Was heute noch fasziniert, ist sein nüchterner Blick auf Entwicklungen der Moderne, die er genau seziert und in ihren Konsequenzen abwägt. Zu den Schlüsselbegriffen seines fast universellen gesellschaftstheoretischen Werkes zählt, neben okzidentaler Rationalisierung, protestantischer Ethik, Idealtypus, Wertfreiheit und anderen, der der Entzauberung der Welt. Gerade diese zentrale neuzeitliche Tendenz macht Religion nur noch zum partikularen Teilbereich der Gesellschaft und somit die konsensfähige Fundierung absoluter Wahrheiten unmöglich.
Als (mehr oder weniger tragfähiges) Surrogat ist an deren Stelle seit dem späten 19. Jahrhundert das vielfältige Konzept der Werte gerückt. Subjektive Gefühle, denen besondere Bedeutung zugeschrieben wird, sollen die Grundlage für Handlungstypen und Erfahrungszusammenhänge nach dem wirkmächtigen Schlachtruf Friedrich Nietzsches vom »Tode Gottes« bilden, der bis heute ein nachhaltiges Echo erfährt. Weber zählt zu den diversen Gelehrten, die sich mit dieser zentralen Zeitdiagnose und seinen vielfältigen, auch nihilistischen, Inklusionen auseinandersetzten.
Die linke US-Intellektuelle Wendy Brown setzt an dieser Stelle ihre Weber-Interpretation an. Sie möchte keine grundlegende wissenschaftliche Studie über Weber und dessen Wertkonzept vorlegen wie vor rund 25 Jahren der Soziologe Hans Joas; vielmehr beabsichtigt die vielbeachtete Autorin, einige wichtige Gegenwartsphänomene (wie den »Populismus« und die Reduktion vieler Erscheinungen auf den Aspekt des Nutzens) mit Blick auf Weber und den Nihilismus tiefgründiger zu verstehen. Vor allem in den klassischen Texten Politik als Beruf und Wissenschaft als Beruf formulierte Weber die Einsicht, daß der Ausdifferenzierungsprozeß der Moderne absolute Begründungs- und Sinnstiftungsmuster unmöglich gemacht habe. Der »Polytheismus der Werte« sei die Folge dieses Verlusts eines einheitlich-konsensfähigen Grundes für alle (oder zumindest viele) Daseinsbereiche.
Dieser kann Weber zufolge weder als verbindliches Weltanschauungsprogramm vom Katheder herab noch von machtorientierten Politikern repristiniert werden. Heilsprediger und Scharlatane gab es in der aufgewühlten Lage am Ende des Ersten Weltkriegs auf vielen Straßen und Plätzen genug. Der nationalliberale Gelehrte kam nicht umhin, wie zahlreiche Kollegen an den Symptomen herumzudoktern. Brown analysiert das Bestreben Webers, jenseits des offensichtlich vergeblichen Versuchs, nach »Fundamenten für Werte« zu fahnden, adäquate Strategien des Umgangs in einer solchen Situation zu finden. Dazu zählt sein Bemühen, »Werte für das Denken nachvollziehbar zu machen« und ihre »Umsetzung an verantwortungsvolles Handeln zu binden«.
Ungeachtet aller Absichten, die Folgen der scheinbar unabwendbaren Aufdringlichkeit des Nihilismus einzuhegen, blieb Weber doch Kind seiner Epoche. Er hatte vielfältige Gefahren angedeutet, fand aber kein schlüssiges Konzept dagegen. Die destruktiven Konsequenzen der »Revolution des Nihilismus« (Hermann Rauschning) im roten wie braunen Gewand mußten sich allzu offenkundig Bahn brechen, um alt-neue Wege weit über Recht und Politik hinaus zu beschreiten: Dazu gehören die (zumindest zeitweilige) Renaissance des Naturrechts wie die dauerhafte Vorrangstellung von Menschenwürde und ‑rechten in basalen internationalen wie nationalen Rechtstexten.
Selbst wenn man die öfters zu vernehmende pseudoreligiöse Überhöhung dieser Kehre ablehnt, stellt sie doch einen Meilenstein in der Menschheitsgeschichte dar. Diese markante Wende hat Weber, der keinesfalls als ihr Vordenker gelten kann, nicht mehr erlebt. Der Epochenbruch wäre ihm gewiß nicht verborgen geblieben.
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Wendy Brown: Nihilistische Zeiten: Denken mit Max Weber. Plädoyer gegen die Entwertung von Wahrheit, Wissen und politischer Verantwortung, Berlin: Suhrkamp 2023. 187 S., 28 €
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