Tom Kristensen: Absturz

Für die an literarischen Großmeistern reiche erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat man Tom Kristensen (1893 – 1974) kaum auf dem Schirm, andere skandinavische Schriftsteller aber durchaus.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Der Groß­meis­ter und Nor­we­ger Knut ­Ham­sun emp­fand Absturz als »Genie­streich und Rie­sen­werk«. Er benei­de­te den däni­schen Kol­le­gen: »Ich selbst habe Bücher geschrie­ben, durch­aus, aber nun füh­le ich mich gede­mü­tigt, kein Buch ist wie Ihres.« Das Werk, 1930 erschie­nen, ist der Klas­se von Proust, Tho­mas Mann, Döb­lin und Musil gleich­for­ma­tig zuzu­ord­nen. Es hat bis heu­te nichts von sei­ner Kraft ver­lo­ren. Der Autor doku­men­tiert in ihm den eige­nen Absturz als Bohemien.

Alko­hol ist ein Topos der Moder­ne, und Trin­ker­ro­ma­ne gibt es eine Men­ge, zumal Lite­ra­ten, an Ent­frem­dung kran­kend, oft im Alko­hol Zuflucht fin­den. Tat­säch­lich bie­tet die­ser Stoff trü­ge­ri­schen Schutz und Inspi­ra­ti­on – um den Preis eines mephis­to­phe­li­schen Deals, bei dem man letzt­lich im Stich gelas­sen wird. Denn Alko­hol ist flüch­tig, als Spi­ri­tus, also als Geist.

Ole Jastrau, erfolg­rei­cher Rezen­sent beim Dag­bla­det, gibt sich ihm hin. Wir begeg­nen dem Hel­den zunächst in die­ser lich­ten bür­ger­li­chen Welt, die es so durch­sonnt wohl nur in Skan­di­na­vi­en gibt. Alles stimmt: eine anti­qua­risch möblier­te Woh­nung, die so schö­ne wie tüch­ti­ge Frau Johan­ne, der Sohn Oluf. Bür­ger­li­ches Glück mit Roko­ko-Stüh­len. Aber von Anfang an nimmt sich Jastrau fremd dar­in aus – all­zu beleibt, dazu sein gelb­li­ches Gesicht und die »Mongolen­augen«. Er scheint trotz sei­nes Talents für ande­res prä­de­sti­niert. Und er legt auf eine bür­ger­li­che Tugend gar kei­nen Wert – den Erfolg.

Gegen Ende des Romans weiß er, was er ist, und er eröff­net es einer Bewun­de­rin, die ihn als Lite­ra­tur­kri­ti­ker schätzt. »Nein, das bin ich ganz sicher nicht. Ich bin ein Trin­ker.« Die Dame will es nicht glau­ben, obwohl Jastrau, mor­gens stets ent­zü­gig, beim gemein­sa­men Früh­stück schon das zwei­te Bier kippt. »Ich will in mir selbst ruhen«, ant­wor­te­te er, »und mir anse­hen, was aus der Tie­fe auf­taucht. […] Alko­hol ist der ein­zi­ge Ersatz für Reli­gi­on, las­sen Sie es uns so aus­drücken … zum Spaß? […] Ich will in aller Ruhe dasit­zen, trin­ken und mir gleich­zei­tig ein­bil­den, daß ich nach etwas strebe.«

Gera­de nicht die Geist­rei­che­lei­en des Feuil­le­tons, gera­de nicht das Par­lie­ren mit Bon­mots in der gebil­de­ten Gesell­schaft, gera­de nicht die son­nen­durch­flu­te­ten Alleen Kopen­ha­gens, nein, ­Jastrau sucht das Däm­mer­licht der »Bar des Aris­ti­des«, wo immer schon Abend ist und wo er sei­nem eigent­li­chen Men­tor, dem »ewi­gen Kja­er«, begeg­net, einem äußer­lich so gepfleg­ten wie aus frei­en Stü­cken ver­lo­re­nen und viel­leicht hei­li­gen Trin­ker, der gleich Jastrau im Alko­hol sei­ne unio mys­ti­ca fin­det und an Tho­mas Manns Myn­heer Pee­per­korn erin­nert, von dem Hans Cas­torp im Zau­ber­berg so beein­druckt ist, obwohl der Mann kei­nen kla­ren Satz spre­chen kann. Nur bedarf Mys­tik der kla­ren Spra­che eben nicht, schon gar nicht die Mys­tik des Alkohols.

Zwar bricht Jastrau her­aus­ge­putzt zu einer fei­nen Abend­ge­sell­schaft auf, aber am nächs­ten Mor­gen treibt er besu­delt durch die Stadt; sei­ne Ehe ist hin, und auf sei­ner ges­tern noch makel­los wei­ßen Hemd­brust steht gekrit­zelt »Dan­ke fürs Bier!« Zwar trin­ken auch alle ande­ren, sie legen nur nicht so kon­se­quent vom Ufer der Bür­ger­lich­keit ab. Jastrau hin­ge­gen tritt kon­se­quent in das Aben­teu­er Alko­hol ein, das auch eine Gott­su­che ist, und tat­säch­lich klet­tert er nachts, sich die Hose zer­rei­ßend, über den Eisen­zaun einer Kir­che, um so Jesus zu begeg­nen, an den er nüch­tern nicht glaubt.

Die anti­bür­ger­li­che Atti­tü­de sol­chen Lebens­wan­dels wird ver­stärkt vom bun­ten Gelich­ter der däni­schen Gol­de­nen Zwan­zi­ger, der brølen­de tyve­re, mit dem er sich umgibt – kom­mu­nis­ti­sche Möch­te­gern­re­vo­lu­tio­nä­re, deren Kraft und Rede nur bis zum Grund der letz­ten Fla­sche rei­chen, syphi­li­ti­sche Damen in rei­zen­der Mor­bi­di­tät und all die illus­tren Käu­ze, die Knei­pen und Bars bevöl­kern. Dio­ny­si­sche Befrei­ung um den Preis des Abstur­zes, Wal­pur­gis­näch­te, von denen nichts bleibt.

Aber dage­gen hilft zügi­ges Nach­schen­ken, und schon lau­fen die wun­der­vol­len Illu­sio­nen wei­ter. Nein, Ole Jastrau ist nicht ver­zwei­felt. Er will die­sen Lebens­wan­del genau so. Im Spie­gel, einem der Leit­mo­ti­ve des Romans, erblickt er sei­nen Ver­fall: »Ecce homo!« Als er sei­ne Stel­le beim Dag­bla­det kün­digt, Garant nicht nur des Ein­kom­mens, son­dern gleich­falls sei­ner Repu­ta­ti­on, ist er sogar kurz mal nüch­tern. Er ver­wirft sei­ne Exis­tenz bewußt. Und fühlt sich damit aller Zwän­ge ledig.

Über­dies ega­li­siert der Alko­hol die Klas­sen­gren­zen. Der Haus­meis­ter, der Jastrau die in einer Suff-Prü­ge­lei zer­trüm­mer­te Glas­tür der Woh­nung mit Bret­tern ver­na­gelt, urteilt: »Und ich hat­te gedacht, Sie wären so’n ganz Vor­neh­mer, und dann sind Sie ein Mensch. Ein Mensch.« Ver­mut­lich ist das Kul­tur­bil­den­de am Alko­hol, daß er radi­kal dabei hilft, alle Kul­tur destruk­tiv zu ver­nei­nen. Er öff­net eine geord­ne­te Bio­gra­phie und löst sie auf. Das, wovor allent­hal­ben gewarnt wird, stellt für Jastrau, die­sen Unter­ge­her, eine Ret­tung dar. Hin­aus ins Offe­ne, das heißt für ihn: Rein in die Bar!

Jastraus Spitz­na­me Jazz ver­kürzt sei­nen Nach­na­men. Und Jazz beglei­tet die Eksta­se der Selbst­auf­lö­sung: »Der Jazz trug sei­ne Wor­te. Er hielt sie für Wahr­heit. Es gab ein Schick­sal, ein gro­ßes Schick­sal in sei­nem Leben. […] Das war die Frei­heit, die er such­te, die­se unend­li­che See­le. Aus die­sem Grund war all dies gesche­hen. Jetzt wuß­te er es. Der Jazz erzähl­te es ihm.«

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Tom Kris­ten­sen: Absturz, Ber­lin: Gug­golz 2023. 655 S., 28 €

 

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Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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