Der Großmeister und Norweger Knut Hamsun empfand Absturz als »Geniestreich und Riesenwerk«. Er beneidete den dänischen Kollegen: »Ich selbst habe Bücher geschrieben, durchaus, aber nun fühle ich mich gedemütigt, kein Buch ist wie Ihres.« Das Werk, 1930 erschienen, ist der Klasse von Proust, Thomas Mann, Döblin und Musil gleichformatig zuzuordnen. Es hat bis heute nichts von seiner Kraft verloren. Der Autor dokumentiert in ihm den eigenen Absturz als Bohemien.
Alkohol ist ein Topos der Moderne, und Trinkerromane gibt es eine Menge, zumal Literaten, an Entfremdung krankend, oft im Alkohol Zuflucht finden. Tatsächlich bietet dieser Stoff trügerischen Schutz und Inspiration – um den Preis eines mephistophelischen Deals, bei dem man letztlich im Stich gelassen wird. Denn Alkohol ist flüchtig, als Spiritus, also als Geist.
Ole Jastrau, erfolgreicher Rezensent beim Dagbladet, gibt sich ihm hin. Wir begegnen dem Helden zunächst in dieser lichten bürgerlichen Welt, die es so durchsonnt wohl nur in Skandinavien gibt. Alles stimmt: eine antiquarisch möblierte Wohnung, die so schöne wie tüchtige Frau Johanne, der Sohn Oluf. Bürgerliches Glück mit Rokoko-Stühlen. Aber von Anfang an nimmt sich Jastrau fremd darin aus – allzu beleibt, dazu sein gelbliches Gesicht und die »Mongolenaugen«. Er scheint trotz seines Talents für anderes prädestiniert. Und er legt auf eine bürgerliche Tugend gar keinen Wert – den Erfolg.
Gegen Ende des Romans weiß er, was er ist, und er eröffnet es einer Bewunderin, die ihn als Literaturkritiker schätzt. »Nein, das bin ich ganz sicher nicht. Ich bin ein Trinker.« Die Dame will es nicht glauben, obwohl Jastrau, morgens stets entzügig, beim gemeinsamen Frühstück schon das zweite Bier kippt. »Ich will in mir selbst ruhen«, antwortete er, »und mir ansehen, was aus der Tiefe auftaucht. […] Alkohol ist der einzige Ersatz für Religion, lassen Sie es uns so ausdrücken … zum Spaß? […] Ich will in aller Ruhe dasitzen, trinken und mir gleichzeitig einbilden, daß ich nach etwas strebe.«
Gerade nicht die Geistreicheleien des Feuilletons, gerade nicht das Parlieren mit Bonmots in der gebildeten Gesellschaft, gerade nicht die sonnendurchfluteten Alleen Kopenhagens, nein, Jastrau sucht das Dämmerlicht der »Bar des Aristides«, wo immer schon Abend ist und wo er seinem eigentlichen Mentor, dem »ewigen Kjaer«, begegnet, einem äußerlich so gepflegten wie aus freien Stücken verlorenen und vielleicht heiligen Trinker, der gleich Jastrau im Alkohol seine unio mystica findet und an Thomas Manns Mynheer Peeperkorn erinnert, von dem Hans Castorp im Zauberberg so beeindruckt ist, obwohl der Mann keinen klaren Satz sprechen kann. Nur bedarf Mystik der klaren Sprache eben nicht, schon gar nicht die Mystik des Alkohols.
Zwar bricht Jastrau herausgeputzt zu einer feinen Abendgesellschaft auf, aber am nächsten Morgen treibt er besudelt durch die Stadt; seine Ehe ist hin, und auf seiner gestern noch makellos weißen Hemdbrust steht gekritzelt »Danke fürs Bier!« Zwar trinken auch alle anderen, sie legen nur nicht so konsequent vom Ufer der Bürgerlichkeit ab. Jastrau hingegen tritt konsequent in das Abenteuer Alkohol ein, das auch eine Gottsuche ist, und tatsächlich klettert er nachts, sich die Hose zerreißend, über den Eisenzaun einer Kirche, um so Jesus zu begegnen, an den er nüchtern nicht glaubt.
Die antibürgerliche Attitüde solchen Lebenswandels wird verstärkt vom bunten Gelichter der dänischen Goldenen Zwanziger, der brølende tyvere, mit dem er sich umgibt – kommunistische Möchtegernrevolutionäre, deren Kraft und Rede nur bis zum Grund der letzten Flasche reichen, syphilitische Damen in reizender Morbidität und all die illustren Käuze, die Kneipen und Bars bevölkern. Dionysische Befreiung um den Preis des Absturzes, Walpurgisnächte, von denen nichts bleibt.
Aber dagegen hilft zügiges Nachschenken, und schon laufen die wundervollen Illusionen weiter. Nein, Ole Jastrau ist nicht verzweifelt. Er will diesen Lebenswandel genau so. Im Spiegel, einem der Leitmotive des Romans, erblickt er seinen Verfall: »Ecce homo!« Als er seine Stelle beim Dagbladet kündigt, Garant nicht nur des Einkommens, sondern gleichfalls seiner Reputation, ist er sogar kurz mal nüchtern. Er verwirft seine Existenz bewußt. Und fühlt sich damit aller Zwänge ledig.
Überdies egalisiert der Alkohol die Klassengrenzen. Der Hausmeister, der Jastrau die in einer Suff-Prügelei zertrümmerte Glastür der Wohnung mit Brettern vernagelt, urteilt: »Und ich hatte gedacht, Sie wären so’n ganz Vornehmer, und dann sind Sie ein Mensch. Ein Mensch.« Vermutlich ist das Kulturbildende am Alkohol, daß er radikal dabei hilft, alle Kultur destruktiv zu verneinen. Er öffnet eine geordnete Biographie und löst sie auf. Das, wovor allenthalben gewarnt wird, stellt für Jastrau, diesen Untergeher, eine Rettung dar. Hinaus ins Offene, das heißt für ihn: Rein in die Bar!
Jastraus Spitzname Jazz verkürzt seinen Nachnamen. Und Jazz begleitet die Ekstase der Selbstauflösung: »Der Jazz trug seine Worte. Er hielt sie für Wahrheit. Es gab ein Schicksal, ein großes Schicksal in seinem Leben. […] Das war die Freiheit, die er suchte, diese unendliche Seele. Aus diesem Grund war all dies geschehen. Jetzt wußte er es. Der Jazz erzählte es ihm.«
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Tom Kristensen: Absturz, Berlin: Guggolz 2023. 655 S., 28 €
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