Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff

Die Besprechung dieses Buches hätte besser ins Rußland-Heft der Sezession gepaßt. Warum?

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Es geht in Köhl­mei­ers neu­em Roman um die Aus­wei­sung jener Tei­le der rus­si­schen Intel­li­gen­zi­ja aus der frü­hen Sowjet­uni­on, die zur Koope­ra­ti­on nicht bereit, aber nicht so offen wider­stän­dig waren, daß man sie lie­ber gleich umbrachte.

Die vier­zehn­jäh­ri­ge Anouk wird mit ihren Eltern auf ein Schiff gebracht, das in See sticht und irgend­wo vor Finn­land oder Schwe­den vor sich hin­düm­pelt, bis es einen Hafen anlau­fen darf. »Phi­lo­so­phen­schif­fe« nann­te man die­se Schif­fe, ihr Ein­satz zum Zwe­cke der Aus­bür­ge­rung ist his­to­risch in wenigs­tens zwei Fäl­len ver­bürgt. Iwan Iljin etwa war auf einem die­ser Schiffe.

Über die Wochen an Bord möch­te die nun hun­dert­jäh­ri­ge Anouk Per­le­man-Jacob berich­ten, und sie sucht sich für die Auf­zeich­nung einen Schrift­stel­ler aus, Köhl­mei­er, dem sie unver­blümt den Grund für ihr Wahl eröff­net: Er habe »einen guten Ruf, aber auch einen etwas win­di­gen. Ich weiß, daß Sie Din­ge erfin­den und dann behaup­ten, sie sei­en wahr.«

Das ist eine Lese­an­lei­tung: Wir wis­sen nun, daß man­ches von dem, was wir lesen wer­den, den Tat­sa­chen ent­spricht (die Exis­tenz der Phi­lo­so­phen­schif­fe bei­spiels­wei­se), ande­res hin­ge­gen nicht. So trifft Anouk auf dem ver­bo­te­nen Ober­deck des Schif­fes auf den kran­ken, in einem Ses­sel lesen­den und grü­beln­den Lenin und besucht ihn nun Tag für Tag.

Ein Kunst­griff, ein atem­be­rau­ben­der Ein­fall: Das Mäd­chen muß eine lan­ge, glit­schi­ge Eisen­lei­ter hin­auf zu Lenin und wie­der hin­ab zu den Eltern stei­gen, denn oben kann sie nicht blei­ben, aber bloß unten auch nicht. Was lehrt Lenin? Die Gesprä­che sind unbe­fan­gen, denn Lenin strahlt kei­ne Macht mehr aus. Er will sich erklä­ren. Dar­aus ent­ste­hen Dia­lo­ge über die Macht und den Ter­ror, über Bru­ta­li­tät, Rück­sichts­lo­sig­keit, Geschichts­phi­lo­so­phie und die Logik des revo­lu­tio­nä­ren Ablaufs. Die Gesprä­che sind auch Selbst­ge­sprä­che, denn Lenin glaubt nicht recht, daß die­ses Mäd­chen, das ihn besucht, tat­säch­lich exis­tiert. Aber natür­lich ist es Lenin, der nie auf einem die­ser Schif­fe war. Das hat Köhl­mei­er bloß erfunden.

Was ist wahr? Im Ruß­land-Heft der Sezes­si­on hat Jeka­te­ri­na Iwa­no­wa in ihrem Auf­satz über die rus­si­sche Lite­ra­tur unter ande­rem den Schrift­stel­ler Boris Sawin­kow auf­ge­führt, der Revo­lu­tio­när und Atten­tä­ter war und den­noch 1925 hin­ge­rich­tet wur­de. Anouk Per­le­man-­Ja­cob nun berich­tet, sie sei sich sicher, daß man ihre Eltern des­halb aus­ge­wie­sen habe, weil sie ­Sawin­kow kann­ten, und zwar aus der gemein­sa­men Zeit in Paris her. Auch den Lyri­ker Niko­lai ­Gumil­jow kann­te man aus Paris, er wur­de noch frü­her als Sawin­kow hin­ge­rich­tet, schon 1921. Man hat­te ihn der Betei­li­gung an einem Atten­tats­ver­such beschuldigt.

Anouk erzählt viel von frü­her, von ihren Eltern und deren Bekann­ten, von denen die einen umge­bracht wur­den, die ande­ren mit­mach­ten, die nächs­ten ver­schwan­den und die wenigs­ten davon­ka­men. Das ist eines der wie­der­keh­ren­den Moti­ve: War­um kamen die Eltern und sie davon? Es klopf­te, man hat­te ein Stünd­chen Zeit, um zu packen, der Vater, klug, ließ die Devi­sen in der Woh­nung lie­gen, er habe gehört, man wer­de erschos­sen, wenn man wel­che bei sich tra­ge. Am Kai: War­te­schlan­gen, und lapi­dar berich­tet die Hun­dert­jäh­ri­ge, daß die meis­ten es nicht aufs Schiff geschafft hät­ten, son­dern abge­führt wor­den sei­en, man­che davon gleich hin­ter einen Lat­ten­zaun, und dort habe man sie erschos­sen. »Devi­sen«, denkt Anouk.

Die Schick­sals­ge­mein­schaft auf dem Schiff ist kei­ne: Miß­trau­en unter­ein­an­der, Bes­ser­wis­se­rei, Gerüch­te­kü­che und Beschul­di­gun­gen, und irgend­wann, da sei Lenin schon über Bord gekippt wor­den, lang­te man in einem Hafen an. Aus Anouk wird die welt­be­rühm­te Archi­tek­tin Per­le­man-Jacob. Sie soll als Figur an die Wie­ner Archi­tek­tin Mar­ga­re­te Schüt­te-Lihotz­ky ange­lehnt sein, eine über­zeug­te Kom­mu­nis­tin, die in den frü­hen drei­ßi­ger Jah­ren unter Sta­lin in Mos­kau arbei­te­te, spä­ter im KZ saß und berühmt war für ihre Inno­va­tio­nen in Sachen ratio­na­li­sier­ter Wohn­kü­che und sozia­lem Woh­nungs­bau von der Stange.

Ein Ver­wirr­spiel, aber im Vor­bei­ge­hen wer­den mit der Sou­ve­rä­ni­tät der uralten Dame, die kei­nen Wider­spruch dul­det, The­men ange­ris­sen wie der »jüdi­sche Bol­sche­wis­mus«, Ter­ror durch Will­kür, ewi­ge Angst vor den Geis­tern der Ver­gan­gen­heit und Lebens­ge­heim­nis. Das sind Bil­der, die man so schnell nicht mehr aus dem Kopf krie­gen wird. Bloß will man ja immer ein Gan­zes mit­neh­men, die Moral von der Geschicht’ kapiert haben. Ist in die­sem Fall nicht möglich.

Anouk Per­le­man-Jacob sagt zum Schluß: »Den Rest kön­nen Sie sich zusam­men­rei­men.« Viel­leicht hat Köhl­mei­er das ja gemacht. Auf­ge­schrie­ben hat er es nicht mehr. Jedoch sind die Tei­le, die er auf­ge­schrie­ben hat, meis­ter­haft erzählt, und allei­ne das recht­fer­tigt die Lektüre.

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Micha­el Köhl­mei­er: Das Phi­lo­so­phen­schiff. Roman, Mün­chen: Han­ser 2024. 224 S., 24 €

 

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Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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