gebüh­re, ende­te die Schlacht bei Niko­po­lis – und mit ihr der Kreuz­zug – in einer schwe­ren Nie­der­la­ge Sigismunds.

Schilt­ber­gers eige­ner Herr fiel, der Knap­pe geriet in Kriegs­ge­fan­gen­schaft und ent­ging als Sech­zehn­jäh­ri­ger nur wegen sei­ner Jugend Baya­zids Zorn und der exem­pla­ri­schen Hin­rich­tung unzäh­li­ger sei­ner Kame­ra­den: »Da muß­te ich, zusam­men mit den ande­ren, sechs Jah­re lang über­all, wohin er zog, zu Fuß vor­ne­weg mar­schie­ren, denn es ist dort üblich, daß man zu Fuß vor den Her­ren her­geht. In die­sen sechs Jah­ren erwarb ich mir das Ver­dienst, ein Reit­tier zu haben, und ich ritt sechs wei­te­re Jah­re mit ihm, so daß ich ins­ge­samt zwölf Jah­re bei ihm war.«

Wäh­rend die­ser Peri­ode wächst das Osma­ni­sche Reich, fällt aber bei­na­he dem letz­ten Auf­bäu­men des schon lan­ge auf dem abstei­gen­den Ast befind­li­chen Mon­go­len­rei­ches zum Opfer. Baya­zid wird von des­sen Herr­scher Timur Lenk, bei Schilt­ber­ger »Tämer­lin«, 1402 mit »sech­zehn­hun­dert­tau­send Mann« besiegt; das Eigen­tum an dem unglück­li­chen Bay­ern geht auf den Mon­go­len­fürs­ten über, und der Weg Schilt­ber­gers führt tief nach Asi­en. Er nimmt an Timurs Erobe­rung von Alep­po, Damas­kus und Bag­dad teil. Spä­ter geht es in des­sen Gefol­ge über Per­si­en und Indi­en in die Resi­denz Samar­kand, wo Timur 1405 stirbt – laut Schilt­ber­ger unter ande­rem wegen der Schmach, den Lieb­ha­ber einer sei­ner Gat­tin­nen nicht in die Hän­de bekom­men zu haben. Auch ange­sichts der davor aus­gie­big geschil­der­ten bei­spiel­lo­sen Grau­sam­keit die­ses berüch­tigts­ten aller Mon­go­len­herr­scher wird man des­sen Neben­buh­ler eine beacht­li­che Kühn­heit nicht abspre­chen können.

In den fol­gen­den gut zwei Jahr­zehn­ten gelangt Schilt­ber­ger an immer neue Her­ren und mit die­sen unter ande­rem nach Sibi­ri­en (des­sen Name sich in sei­nem Bericht zum ersten­mal fin­det) sowie nach Kon­stan­ti­no­pel und Jeru­sa­lem, das er aus­führ­lich beschreibt. Anders als Mar­co Polo ver­kehrt der Deut­sche frei­lich nicht in höchs­ten Krei­sen, son­dern mit ande­ren ein­fa­chen Sol­da­ten, die ihm als Infor­ma­ti­ons­quel­le die­nen. Fast wie ein Eth­no­lo­ge berich­tet er über Geschich­te, Geo­gra­phie, Wirt­schaft und Sagen der Län­de­rei­en, in die es ihn buch­stäb­lich ver­schlug, höchst beschei­den, nie­mals über sei­ne Waf­fen­ta­ten und aus­ge­spro­chen kor­rekt über die zahl­rei­chen Reli­gio­nen, denen er begeg­net. Deren Ange­hö­ri­ge bezeich­net er schlicht als »Hei­den«, ohne wie Mar­co Polo die Mos­lems von den »Göt­zen­an­be­tern« zu unterscheiden.

In Arme­ni­en nimmt Schilt­ber­ger stets bei den Ein­hei­mi­schen Quar­tier, »denn sie sind den Deut­schen gewo­gen und nah­men mich allein schon auf, weil ich ein Deut­scher war. Sie lehr­ten mich ihre Spra­che und ihr Vater­un­ser« – das auf arme­nisch und tür­kisch den Bericht abschließt. Vom west­li­chen Geor­gi­en aus gelang ihm die aben­teu­er­li­che Flucht, die ihn 1427 heim nach Bay­ern führ­te – nach fast 33 Jah­ren als Militärsklave.

Die­sen bedau­erns­wer­ten Stand teil­te Schilt­ber­ger mit Hun­dert­tau­sen­den Ange­hö­ri­gen des osma­ni­schen Jani­tscha­ren­korps, das sich aus geraub­ten unver­hei­ra­te­ten Chris­ten zusam­men­setz­te. Bis zum ein­und­zwan­zigs­ten Lebens­jahr leis­te­ten die Jun­gen Zwangs­ar­beit auf ana­to­li­schen Land­gü­tern; erst erwach­sen, sprach­kun­dig und »bekehrt«, rück­ten sie als Rekru­ten in die Kaser­nen des Korps mit sei­nem eiser­nen Drill ein. Dort leb­ten sie zöli­ba­t­är, prak­tisch unbe­sol­det und bezo­gen ledig­lich regel­mä­ßi­ge Mahl­zei­ten. Bezeich­nen­der­wei­se bil­de­ten gekreuz­te Löf­fel die Rang­ab­zei­chen der Offi­zie­re, und anstel­le von Fah­nen wur­den der gefürch­te­ten Eli­te­trup­pe gro­ße Sup­pen­kes­sel als Feld­zei­chen vorangetragen.

Frei­lich gab es eine Mög­lich­keit, der »Kna­ben­le­se« zu ent­ge­hen, die von den Tür­ken auch pro­pa­giert wur­de: den Über­tritt zum Islam. Inso­fern ist es von beacht­li­chem Zynis­mus, wenn im dick­lei­bi­gen Sam­mel­band Ori­ent & Okzi­dent zu lesen ist: »Am Bei­spiel des süd­öst­li­chen Euro­pa kann auf­ge­zeigt wer­den, wie die Mus­li­me die dor­ti­ge christ­li­che Bevöl­ke­rung auf ver­schie­de­nen Ebe­nen […] beein­flußt haben. Ein­schlä­gi­ge Über­nah­men erfolg­ten nicht unter Zwang, son­dern waren […] Ergeb­nis­se inter­kul­tu­rel­ler Kommunikation«.

An die­ser poli­tisch kor­rek­ten Schön­fär­be­rei schei­nen die Autoren sich auch dann nicht zu sto­ßen, wenn sie drei Sei­ten wei­ter die fol­gen­den »bemer­kens­wer­ten Sät­ze« von Alei­da Ass­mann prei­sen: »Ein Welt­bild ist ein Bild, das man nicht sehen kann, weil man mit ihm sieht. Erst wenn wir aus sei­nem Bann her­aus­ge­tre­ten sind, kön­nen wir sei­ne Kon­tu­ren erken­nen und ana­ly­sie­ren.« Das­sel­be könn­te für das »Welt­bild« der Ver­äch­ter des lan­ge über­aus belieb­ten, inzwi­schen nur mehr als »berüch­tigt« geführ­ten Kin­der­bu­ches Hat­schi Brat­schis Luft­bal­lon von Franz Karl Ginz­key gel­ten: Dort ent­führt der Tür­ke Hat­schi Brat­schi mit einem Heiß­luft­bal­lon den klei­nen Fritz, dem es aber schließ­lich gelingt, alle im »Tür­ken­land« ein­ge­sperr­ten Kin­der zu befreien.

Die hef­ti­ge Kri­tik an »Ras­sis­mus«, »Ste­reo­ty­pen« und »Chau­vi­nis­mus« des Kin­der­buch­klas­si­kers läßt des­sen eben­so offen­kun­di­ge wie his­to­risch zutref­fen­de Wur­zeln in der »Kna­ben­le­se« gänz­lich außer acht. Hans Magnus Enzens­ber­ger schrieb 2004 über die resul­tie­ren­de Zen­sur in der FAZ: »Nichts­wür­di­ge Ver­le­ger haben es ver­stüm­melt, blö­de Illus­tra­to­ren ver­fälscht, päd­ago­gi­sche Auf­se­her kas­triert, und am Ende wur­de es ganz aus dem Ver­kehr gezogen«.

Stra­pa­zi­ös, aber glück­haf­ter ver­lief der im gleich­na­mi­gen Buch dar­ge­stell­te Vor­stoß zum Dra­chen­thron des uni­ver­sell gebil­de­ten Jesui­ten­mönchs und Mis­sio­nars Matteo Ric­ci (*1552), der »als ers­ter imstan­de war, mit Sicher­heit zu behaup­ten, daß Chi­na das glei­che Land wäre wie das im 13. Jh. von Mar­co Polo bereis­te geheim­nis­vol­le Reich Cathay.« Schon seit Jahr­hun­der­ten hat­te das »Reich der Mit­te« sei­ne Pfor­ten Aus­län­dern wie­der ver­schlos­sen. Doch fast zwan­zig Jah­re, nach­dem er Chi­na erst­mals betre­ten hat­te, gelang es »Li Ma-tou« im Jah­re 1601 sogar, in den Palast von Kai­ser Wan Li zu gelan­gen und eine flo­rie­ren­de Chris­ten­ge­mein­de in Peking auf­zu­bau­en. Dort starb er 1610 und wur­de in einer Gruft bestat­tet, die der Kai­ser selbst ihm über­las­sen hatte.

Beson­ders beein­druckt hat­te Wan Li unter den Geschen­ken des Jesui­ten neben einem Chris­tus­bild eine Aus­wahl feins­ter Uhren – ein Motiv, dem man auch in Chris­toph Rans­mayrs Roman Cox oder Der Lauf der Zeit begeg­net: Hier wird ein his­to­ri­scher eng­li­scher Uhr­ma­cher und Auto­ma­ten­kon­struk­teur des 18. Jahr­hun­derts an den Hof Qián­lóngs geru­fen. »Der Kai­ser woll­te, daß Cox ihm für die flie­gen­den, krie­chen­den oder erstarr­ten Zei­ten eines mensch­li­chen Lebens Uhren bau­te, Maschi­nen, die gemäß dem Zeit­emp­fin­den eines Lie­ben­den, eines Kin­des, eines Ver­ur­teil­ten und ande­rer […] Men­schen den Stun­den- oder Tages­kreis anzei­gen soll­ten – das wech­seln­de Tem­po der Zeit«.

Ein sol­cher Auto­mat hät­te gewiß auch für die frü­hen Euro­pä­er im Mor­gen­land – von Mar­co Polo bis ­Johan­nes Schilt­ber­ger, von den namen­lo­sen Jani­tscha­ren bis Matteo Ric­ci – zwi­schen Ver­hei­ßung und Ver­häng­nis ein höchst unter­schied­lich schnell ablau­fen­des Zeit­maß ermittelt.

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