Was die schiere Masse und Mitteilungsdichte betrifft, können die beiden Wiener Autoren, die verschiedene »Forschungsprojekte« betreiben und eigentlich Militärhistoriker sind, mithalten. Auf den 650 prallen, informationsgesättigten Seiten haben sie viele Quellen eingearbeitet, immer wieder mit Originalzitaten aus Lenins Werken, vor allem aber aus der umfänglichen Sekundärliteratur, zusammengesucht.
Und da beginnt es schon zu haken. Denn das Buch wirkt zerstückelt, ein bindender Erzählfaden fehlt, der Lesefluß wird empfindlich durch immer wieder neue Ritornelle und Arabesken erschwert. Die Doppelautorschaft ist diesbezüglich nicht hilfreich gewesen, denn während die rein überblickshistorischen Abschnitte recht konzis sind, wirken die biographischen Sequenzen oft so, als hätte jemand mit einem dicken Stapel Bücher gesessen und mal hier und mal da eine Idee oder ein Zitat wahllos herausgesucht und durch Satzakrobatik zusammengeklebt.
So ist technisch gesehen zwar alles drin, was man über Lenin rein faktisch wissen muß, aber ein Gesamtbild ergibt sich kaum. Es stellt sich sogar die Frage, ob dieses Konglomerat überhaupt eine Bio-Graphie ist, von »der« ganz zu schweigen. Dem Leser entsteht kein inneres Bild Lenins vor Augen, und hat er nicht schon bedeutende Vorkenntnisse, dürfte ihm vieles blankweg unbegreiflich bleiben.
Gerade die Menge an Detailfakten bedarf eines überlegenen Erzählers. Wir sehen höchstens einen Charakterzwerg mit gewissen anerkennenswerten politischen und strategisch-analytischen Begabungen, aber der Charakter ist primär und kompromittiert fast alles: Es geht den Autoren darum, Lenin als Mensch nicht zu mögen, und wer diese Ansicht apriorisch teilt, der mag reich belohnt werden.
Neues ist darin kaum zu finden, wie auch, wenn man aus den bereits vorhandenen Lebensbeschreibungen zusammensucht und weder forscht noch selbst denkt, sich eindenkt und einfühlt. Was die Bewertung betrifft: Da wollte man objektiv und neutral bleiben, hält das aber nur ein paar Seiten durch und schwelgt dann in meist adjektivisch angefügten Invektiven, deren es Hunderte gibt. Man läßt die anderen bewerten, trägt Meinungen der breitgefächerten Lenin-Literatur zusammen, kommt selbst aber nicht über kleinliche Stänkereien hinaus. Der Text wirkt kalt und technisch und geschichtsbürokratisch. Daß zudem gegendert wird – was in diesem Kontext nahezu grotesk wirkt –, und auch das nur inkonsequent, paßt ins Gesamtbild.
Was dieser Generation von Historikern und Biographen fehlt, ist der große historische Blick, ist die biographische Vision des Gegenstandes, wie sie Golo Mann, Joachim Fest oder auch Rüdiger Safranski noch hatten, sind die feste historische und weltanschauliche Grundierung und Bildung, die mehr sind als die Summe ihrer Teile.
Was Wilhelm Dilthey einst zur Vorbedingung historischen Schreibens erklärte, fehlt diesen »Autor:innen« komplett: »Freudige Erzählkunst, bohrende Erklärung, Anwendung des systematischen Wissens auf sie, Zerlegung in einzelne Wirkungszusammenhänge und Prinzip der Entwicklung, diese Momente summieren sich und verstärken sich untereinander.«
Als Nachschlagewerk brauchbar, zum Neueinstieg untauglich, als Biographie eine mehr.
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Verena Moritz, Hannes Leidinger: Lenin: Die Biografie. Eine Neubewertung, Salzburg/Wien: Residenz 2023. 655 S., 38 €
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