Adorján Kovács: Sándor Petöfi – »Dichter sein oder nicht sein«

von Jörg Seidel --

Ohne Sándor Petőfi (1823 – 1849) geht in Ungarn nichts. Man kann das Land sich nicht erschließen, hat man nicht wenigstens Grundkenntnisse über diesen Kraftmenschen und Poeten.

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Kei­ne Stadt, in der es nicht ein Denk­mal gäbe, kein natio­na­ler Fei­er­tag ohne sein »Natio­nal­lied«, kein Lite­ra­tur­lehr­buch ohne ihn als Mit­tel­punkt. Pető­fi ist der Natio­nal­schrift­stel­ler schlecht­hin. Das mag von außen schon des­we­gen selt­sam erschei­nen, weil sein Leben wild war, sei­ne Schaf­fens­pha­se kurz und sein Werk ver­gleichs­wei­se schmal ist. Ador­ján Kovács’ Por­trät und sen­si­ble Aus­le­gung der Lyrik macht dem Leser ver­ständ­lich, war­um das so ist.

Er stellt uns einen mul­ti­plen Pető­fi vor, der alles und nichts war und immer etwas ande­res in einer jewei­li­gen Pha­se. Es gibt kei­ne Aus­sa­ge, die sich nicht durch eine ande­re kon­ter­ka­rie­ren lie­ße, und den­noch gelingt es Kovács, ein über­zeu­gen­des Gesamt­bild zu prä­sen­tie­ren. Er liest den Dich­ter prot­e­isch, der mit dem Mee­res­gott das Tie­fe, das Auf­wal­len­de gemein hat, aber auch den Wan­del der Gestal­ten und das Pro­phe­ti­sche. So prall prä­sen­tiert haben selbst die Ungarn ihren Heros noch nicht gese­hen. Ja, Kovács kommt sogar zu dem Schluß, daß »Pető­fis Popu­la­ri­tät in Ungarn in Wirk­lich­keit ein Miß­ver­ständ­nis« sei, aber ein sehr produktives.

Dort liebt man vor allem sei­ne »Volks­tüm­lich­keit« und sei­ne zar­te Lie­bes­ly­rik oder sei­nen »Repu­bli­ka­nis­mus«, zu sozia­lis­ti­schen Zei­ten war es sein Revo­luz­zer­tum, doch damit ist der Dich­ter längst nicht aus­ge­schöpft. Die­se Kon­zen­tra­tio­nen aufs Spe­zi­fi­sche sind ein Irr­tum, denn Pető­fi ist als Mensch und als Künst­ler nahe­zu uner­schöpf­lich. Man liest die­se Sei­ten atem­los und ahnend, wie kom­plex die­ses schein­bar über­sicht­li­che Werk des Dich­ters eigent­lich ist.

Nach einem sehr dich­ten Ein­lei­tungs­ka­pi­tel, in dem der gro­ße Span­nungs­bo­gen gezo­gen wird, stellt uns Kovács nach­fol­gend den Pro­teus in all sei­nen Schat­tie­run­gen, in sei­nem inne­ren Reich­tum und in sei­nen zahl­lo­sen Wider­sprü­chen in 13 Kapi­teln vor, immer wie­der mit bei­spiel­haf­ter Lyrik gesät­tigt, deren ein­zi­ger Nach­teil ist, daß die deut­schen Über­tra­gun­gen oft hin­ter dem Ori­gi­nal zurückbleiben.

Aber auch hier ver­sucht der deutsch-unga­ri­sche Kri­ti­ker durch Zusam­men­stel­lun­gen und Eigen­kor­rek­tu­ren das Best­mög­li­che her­aus­zu­ho­len. ­Allein die Gedich­te zu lesen ist ein Genuß, um so mehr, als sie uns in ihrem Kon­text erläu­tert und oft auch welt­li­te­ra­risch ver­gli­chen wer­den. ­Kovács erweist sich nicht nur als sen­si­bler Inter­pret, son­dern auch als pro­fun­der Ken­ner der magya­ri­schen, der deut­schen und der euro­päi­schen Lite­ra­tur. Das Buch ist wis­sens­schwer. Selbst phi­lo­so­phi­sche Bezü­ge – etwa zu Nietz­sche oder zu Sart­re – wer­den sou­ve­rän präsentiert.

Was immer Pető­fi anzu­fas­sen ver­such­te, schien zu Gold zu wer­den. Aber sei­ner inne­ren Unru­he gemäß konn­te er bei kei­nem Gegen­stand oder bei kei­nem Stil dau­er­haft blei­ben, schnell erreich­te er ein Opti­mum und schrieb sich damit an die vor­ders­te Front der Lite­ra­tur – bis heu­te oft­mals noch unbe­merkt –, um sich einer neu­en Lage, einer neu­en Stim­mung hinzugeben.

Sei­ne fünf, sechs pro­duk­ti­ven Jah­re vor sei­nem geheim­nis­vol­len Ver­schwin­den in der Schlacht bei Segesvár im Som­mer 1849 wei­sen die gan­ze Gefühls­pa­let­te von him­mel­hoch jauch­zend bis zu Tode betrübt und ein brei­tes Arse­nal an künst­le­ri­schen Mit­teln vom klas­si­schen oder reli­giö­sen Gedicht über natu­ra­lis­ti­sche, pan­the­is­ti­sche, athe­is­ti­sche, sogar per­ver­se Exkla­ma­tio­nen bis zum frei­en lyri­schen Par­lan­do oder einer ­Poé­sie pure auf, und immer schien er zu exzel­lie­ren, selbst noch in sei­nen ver­schol­le­nen Gedichten.

Kovács’ Grund­la­gen­werk ist nicht hoch genug zu loben, ein Mei­len­stein, ein Muß für alle Lieb­ha­ber Ungarns, der Poe­sie und des frei­en Den­kens. Es ist sicher kein Zufall, daß ein sol­ches Werk unse­rem Milieu ent­stammt. Der Autor ist enga­giert und hält den­noch den objek­ti­ven Ton. Dem deut­schen Leser wird ein unent­deck­ter Kon­ti­nent erschlos­sen, dem Ungarn – das Buch erschien zuerst auf unga­risch – ein neu­er, ande­rer Natio­nal­held, den man nun auf höhe­rer Ebe­ne lie­ben kann: Besei­tigt man näm­lich das eigent­li­che Miß­ver­ständ­nis auf solch kun­di­ge Wei­se, so müß­te Sán­dor Pető­fi in sei­nem Hei­mat­land nun um ein Viel­fa­ches popu­lä­rer und bedeu­ten­der wer­den, als er es jetzt schon ist!

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Ador­ján Kovács: Sán­dor Pet­ö­fi – »Dich­ter sein oder nicht sein«. Dich­tung und Deu­tung, Neu­stadt an der Orla: Arnshaugk 2023. 303 S., 34 €

 

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