Anton Jäger: Hyperpolitik

von Kevin Naumann --

Die westliche Welt und ihre Gesellschaften sind polarisiert und taumeln von einer Krise zur nächsten.

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In ihnen for­miert sich Pro­test, der sich in kurz­zei­ti­gen vir­tu­el­len Bla­sen bil­det und von heu­te auf mor­gen ver­schwin­det, ohne grund­sätz­li­che Ver­än­de­run­gen her­bei­ge­führt zu haben. Der Autor des vor­lie­gen­den Buches wirft die The­se in den Raum, daß sich die Gesell­schaf­ten seit der Finanz­kri­se einer­seits immer stär­ker poli­ti­sie­ren, die­se Ent­wick­lun­gen jedoch von zuneh­mend frag­men­tier­ten Grup­pen ohne insti­tu­tio­nel­le Bin­dun­gen aus­ge­hen und daher ohne Wirk­macht blei­ben. Doch ist das so?

Ent­lang der Ach­sen »Insti­tu­tio­na­li­sie­rung« und »Poli­ti­sie­rung« erge­ben sich, laut dem Autor, in einem Dia­gramm vier Qua­dran­ten, wobei jeweils ein Feld für eine poli­ti­sche Epo­che steht. Das im Mit­tel­punkt der Betrach­tung ste­hen­de Zeit­al­ter der »Hyper­po­li­tik« beschreibt der Autor als äußer­lich mus­ku­lös, aber inner­lich hohl. Das lie­ge, so Jäger, an der ver­lo­ren­ge­gan­ge­nen Bin­dung der Gesell­schaf­ten an Insti­tu­tio­nen wie Gewerk­schaf­ten, Kir­chen und Vereine.

So weit, so bekannt. Wie Bene­dikt Kai­ser auf der Rech­ten sieht auch Jäger auf der Lin­ken eine sich ent­wi­ckeln­de Dyna­mik der poli­ti­schen Mehr­fach­kri­sen, einer­seits beglei­tet durch das sym­pto­ma­ti­sche Auf­kom­men rech­ter und lin­ker popu­lis­ti­scher Bewe­gun­gen und Par­tei­en seit dem Ende der 2000er, ande­rer­seits eine tra­gen­de Atmo­sphä­re eines gesell­schaft­lich-poli­tisch ver­dun­kel­ten Sicht­felds – Pla­nungs­un­si­cher­heit und ein Sich-Wei­ter­schlep­pen von Kri­sen­herd zu Kri­sen­herd bzw. von Empö­rung zu Empörung.

Wenig über­ra­schend an der Betrach­tung ­Jägers ist das Feh­len der Migra­ti­ons- und der Demo­gra­phie­kri­se, wohin­ge­gen der Neo­li­be­ra­lis­mus und die Umwelt­kri­se frei­lich Tei­le jenes Kri­sen­bün­dels sind. Das sind ohne Fra­ge veri­ta­ble Punk­te, doch offen­bart sich der typisch lin­ke Wesens­zug, die Din­ge eher selek­tiv zu betrach­ten. Die aktu­el­le Lage, so Jäger, ist eher eine dif­fu­se Stim­mungs­la­ge als ein stif­ten­der Poli­tik­stil mit kon­kret abge­lei­te­ten Programmen.

Es bäu­men sich von Zeit zu Zeit ver­schie­dens­te Inter­es­sen­grup­pen auf, wobei die­se For­ma­tio­nen bean­spru­chen, ihren grup­pen­spe­zi­fi­schen, meist iden­ti­tä­ren Anlie­gen Gel­tung zu ver­schaf­fen. Auf­ge­führt wer­den »Metoo«, die »Black lives matter«-Bewegung« oder die jün­ge­ren »LGTBQ+-xy«-Formate. Die­se sind alle­samt Spiel­ar­ten der »Woke Cul­tu­re« – das immer­hin erkennt der Autor und ord­net sie ein als fun­die­ren­de Ele­men­te des heu­ti­gen Zeitgeists.

Nun folgt jedoch kei­ne Grund­satz­kri­tik am Links­iden­ti­ta­ris­mus, der den Main­stream der Medi­en- und Unter­neh­mens­welt welt­weit stark beein­flußt. Somit ist die Aus­gangs­the­se, nach der sozia­ler Pro­test fol­gen­los bleibt, nicht halt­bar. Im Gegen­teil for­cie­ren glo­ba­le Unter­neh­men wie der welt­weit größ­te Ver­mö­gens­ver­wal­ter Black­Rock durch ihre Richt­li­ni­en die Imple­men­tie­rung der bun­ten Agen­da in den ver­bun­de­nen Management­etagen. Der Begriff »Woke Capi­tal« soll­te einem Ideen­his­to­ri­ker durch­aus ein Begriff sein – sehr scha­de, daß offen­kun­di­ge Aspek­te igno­riert werden.

Jägers Ana­ly­se hät­te durch­aus glän­zen kön­nen, und sie ver­mag es an eini­gen Stel­len auch, etwa wenn lite­ra­tur­ge­schicht­li­che und pop­kul­tu­rel­le Ent­wick­lun­gen zur Unter­füt­te­rung der The­se ins Feld geführt wer­den. So las­sen sich laut Jäger ent­lang dem werk­ge­schicht­li­chen Bei­spiel Michel Hou­el­le­becq die Bruch­stel­len der jün­ge­ren poli­ti­schen Geschich­te nach­voll­zie­hen. Dies wäre ein inter­es­san­ter Ansatz – doch ent­schied sich der Autor letzt­lich für die Metho­de der ein­äu­gi­gen Analyse.

Abschlie­ßend soll die Über­win­dung der Pola­ri­sie­rung inner­halb der west­li­chen Gesell­schaf­ten durch die Idee einer Revi­ta­li­sie­rung »archi­me­di­scher Orte« zum Aus­druck gebracht wer­den. Die all­ge­mei­ne Lethar­gie gilt es gemäß Jäger zu besei­ti­gen, indem die Men­schen in die gesell­schafts­prä­gen­den Orga­ni­sa­tio­nen ­zurück­keh­ren, um sich vom Neo­li­be­ra­lis­mus und sei­nen Dilet­tan­ten in den poli­ti­schen Füh­rungs­eta­gen zu emanzipieren.

Obwohl zwei Sät­ze vor­her ana­ly­siert wird, daß (den ame­ri­ka­ni­schen Wirt­schafts­his­to­ri­ker Adam Too­ze zitie­rend) eine Arbei­ter­klas­se im klas­si­schen und kohä­si­ven Sin­ne längst inexis­tent ist, kommt er selt­sa­mer­wei­se den­noch zu die­sem hoff­nungs­star­ken Schluß. Die Mobi­li­sie­rungs­kon­tex­te, die das Land benö­tigt, um die Leu­te in Scha­ren zurück in die lin­ken, eta­blier­ten Insti­tu­tio­nen zu trei­ben – dar­an mag der Autor am Ende sei­nes Tex­tes selbst nicht so recht glau­ben, wenn er meint, daß es wohl naiv sei, anzu­neh­men, daß vom glo­ba­lis­ti­schen The­men­baum des »Green Capi­ta­lism« (Stich­wort »Green New Deal«) brei­te Mobi­li­sie­rungs­im­pul­se aus­ge­hen könnten.

Der gewähl­te Ansatz einer epo­chen­wei­sen Sicht unter der Scha­blo­ne des Zwei­achsers »Insti­tu­tio­na­li­sie­rung / Poli­ti­sie­rung« ist dann eine brauch­ba­re Metho­de, wenn sich der Blick auf die Zusam­men­hän­ge scho­nungs­los ent­fal­ten wür­de. Auch der Punkt, daß es eine Über­win­dung der gerin­gen Insti­tu­tio­na­li­sie­rung brau­che, will eine Inter­es­sen­grup­pe poli­ti­sche Wirk­mäch­tig­keit ent­wi­ckeln, stellt kei­ne Inno­va­ti­on dar. Lei­der bleibt der Essay unter sei­nen Mög­lich­kei­ten, ist etwas selbst­ver­lo­ren und in der kin­di­schen Hoff­nung ver­faßt, daß die domi­nan­ten For­men der Kul­tur­mehr­hei­ten, die letz­ten Endes unter­drü­ckend wir­ken, doch in irgend­ei­ner Wei­se stif­tend sein könnten.

Ein sym­pa­thi­scher Band für die Lin­ke, weil er die gewohn­ten hal­ben Wahr­hei­ten bedient und bestä­tigt, ein unbrauch­ba­rer für die Rech­te, weil er dem unver­meid­li­chen Anspruch des unver­stell­ten Bli­ckes nicht genügt.

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Anton Jäger: Hyper­po­li­tik. Extre­me Poli­ti­sie­rung ohne poli­ti­sche Fol­gen, Ber­lin: Suhr­kamp 2023. 136 S., 16 €

 

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