Letzterer dürfte Sezession-Lesern als unermüdlicher Kommentator der Schriften Nicolás Goméz Dávilas (auch im vorliegenden Band findet sich dazu ein interessanter Aufsatz: Dávila ist demokratischer, als man glauben mag) ein Begriff sein, ersterer sicher noch nicht.
Das könnte sich nach der Lektüre des aktuellen Lepanto-Almanachs ändern. Doch zunächst zur Anlage dieses Werkes: Es ist wesentlich mehr als ein fachwissenschaftlicher (theologischer, germanistischer) Sammelband, versammelt es doch nicht nur Aufsätze zu den jeweils ins Zentrum gestellten Themen (Band 1: Reinhold Schneider, Band 2: Poesie, Band 3: Bildende Kunst, in diesem Band: Gertrud von le Fort), sondern enthält Rezensionen, Texte zu aktuellen Themen in christlichem Licht (Transhumanismus, Propaganda usw.) und Autorenporträts, die man am liebsten ausschneiden und zu einem kleinen Nachschlagewerk zusammenbinden würde, sowie literarische Kostproben.
Der Lepanto-Almanach versteht sich in der rückblickenden Nachfolge der großen christlichen Zeitschriften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Hochland und Der Brenner. Entsprechend nehmen sich die Aufsätze einen angemessen hohen Orientierungspunkt und Zeit zum Luftholen, um ihren Gegenständen gerecht werden zu können, was in anderen konservativen Publikationen oft journalistischer Knappheit oder politischer Vereindeutigungsnot zum Opfer fallen muß.
Man braucht kein Literaturwissenschaftler oder Theologe zu sein, um sich für diesen Almanach zu erwärmen, denn jargonhafte Theoriesprache entfällt komplett. Natürlich ist so ein dickes Buch keine Massenpublikation. Ich glaube, das Geheimnis, weshalb dieser Almanach so gut lesbar ist, liegt unter anderem darin, daß die Autoren die Sprache und Denkweise der von ihnen verehrten Gewährsleute erlernt haben – von Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz wissen das schon manche, doch die übrigen Beiträger stehen ihr kaum nach.
»Traditionshermeneutik« nennt Christoph Fackelmann den geisteswissenschaftlichen Ansatz, der hier verfolgt wird. Die Ausdrucksweise, die Intention und die einfühlende Überlieferungstreue von beispielsweise Werner Bergengruen, Reinhold Schneider, Josef Pieper oder eben Gertrud von le Fort, C. S. Lewis oder Kardinal Newman sind nun einmal ästhetisch schön! Kein Vergleich mit sozialgeschichtlicher oder dekonstruktivistischer Literaturwissenschaft, kein Vergleich mit ökumenisch-pluralistischer oder »Critical-trust«-Theologie.
Von daher möchte ich Fackelmanns zentralen Aufsatz »Holzwege der Literaturgeschichte?«, den längsten im hier angezeigten Band, hervorheben. Inhaltlich geht es ihm um das Verhältnis der modernen Literaturgeschichte zum deutschen »Renouveau catholique« in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Klingt nach normaler literaturwissenschaftlicher Forschung – und fängt auch so an, wenn er deutlich macht, daß »auch die Berufung auf ›vormoderne‹ Ausdrucksformen […] eine spezifische Geste der ›Moderne‹ sein« kann. Dann aber haut er dem übermächtigen Paradigma der »Sozialgeschichte« und dessen immanenter Fortschrittsideologie (»die Anforderungen der Gegenwart«, »Transformationen der Aussagesysteme«) mit einer Frage den Boden unter den Füßen weg:
»Weshalb kann eine Literatur mit ›klassischer‹, d. h. einer geschichtstiefen Überlieferung verpflichteter Ästhetik und einem ›normierten‹, also von Glaubenswahrheiten überzeugten weltanschaulichen Gefüge nicht (mehr) anspruchsvolle, würdige und wirkmächtige poetische Texte hervorbringen?«
Mit dieser Frage im Kopf kann der Leser anfangen, die Wertungen der herrschenden Literaturkritik in Schulmaterialien, Feuilletons und Buchbesprechungen einmal daraufhin anzuschauen, ob nicht überall diese »Fortschrittstopoi und evolutionistischen Prozeßvorstellungen« plaziert werden, um bestimmte Literatur zu ent-kanonisieren und, sehr beliebte Methode, »kritisch zu historisieren«.
Zu Francis Thompsons »Orient-Ode«, die Theodor Haecker seinem (wunderbaren) Büchlein Der Christ und die Geschichte 1935 in deutscher Übersetzung beigesellt hat, schreibt Fackelmann etwas, das über die Interpretation dieses Gedichts weit hinausgeht und a fortiori für Getrud von le Forts Hymnen an die Kirche (1924) und das Gros des »Renouveau catholique« gilt:
»Innerhalb der geschichtlichen Zeit ist ihr Ort [der Wirkung Gottes, Anm. CS] aber das Individuum und dessen Gabe der Freiheit; hier ist ›Höherentwicklung‹ (seelisch-sittlicher Art) möglich und aufgegeben, nicht aber auf der Ebene der Sozietät (des ›Systems‹).«
Gertrud von le Fort (1876 – 1971), Konvertitin, Hochland-Autorin, enorm produktive Romanschriftstellerin, hat in ihrer poetologischen Schrift Vom Wesen christlicher Dichtung 1968 neben dem »christlichen Leben des Urhebenden« vor allem die »seelische Erschütterung« – statt der »moralischen Verurteilung« – zur ästhetischen Triebfeder erklärt, dies gelte wohl nicht nur für den Autor, sondern auch für den Leser, faßt Fackelmann zusammen.
»Das Geopferte ist unser Reichtum, und das Entschwundene unser heiliger Überfluß!« Mit dieser Widmung le Forts an einen Freund aus dem Jahre 1944 schicke ich mich an, den Lepanto-Almanach zur eingehenden Lektüre jenen zu empfehlen, die unter allerkundigster Anleitung herausfinden wollen, wie man endlich wieder Hermeneutiker sein kann.
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Christoph Fackelmann, Till Kinzel (Hrsg.): Lepanto-Almanach. Jahrbuch für christliche Literatur und Geistesgeschichte, Rückersdorf: Lepanto 2023. 602 S., 20,90 €
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