Das Ergebnis ist ein Torso. Obwohl von beachtlichem Umfang, liest sich seine Darstellung eher wie ein Ergänzungs- und Anmerkungsapparat zur bisher geleisteten Arendt-Exegese; eine übergeordnete Gesamtschau von Leben und Werk der Denkerin wird man schmerzlich vermissen.
Meyer konzentriert sich auf zwei Spezialthemen, die er als »blinden Fleck« identifiziert hat, und breitet eine Überfülle von bislang unbekannten Dokumenten aus, die den Leser überfordern. Zwei Lebensphasen Arendts sind es, die besonderes Augenmerk erfahren: ihre Jahre im französischen Exil (1933 – 1941) sowie die Zeit in den USA bis zur Publikation ihres ersten Hauptwerkes, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft.
Besonders die Jahre in Paris seien für die Entwicklung ihrer Schriften zentral gewesen, auch für ihr Selbstverständnis einer jüdischen Identität. Arendt arbeitete damals für eine Organisation, die Kindern die Ausreise nach Palästina ermöglichte. Im Rahmen ihrer Tätigkeit rettete sie Hunderten jüdischen Kindern das Leben. Diese Erfahrungen hätten ihre theoretischen Ansichten nachhaltig geprägt, für den Leser sei das Wissen um ihre praktische Flüchtlingsarbeit grundlegend für das Verständnis ihrer später formulierten Analysen. Auch in der Nachkriegszeit sei Arendt politisch aktiv geblieben und hätte sich fortwährend um die Akzeptanz jüdischer Selbstbestimmung bemüht.
Beide Behauptungen sind fragwürdig. Es scheint, als wolle Meyer der herkömmlichen Arendt-Rezeption eine Antithese gegenüberstellen: Erschien die unorthodoxe Intellektuelle in der Literatur der letzten Jahre als Kritikerin des Zionismus, so wird hier ihr Engagement für die »jüdische Sache« überbetont.
Auch die Tatsache, daß enge Freunde nach Veröffentlichung ihres Eichmann-Buchs, in dem sie ein harsches Urteil über die »Judenräte« gefällt hatte, ihr mangelnde »Liebe zum jüdischen Volk« vorwarfen, will der Biograph neu überdacht wissen. Dieses Vorgehen ist denkbar einseitig. Hannah Arendt war eine in erster Linie politisch und nicht identitätspolitisch denkende Philosophin; das allgemein Menschliche bildete die Grundlage, von der aus sie die Besonderheit der jüdischen Identität ausleuchtete.
Mißtrauen erweckt Meyers Anliegen, jegliche »Aktualisierung« zu vermeiden – indem er Arendts Aktivität als »Fluchthelferin« strapaziert, stellt er eine Zuschreibung her, die sich in die aktuellen Narrative exakt einpaßt. Ein anderes Problem zeigt sich in der Bearbeitung und Präsentation der beachtlichen Menge an Archivmaterial: Entgegen der Absicht des Biographen, der beweisen möchte, daß ihr Denken entscheidend von ihrem Erleben und Tun geprägt gewesen sei, kommt der Mensch Hannah Arendt dem Leser nicht nahe.
Im Gegenteil, man hat eine Papierphilosophin vor Augen. Ihre Persönlichkeit bleibt schemenhaft und entrückt. Auch das bisweilen Sperrige und Widersprüchliche ihrer Anschauungen vermittelt sich nicht. Überdies setzt das Buch eine profunde Vorkenntnis voraus und hat sprachliche Mängel: Verschachtelte, teils unklare Sätze erschweren die Lektüre. Das Wichtigste indes bleibt im Hintergrund: Arendts intellektuelle Verbundenheit mit Heidegger und Jaspers – Persönlichkeiten, die nachweislich ihren geistigen Werdegang geprägt haben.
Die Beziehung zu ihren prominenten Lehrern könne als erforscht gelten, begründet Meyer seine Schwerpunktsetzung. Alles in allem erscheint der großangelegte Versuch, Arendts philosophische und politische Weltsicht nachzuzeichnen, einseitig fokussiert.
Eine solche Annäherung im Untertitel als »die« Biographie zu bezeichnen ist überzogen. Für Einsteiger sei das Buch von Alois Prinz empfohlen (Hannah Arendt oder: Die Liebe zur Welt) oder die Biographie ihrer ehemaligen Schülerin Elisabet Young-Bruehl aus dem Jahr 1982, ein Opus magnum, das noch immer als das Standardwerk Gültigkeit beanspruchen kann.
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Thomas Meyer: Hannah Arendt. Die Biographie, München: Piper 2023. 528 S., 28 €
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