In ihnen formiert sich Protest, der sich in kurzzeitigen virtuellen Blasen bildet und von heute auf morgen verschwindet, ohne grundsätzliche Veränderungen herbeigeführt zu haben. Der Autor des vorliegenden Buches wirft die These in den Raum, daß sich die Gesellschaften seit der Finanzkrise einerseits immer stärker politisieren, diese Entwicklungen jedoch von zunehmend fragmentierten Gruppen ohne institutionelle Bindungen ausgehen und daher ohne Wirkmacht bleiben. Doch ist das so?
Entlang der Achsen »Institutionalisierung« und »Politisierung« ergeben sich, laut dem Autor, in einem Diagramm vier Quadranten, wobei jeweils ein Feld für eine politische Epoche steht. Das im Mittelpunkt der Betrachtung stehende Zeitalter der »Hyperpolitik« beschreibt der Autor als äußerlich muskulös, aber innerlich hohl. Das liege, so Jäger, an der verlorengegangenen Bindung der Gesellschaften an Institutionen wie Gewerkschaften, Kirchen und Vereine.
So weit, so bekannt. Wie Benedikt Kaiser auf der Rechten sieht auch Jäger auf der Linken eine sich entwickelnde Dynamik der politischen Mehrfachkrisen, einerseits begleitet durch das symptomatische Aufkommen rechter und linker populistischer Bewegungen und Parteien seit dem Ende der 2000er, andererseits eine tragende Atmosphäre eines gesellschaftlich-politisch verdunkelten Sichtfelds – Planungsunsicherheit und ein Sich-Weiterschleppen von Krisenherd zu Krisenherd bzw. von Empörung zu Empörung.
Wenig überraschend an der Betrachtung Jägers ist das Fehlen der Migrations- und der Demographiekrise, wohingegen der Neoliberalismus und die Umweltkrise freilich Teile jenes Krisenbündels sind. Das sind ohne Frage veritable Punkte, doch offenbart sich der typisch linke Wesenszug, die Dinge eher selektiv zu betrachten. Die aktuelle Lage, so Jäger, ist eher eine diffuse Stimmungslage als ein stiftender Politikstil mit konkret abgeleiteten Programmen.
Es bäumen sich von Zeit zu Zeit verschiedenste Interessengruppen auf, wobei diese Formationen beanspruchen, ihren gruppenspezifischen, meist identitären Anliegen Geltung zu verschaffen. Aufgeführt werden »Metoo«, die »Black lives matter«-Bewegung« oder die jüngeren »LGTBQ+-xy«-Formate. Diese sind allesamt Spielarten der »Woke Culture« – das immerhin erkennt der Autor und ordnet sie ein als fundierende Elemente des heutigen Zeitgeists.
Nun folgt jedoch keine Grundsatzkritik am Linksidentitarismus, der den Mainstream der Medien- und Unternehmenswelt weltweit stark beeinflußt. Somit ist die Ausgangsthese, nach der sozialer Protest folgenlos bleibt, nicht haltbar. Im Gegenteil forcieren globale Unternehmen wie der weltweit größte Vermögensverwalter BlackRock durch ihre Richtlinien die Implementierung der bunten Agenda in den verbundenen Managementetagen. Der Begriff »Woke Capital« sollte einem Ideenhistoriker durchaus ein Begriff sein – sehr schade, daß offenkundige Aspekte ignoriert werden.
Jägers Analyse hätte durchaus glänzen können, und sie vermag es an einigen Stellen auch, etwa wenn literaturgeschichtliche und popkulturelle Entwicklungen zur Unterfütterung der These ins Feld geführt werden. So lassen sich laut Jäger entlang dem werkgeschichtlichen Beispiel Michel Houellebecq die Bruchstellen der jüngeren politischen Geschichte nachvollziehen. Dies wäre ein interessanter Ansatz – doch entschied sich der Autor letztlich für die Methode der einäugigen Analyse.
Abschließend soll die Überwindung der Polarisierung innerhalb der westlichen Gesellschaften durch die Idee einer Revitalisierung »archimedischer Orte« zum Ausdruck gebracht werden. Die allgemeine Lethargie gilt es gemäß Jäger zu beseitigen, indem die Menschen in die gesellschaftsprägenden Organisationen zurückkehren, um sich vom Neoliberalismus und seinen Dilettanten in den politischen Führungsetagen zu emanzipieren.
Obwohl zwei Sätze vorher analysiert wird, daß (den amerikanischen Wirtschaftshistoriker Adam Tooze zitierend) eine Arbeiterklasse im klassischen und kohäsiven Sinne längst inexistent ist, kommt er seltsamerweise dennoch zu diesem hoffnungsstarken Schluß. Die Mobilisierungskontexte, die das Land benötigt, um die Leute in Scharen zurück in die linken, etablierten Institutionen zu treiben – daran mag der Autor am Ende seines Textes selbst nicht so recht glauben, wenn er meint, daß es wohl naiv sei, anzunehmen, daß vom globalistischen Themenbaum des »Green Capitalism« (Stichwort »Green New Deal«) breite Mobilisierungsimpulse ausgehen könnten.
Der gewählte Ansatz einer epochenweisen Sicht unter der Schablone des Zweiachsers »Institutionalisierung / Politisierung« ist dann eine brauchbare Methode, wenn sich der Blick auf die Zusammenhänge schonungslos entfalten würde. Auch der Punkt, daß es eine Überwindung der geringen Institutionalisierung brauche, will eine Interessengruppe politische Wirkmächtigkeit entwickeln, stellt keine Innovation dar. Leider bleibt der Essay unter seinen Möglichkeiten, ist etwas selbstverloren und in der kindischen Hoffnung verfaßt, daß die dominanten Formen der Kulturmehrheiten, die letzten Endes unterdrückend wirken, doch in irgendeiner Weise stiftend sein könnten.
Ein sympathischer Band für die Linke, weil er die gewohnten halben Wahrheiten bedient und bestätigt, ein unbrauchbarer für die Rechte, weil er dem unvermeidlichen Anspruch des unverstellten Blickes nicht genügt.
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Anton Jäger: Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen, Berlin: Suhrkamp 2023. 136 S., 16 €
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