Keine Stadt, in der es nicht ein Denkmal gäbe, kein nationaler Feiertag ohne sein »Nationallied«, kein Literaturlehrbuch ohne ihn als Mittelpunkt. Petőfi ist der Nationalschriftsteller schlechthin. Das mag von außen schon deswegen seltsam erscheinen, weil sein Leben wild war, seine Schaffensphase kurz und sein Werk vergleichsweise schmal ist. Adorján Kovács’ Porträt und sensible Auslegung der Lyrik macht dem Leser verständlich, warum das so ist.
Er stellt uns einen multiplen Petőfi vor, der alles und nichts war und immer etwas anderes in einer jeweiligen Phase. Es gibt keine Aussage, die sich nicht durch eine andere konterkarieren ließe, und dennoch gelingt es Kovács, ein überzeugendes Gesamtbild zu präsentieren. Er liest den Dichter proteisch, der mit dem Meeresgott das Tiefe, das Aufwallende gemein hat, aber auch den Wandel der Gestalten und das Prophetische. So prall präsentiert haben selbst die Ungarn ihren Heros noch nicht gesehen. Ja, Kovács kommt sogar zu dem Schluß, daß »Petőfis Popularität in Ungarn in Wirklichkeit ein Mißverständnis« sei, aber ein sehr produktives.
Dort liebt man vor allem seine »Volkstümlichkeit« und seine zarte Liebeslyrik oder seinen »Republikanismus«, zu sozialistischen Zeiten war es sein Revoluzzertum, doch damit ist der Dichter längst nicht ausgeschöpft. Diese Konzentrationen aufs Spezifische sind ein Irrtum, denn Petőfi ist als Mensch und als Künstler nahezu unerschöpflich. Man liest diese Seiten atemlos und ahnend, wie komplex dieses scheinbar übersichtliche Werk des Dichters eigentlich ist.
Nach einem sehr dichten Einleitungskapitel, in dem der große Spannungsbogen gezogen wird, stellt uns Kovács nachfolgend den Proteus in all seinen Schattierungen, in seinem inneren Reichtum und in seinen zahllosen Widersprüchen in 13 Kapiteln vor, immer wieder mit beispielhafter Lyrik gesättigt, deren einziger Nachteil ist, daß die deutschen Übertragungen oft hinter dem Original zurückbleiben.
Aber auch hier versucht der deutsch-ungarische Kritiker durch Zusammenstellungen und Eigenkorrekturen das Bestmögliche herauszuholen. Allein die Gedichte zu lesen ist ein Genuß, um so mehr, als sie uns in ihrem Kontext erläutert und oft auch weltliterarisch verglichen werden. Kovács erweist sich nicht nur als sensibler Interpret, sondern auch als profunder Kenner der magyarischen, der deutschen und der europäischen Literatur. Das Buch ist wissensschwer. Selbst philosophische Bezüge – etwa zu Nietzsche oder zu Sartre – werden souverän präsentiert.
Was immer Petőfi anzufassen versuchte, schien zu Gold zu werden. Aber seiner inneren Unruhe gemäß konnte er bei keinem Gegenstand oder bei keinem Stil dauerhaft bleiben, schnell erreichte er ein Optimum und schrieb sich damit an die vorderste Front der Literatur – bis heute oftmals noch unbemerkt –, um sich einer neuen Lage, einer neuen Stimmung hinzugeben.
Seine fünf, sechs produktiven Jahre vor seinem geheimnisvollen Verschwinden in der Schlacht bei Segesvár im Sommer 1849 weisen die ganze Gefühlspalette von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt und ein breites Arsenal an künstlerischen Mitteln vom klassischen oder religiösen Gedicht über naturalistische, pantheistische, atheistische, sogar perverse Exklamationen bis zum freien lyrischen Parlando oder einer Poésie pure auf, und immer schien er zu exzellieren, selbst noch in seinen verschollenen Gedichten.
Kovács’ Grundlagenwerk ist nicht hoch genug zu loben, ein Meilenstein, ein Muß für alle Liebhaber Ungarns, der Poesie und des freien Denkens. Es ist sicher kein Zufall, daß ein solches Werk unserem Milieu entstammt. Der Autor ist engagiert und hält dennoch den objektiven Ton. Dem deutschen Leser wird ein unentdeckter Kontinent erschlossen, dem Ungarn – das Buch erschien zuerst auf ungarisch – ein neuer, anderer Nationalheld, den man nun auf höherer Ebene lieben kann: Beseitigt man nämlich das eigentliche Mißverständnis auf solch kundige Weise, so müßte Sándor Petőfi in seinem Heimatland nun um ein Vielfaches populärer und bedeutender werden, als er es jetzt schon ist!
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Adorján Kovács: Sándor Petöfi – »Dichter sein oder nicht sein«. Dichtung und Deutung, Neustadt an der Orla: Arnshaugk 2023. 303 S., 34 €
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