Wendy Brown: Nihilistische Zeiten: Denken mit Max Weber

von Felix Dirsch --

Max Weber ist in der unmittelbaren Gegenwart noch stärker präsent als andere soziologische Klassiker um 1900 wie Émile Durkheim und Georg Simmel.

 Druckausgabe

Beitrag aus der Druckausgabe der Sezession. Abonnieren Sie!

Was heu­te noch fas­zi­niert, ist sein nüch­ter­ner Blick auf Ent­wick­lun­gen der Moder­ne, die er genau seziert und in ihren Kon­se­quen­zen abwägt. Zu den Schlüs­sel­be­grif­fen sei­nes fast uni­ver­sel­len gesell­schafts­theo­re­ti­schen Wer­kes zählt, neben okzi­den­ta­ler Ratio­na­li­sie­rung, pro­tes­tan­ti­scher Ethik, Ide­al­ty­pus, Wert­frei­heit und ande­ren, der der Ent­zau­be­rung der Welt. Gera­de die­se zen­tra­le neu­zeit­li­che Ten­denz macht Reli­gi­on nur noch zum par­ti­ku­la­ren Teil­be­reich der Gesell­schaft und somit die kon­sens­fä­hi­ge Fun­die­rung abso­lu­ter Wahr­hei­ten unmöglich.

Als (mehr oder weni­ger trag­fä­hi­ges) Sur­ro­gat ist an deren Stel­le seit dem spä­ten 19. Jahr­hun­dert das viel­fäl­ti­ge Kon­zept der Wer­te gerückt. Sub­jek­ti­ve Gefüh­le, denen beson­de­re Bedeu­tung zuge­schrie­ben wird, sol­len die Grund­la­ge für Hand­lungs­ty­pen und Erfah­rungs­zu­sam­men­hän­ge nach dem wirk­mäch­ti­gen Schlacht­ruf Fried­rich Nietz­sches vom »Tode Got­tes« bil­den, der bis heu­te ein nach­hal­ti­ges Echo erfährt. Weber zählt zu den diver­sen Gelehr­ten, die sich mit die­ser zen­tra­len Zeit­dia­gno­se und sei­nen viel­fäl­ti­gen, auch nihi­lis­ti­schen, Inklu­sio­nen auseinandersetzten.

Die lin­ke US-Intel­lek­tu­el­le Wen­dy Brown setzt an die­ser Stel­le ihre Weber-Inter­pre­ta­ti­on an. Sie möch­te kei­ne grund­le­gen­de wis­sen­schaft­li­che Stu­die über Weber und des­sen Wert­kon­zept vor­le­gen wie vor rund 25 Jah­ren der Sozio­lo­ge Hans Joas; viel­mehr beab­sich­tigt die viel­be­ach­te­te Autorin, eini­ge wich­ti­ge Gegen­warts­phä­no­me­ne (wie den »Popu­lis­mus« und die Reduk­ti­on vie­ler Erschei­nun­gen auf den Aspekt des Nut­zens) mit Blick auf Weber und den Nihi­lis­mus tief­grün­di­ger zu ver­ste­hen. Vor allem in den klas­si­schen Tex­ten Poli­tik als Beruf und Wis­sen­schaft als Beruf for­mu­lier­te Weber die Ein­sicht, daß der Aus­dif­fe­ren­zie­rungs­pro­zeß der Moder­ne abso­lu­te Begrün­dungs- und Sinn­stif­tungs­mus­ter unmög­lich gemacht habe. Der »Poly­the­is­mus der Wer­te« sei die Fol­ge die­ses Ver­lusts eines ein­heit­lich-kon­sens­fä­hi­gen Grun­des für alle (oder zumin­dest vie­le) Daseinsbereiche.

Die­ser kann Weber zufol­ge weder als ver­bind­li­ches Welt­an­schau­ungs­pro­gramm vom Kathe­der her­ab noch von macht­ori­en­tier­ten Poli­ti­kern repris­ti­niert wer­den. Heils­pre­di­ger und Schar­la­ta­ne gab es in der auf­ge­wühl­ten Lage am Ende des Ers­ten Welt­kriegs auf vie­len Stra­ßen und Plät­zen genug. Der natio­nal­li­be­ra­le Gelehr­te kam nicht umhin, wie zahl­rei­che Kol­le­gen an den Sym­pto­men her­um­zu­dok­tern. Brown ana­ly­siert das Bestre­ben Webers, jen­seits des offen­sicht­lich ver­geb­li­chen Ver­suchs, nach »Fun­da­men­ten für Wer­te« zu fahn­den, adäqua­te Stra­te­gien des Umgangs in einer sol­chen Situa­ti­on zu fin­den. Dazu zählt sein Bemü­hen, »Wer­te für das Den­ken nach­voll­zieh­bar zu machen« und ihre »Umset­zung an ver­ant­wor­tungs­vol­les Han­deln zu binden«.

Unge­ach­tet aller Absich­ten, die Fol­gen der schein­bar unab­wend­ba­ren Auf­dring­lich­keit des Nihi­lis­mus ein­zu­he­gen, blieb Weber doch Kind sei­ner Epo­che. Er hat­te viel­fäl­ti­ge Gefah­ren ange­deu­tet, fand aber kein schlüs­si­ges Kon­zept dage­gen. Die destruk­ti­ven Kon­se­quen­zen der »Revo­lu­ti­on des Nihi­lis­mus« (Her­mann Rausch­ning) im roten wie brau­nen Gewand muß­ten sich all­zu offen­kun­dig Bahn bre­chen, um alt-neue Wege weit über Recht und Poli­tik hin­aus zu beschrei­ten: Dazu gehö­ren die (zumin­dest zeit­wei­li­ge) Renais­sance des Natur­rechts wie die dau­er­haf­te Vor­rang­stel­lung von Men­schen­wür­de und ‑rech­ten in basa­len inter­na­tio­na­len wie natio­na­len Rechtstexten.

Selbst wenn man die öfters zu ver­neh­men­de pseu­do­re­li­giö­se Über­hö­hung die­ser Keh­re ablehnt, stellt sie doch einen Mei­len­stein in der Mensch­heits­ge­schich­te dar. Die­se mar­kan­te Wen­de hat Weber, der kei­nes­falls als ihr Vor­den­ker gel­ten kann, nicht mehr erlebt. Der Epo­chen­bruch wäre ihm gewiß nicht ver­bor­gen geblieben.

– –

Wen­dy Brown: Nihi­lis­ti­sche Zei­ten: Den­ken mit Max Weber. Plä­doy­er gegen die Ent­wer­tung von Wahr­heit, Wis­sen und poli­ti­scher Ver­ant­wor­tung, Ber­lin: Suhr­kamp 2023. 187 S., 28 €

 

Die­ses Buch kön­nen Sie auf antaios.de bestellen.

 

 Druckausgabe

Beitrag aus der Druckausgabe der Sezession. Abonnieren Sie!

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)