Es geht in Köhlmeiers neuem Roman um die Ausweisung jener Teile der russischen Intelligenzija aus der frühen Sowjetunion, die zur Kooperation nicht bereit, aber nicht so offen widerständig waren, daß man sie lieber gleich umbrachte.
Die vierzehnjährige Anouk wird mit ihren Eltern auf ein Schiff gebracht, das in See sticht und irgendwo vor Finnland oder Schweden vor sich hindümpelt, bis es einen Hafen anlaufen darf. »Philosophenschiffe« nannte man diese Schiffe, ihr Einsatz zum Zwecke der Ausbürgerung ist historisch in wenigstens zwei Fällen verbürgt. Iwan Iljin etwa war auf einem dieser Schiffe.
Über die Wochen an Bord möchte die nun hundertjährige Anouk Perleman-Jacob berichten, und sie sucht sich für die Aufzeichnung einen Schriftsteller aus, Köhlmeier, dem sie unverblümt den Grund für ihr Wahl eröffnet: Er habe »einen guten Ruf, aber auch einen etwas windigen. Ich weiß, daß Sie Dinge erfinden und dann behaupten, sie seien wahr.«
Das ist eine Leseanleitung: Wir wissen nun, daß manches von dem, was wir lesen werden, den Tatsachen entspricht (die Existenz der Philosophenschiffe beispielsweise), anderes hingegen nicht. So trifft Anouk auf dem verbotenen Oberdeck des Schiffes auf den kranken, in einem Sessel lesenden und grübelnden Lenin und besucht ihn nun Tag für Tag.
Ein Kunstgriff, ein atemberaubender Einfall: Das Mädchen muß eine lange, glitschige Eisenleiter hinauf zu Lenin und wieder hinab zu den Eltern steigen, denn oben kann sie nicht bleiben, aber bloß unten auch nicht. Was lehrt Lenin? Die Gespräche sind unbefangen, denn Lenin strahlt keine Macht mehr aus. Er will sich erklären. Daraus entstehen Dialoge über die Macht und den Terror, über Brutalität, Rücksichtslosigkeit, Geschichtsphilosophie und die Logik des revolutionären Ablaufs. Die Gespräche sind auch Selbstgespräche, denn Lenin glaubt nicht recht, daß dieses Mädchen, das ihn besucht, tatsächlich existiert. Aber natürlich ist es Lenin, der nie auf einem dieser Schiffe war. Das hat Köhlmeier bloß erfunden.
Was ist wahr? Im Rußland-Heft der Sezession hat Jekaterina Iwanowa in ihrem Aufsatz über die russische Literatur unter anderem den Schriftsteller Boris Sawinkow aufgeführt, der Revolutionär und Attentäter war und dennoch 1925 hingerichtet wurde. Anouk Perleman-Jacob nun berichtet, sie sei sich sicher, daß man ihre Eltern deshalb ausgewiesen habe, weil sie Sawinkow kannten, und zwar aus der gemeinsamen Zeit in Paris her. Auch den Lyriker Nikolai Gumiljow kannte man aus Paris, er wurde noch früher als Sawinkow hingerichtet, schon 1921. Man hatte ihn der Beteiligung an einem Attentatsversuch beschuldigt.
Anouk erzählt viel von früher, von ihren Eltern und deren Bekannten, von denen die einen umgebracht wurden, die anderen mitmachten, die nächsten verschwanden und die wenigsten davonkamen. Das ist eines der wiederkehrenden Motive: Warum kamen die Eltern und sie davon? Es klopfte, man hatte ein Stündchen Zeit, um zu packen, der Vater, klug, ließ die Devisen in der Wohnung liegen, er habe gehört, man werde erschossen, wenn man welche bei sich trage. Am Kai: Warteschlangen, und lapidar berichtet die Hundertjährige, daß die meisten es nicht aufs Schiff geschafft hätten, sondern abgeführt worden seien, manche davon gleich hinter einen Lattenzaun, und dort habe man sie erschossen. »Devisen«, denkt Anouk.
Die Schicksalsgemeinschaft auf dem Schiff ist keine: Mißtrauen untereinander, Besserwisserei, Gerüchteküche und Beschuldigungen, und irgendwann, da sei Lenin schon über Bord gekippt worden, langte man in einem Hafen an. Aus Anouk wird die weltberühmte Architektin Perleman-Jacob. Sie soll als Figur an die Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky angelehnt sein, eine überzeugte Kommunistin, die in den frühen dreißiger Jahren unter Stalin in Moskau arbeitete, später im KZ saß und berühmt war für ihre Innovationen in Sachen rationalisierter Wohnküche und sozialem Wohnungsbau von der Stange.
Ein Verwirrspiel, aber im Vorbeigehen werden mit der Souveränität der uralten Dame, die keinen Widerspruch duldet, Themen angerissen wie der »jüdische Bolschewismus«, Terror durch Willkür, ewige Angst vor den Geistern der Vergangenheit und Lebensgeheimnis. Das sind Bilder, die man so schnell nicht mehr aus dem Kopf kriegen wird. Bloß will man ja immer ein Ganzes mitnehmen, die Moral von der Geschicht’ kapiert haben. Ist in diesem Fall nicht möglich.
Anouk Perleman-Jacob sagt zum Schluß: »Den Rest können Sie sich zusammenreimen.« Vielleicht hat Köhlmeier das ja gemacht. Aufgeschrieben hat er es nicht mehr. Jedoch sind die Teile, die er aufgeschrieben hat, meisterhaft erzählt, und alleine das rechtfertigt die Lektüre.
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Michael Köhlmeier: Das Philosophenschiff. Roman, München: Hanser 2024. 224 S., 24 €
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