Wir befinden uns im Widerstand. Jeder von uns kämpft auf seine Art gegen oder für eine Mehrheit und für die Durchsetzung unserer Ideen.
Das gilt vor der Wahl, aber auch danach, da dann der eigentliche Weg erst beginnt. Und egal, welches Zwischenziel wir erreichen, es wird nie ein Endpunkt, nie die unangefochtene Stellung des Siegers sein. Und, deshalb ist hier von »wir« die Rede, das alles gilt nicht nur für den Politiker, der sich um das Votum des Wählers bemüht, sondern auch für alle anderen, die sich im Sinne einer Alternative zum gegenwärtigen Politikbetrieb und zur herrschenden Ideologie engagieren.
Im folgenden soll es um einige Grundbedingungen gehen, von denen es abhängt, ob wir Erfolg haben werden oder nicht. Mit Erfolg ist, wie schon angedeutet, nicht der Wahlerfolg gemeint, sondern ob es uns gelingt, gegen alle Widerstände etwas von dem durchzusetzen, was uns wichtig ist. Wir wissen alle, daß sich unsere Ideen nicht eins zu eins durchsetzen lassen werden, daß also auch in der Position der Macht Kompromisse nötig sein werden, um etwas zu erreichen. Entscheidend wird sein, ob diese Anpassungsleistungen am Ende nicht Verrat an unseren Ideen sind. Wie kommen wir dahin?
Meine These ist, daß gerade für eine Politik im Widerstand drei Dinge notwendig sind: erstens das Ethos der Verantwortung, zweitens eine skeptische Gelassenheit und drittens eine feste Gesinnung. Max Webers Vortrag »Politik als Beruf« und die darin vorgenommenen Unterscheidungen bieten einen guten Ausgangspunkt, von dem aus man zeigen kann, daß die drei Voraussetzungen wirklich essentiell sind und wie sie innerlich zusammenhängen.
Max Weber hielt diesen Vortrag am 28. Januar 1919 vor dem Freistudentischen Bund in München, der ihn zu diesem Thema angefragt hatte. (1) Weber war zu diesem Zeitpunkt, also kurz nach Kriegsende, bereits aus seiner Rolle als Privatgelehrter herausgetreten und mischte sich in die Debatten um Kriegsschuld und Verfassung ein. Auf all das geht Weber aber in seinem Vortrag nicht ein, sondern bemerkt schon eingangs, daß er die Frage, welche Politik man treiben solle, nicht beantworten werde. Weil es ihm um Grundsätzliches geht, ist der Vortrag zum Klassiker geworden.
Zwei Feststellungen, die Weber trifft, sind für uns von größter Bedeutung: erstens die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik und zweitens die Forderung nach einer »Festigkeit des Herzens«, mit der sich der Politiker wappnen müsse. Die erste Unterscheidung ist auch auf unserer Seite noch zu wenig verstanden worden: Noch immer verspottet man den politischen Gegner gern als Gesinnungsethiker und hält sich selbst für völlig frei davon.
»Wir müssen uns klar machen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann gesinnungsethisch oder verantwortungsethisch orientiert sein.« (2) Dieses »Grundverschiedene« geht nicht so weit, daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit gleichzusetzen wäre. Es gibt Abstufungen, aber sie bleiben unterscheidbar. Hervorstechendes Merkmal der Gesinnungsethik ist, daß die Handlung dort aus reiner, unverfälschter, nicht korrumpierter Gesinnung erfolgt.
Auch wenn die Gesinnungsethik damit religiösen Ursprungs ist, haben wir es in der Realität nicht mit religiösen Motiven zu tun, sondern eher mit solchen, die der »verkappten Religion« und damit der Ideologie zugehören. (3) Ein Beispiel sind bei Weber radikale Pazifisten, die nicht in der Lage sind, zu akzeptieren, daß es in der Welt mehrere Ethiken gebe und daß politisches Handeln eine komplexe Sache sei, die sich nicht auf eine Ethik reduzieren lasse. (4)
Der Gesinnungsethiker macht es sich leicht, wenn sein Handeln oder Nichthandeln üble Folgen hat. Dafür sind dann entweder die Dummheit der anderen Menschen oder die Umstände verantwortlich, nur nicht er selbst. Hinzu kommt, daß der Gesinnungsethiker jedes Handeln, das gefährliche Mittel anwendet, ablehnt. Politik arbeitet oft mit gewaltsamen Mitteln und ist daher für das Seelenheil, aber auch für den Charakter eine Prüfung. Weber will darauf hinaus, daß Zweck und Mittel gerade beim politischen Handeln in einem Gegensatz stehen könnten. Diesem Risiko müsse man sich aussetzen.
Weber legte bei der Schilderung des Gesinnungsethikers großen Wert auf die Seite des Nichthandelns. Die historische Erfahrung zeigt aber: Wir müssen gerade beim Gesinnungsethiker davon ausgehen, daß ihm jedes Mittel recht sein kann, wenn er sein Ziel erreichen will. Für Weber wird in einem solchen Fall der Gesinnungsethiker zu einem »chiliastischen Propheten«, der das »Ende der Geschichte« erreichen wolle und, um im Jahr 1919 zu bleiben, zum »war to end all wars« aufrufe. Der Gesinnungsethiker ertrage »die ethische Irrationalität« der Welt nicht, er kenne nur eine Ethik und neige deshalb zum Alles-oder-Nichts.
Wie sieht die Sache für den Verantwortungsethiker aus? Er steht für die Folgen seiner Entscheidungen ein und übernimmt dafür die Verantwortung. Er rechnet mit den durchschnittlichen Defekten der Menschen und stellt sein Handeln darauf ein. Deshalb: »Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewußt zu sein.« (5)
Das klingt nach dem idealen Politiker, dessen Entscheidungsfreude allerdings auf eine harte Probe gestellt wird. Kann ein Verantwortungsethiker nur verwalten oder auch gestalten? Er weiß zwar um die unvollständige Informationslage, in der er handeln muß, aber ist er in der Lage, wie Bismarck, ein neues politisches Paradigma zu etablieren? Woher soll der Impuls kommen, über das Gegebene hinauszugehen? Weber verweist dazu auf die Gesinnungsethik: Politik lebt von Ideen, wird aber nicht nur mit dem Kopf gemacht, sondern auch mit dem Herzen. Aber: Wodurch lassen sich Flausen von Ideen unterscheiden, von echten Überzeugungen?
Laut Weber entscheidet das »Maß des inneren Schwergewichts«. Wenn ein reifer Mensch, ein Verantwortungsethiker, an einem Punkt sagt: »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« – dann sei das menschlich echt: »Denn diese Lage muß freilich für jeden von uns, der nicht innerlich tot ist, irgendwann eintreten können.« (6) Und bei dieser Haltung handelt es sich zweifellos um Gesinnungsethik. Insofern, und wohl nur insofern, ergänzen sich Verantwortungsethik und Gesinnungsethik, die zusammen den echten Menschen ausmachen. Hierbei spielt auch eine Rolle, daß man das Mögliche nur erreichen kann, wenn man nach dem Unmöglichen greift.
Unter einer gewissen Reife, die hier das Kriterium ist, versteht Weber »die Rücksichtslosigkeit des Blicks in die Realitäten des Lebens, und die Fähigkeit, sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein«. Denn vor uns liege, so Weber, »eine Polarnacht von eisiger Finsternis und Härte«. (7) Das war Webers Warnung an seine jungen Zuhörer: Es würden Enttäuschungen folgen, sie seien unweigerlich mit der Politik verbunden. Wer dann in Verbitterung, Banausentum oder mystischer Weltflucht seine Stabilität suche, habe in der Politik nichts verloren: Denn er sei seinem eigenen Tun und der Welt nicht gewachsen und habe den »Beruf zur Politik« nicht, der ein »starkes, langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß« bedeute.
Um diese Aufgabe zu meistern, braucht es, so muß die Schlußfolgerung lauten, Übermenschen. Weber nennt sie »Führer und Helden«, die in der Politik so selten anzutreffen sind, daß es andere Möglichkeiten geben muß, dem Beruf zur Politik gerecht zu werden. Gibt es eine Mindestanforderung? Ja: Alle »müssen sich wappnen mit jener Festigkeit des Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist. Nur wer daran nicht zerbricht, wenn seine Pläne an der Welt oder den Menschen scheitern, der hat den Beruf zur Politik.«(8)
Damit sind alle Bedingungen genannt, die es für die Politik im Widerstand braucht, denn Politik bekommt es immer mit dem Überwinden von Widerständen zu tun. Die Studenten vor denen Weber sprach, stammten aus dem linksliberalen Milieu und sahen nach dem Ende des Kaiserreichs ihren Weizen blühen. Seine Worte waren als Warnung gemeint: Glaubt nicht, daß es einfach wird. Man merkt aber, daß es ihm nicht nur um die Frage geht, ob die Studenten den Beruf zur Politik haben, sondern auch darum, wie es um ihn selbst bestellt ist. Er entschied sich, nach einigen enttäuschenden Erfahrungen in der Politik, für die Wissenschaft.
Was Webers Äußerungen zur Politik vor anderen auszeichnet, sind die innere Betroffenheit, der Ernst, mit dem er sie vorträgt, und das radikale Aufzeigen der Antinomien, die das politische Handeln ausmachen. Deshalb begnügt sich Weber auch nicht damit, den traditionellen Tugendkatalog aufzublättern, sondern findet eigene Formeln. Wenn wir diese nehmen, haben wir die drei eingangs genannten Bedingungen für eine Politik im Widerstand: Leidenschaft der Gesinnungsethik, die Bürde der Verantwortungsethik und schließlich die Gelassenheit, die aus der Festigkeit des Herzens folgt.
Über die Leidenschaft und die Gesinnung braucht es in unserer Situation nicht vieler Worte. Wer sie nicht hat und dennoch über ausreichend intellektuelle Anlagen verfügt, wird sein Heil nicht in der Politik und schon gar nicht auf der Seite des Widerstands suchen. Es mag Leute geben, die sich uns aus Berechnung angeschlossen haben, weil sie sehen, daß es in einer randständigen Partei und einem Milieu im Aufbau einfacher ist, nach oben zu kommen. Es mag Opportunisten geben, die ihre Möglichkeiten abgewogen und sich dann in ein Engagement gestürzt haben. Solche Leute wird es immer geben, und es geht auch nicht ohne sie. Wenn wir nur die Hundertprozentigen, die schon immer Überzeugten, die selbstlosen Idealisten akzeptieren würden, wären wir eine Sekte, aber nicht die Bewegung, die sich nicht weniger als die Rettung Deutschlands auf die Fahnen geschrieben hat. Jedem dürfte klar sein, daß dieses Ziel nicht aus reiner Gesinnungsethik heraus erreicht werden kann.
Leidenschaft kann man heucheln, aber man kann sie nicht lernen oder lehren. An der Gesinnung kann man arbeiten, und wir alle müssen es im Hinblick auf die sich ändernden Umstände ständig tun. Zur Gesinnung gehören nicht nur die inhaltlichen Überzeugungen, für die wir politisch kämpfen wollen, sondern auch die Haltung, mit der wir das tun. Deshalb soll es vor allem um die anderen beiden Eigenschaften des Politikers gehen: Verantwortung und Gelassenheit. Worin unterscheiden sie sich von der Gesinnung? Sie sind zum einen ein Korrektiv zur Leidenschaft. Zum anderen sind sie so etwas wie die linke und die rechte Grenze des Bereichs, den man nicht verlassen darf, wenn man ernsthaft Politik betreiben will.
Weber sprach von der »Festigkeit des Herzens« und meinte damit, sich auch von den größten Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen, sondern tapfer sein Ziel weiterzuverfolgen. Wer sich nicht erschüttern läßt, ist bewunderungswürdig, fraglos. Jedoch: Wo bleibt die Leidenschaft, die man braucht, um ein Ziel zu erreichen? Gleichzeitig spricht Weber von der »Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens«, womit die Unvoreingenommenheit und die Skepsis, dem Schein nicht zu trauen, gemeint sind. Wenn man in die klassische Tugendlehre blickt, sind es Gelassenheit und Besonnenheit, die in diesem Zusammenhang genannt werden.
Was ist darunter zu verstehen? Besonnenheit (9) ist seit Platon eine der vier Kardinaltugenden; neben Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit: »Es ist die Tugend des rechten Maßes.« Es ist das Gegenteil von unbesonnen, von impulsiv, unüberlegt, voreilig, aber auch von leichtsinnig. Besonnenheit bedeutet, daß man sich nicht zu Kurzschlußreaktionen verleiten läßt. Herder sah in der Besonnenheit die Eigenschaft, die den Menschen vom Tier unterscheide und überhaupt erst zum Menschen mache. Es ist die kurze Pause zwischen Reiz und Handlung, die Tiere nicht machen können und die dem Menschen die Freiheit des Nein-Sagens gibt. Diese Pause, manchmal ist es die Nacht, die man darüber schlafen sollte, führt dazu, daß man die Folgen seines Handelns überblickt und von sich selbst Abstand nehmen und reflektieren kann.
Die Gelassenheit hat die Besonnenheit zur Voraussetzung. Wer nicht in der Lage ist, besonnen zu handeln, wird den Folgen des Handelns nicht gelassen gegenüberstehen können, weil er Ursache und Wirkung nicht auseinanderhalten kann. Gelassenheit liegt in der ruhigen Bewegung des Chirurgen: »Als ruhig erscheint uns diese Bewegung, sofern sie vom Bewußtsein einer hohen Verantwortung getragen wird, sofern von ihrer Wirkung etwas Wesentliches abhängt und der Handelnde Kraft seines Könnens und seiner Sicherheit zur Übernahme dieser Verantwortung bereit ist.« (10) Aber die Gelassenheit erschöpft sich nicht in der Ruhe, sondern liegt auch in der Art, wie der Mensch die Dinge auf sich zukommen läßt.
Auch wenn sich hin und wieder der Hinweis findet, die Gelassenheit komme aus der Mystik, in der man die Welt losgelassen und sich ganz Gott überlassen habe, scheint die gegenteilige Auffassung Heideggers einleuchtender zu sein. Gelassenheit »meint doch offenbar nicht das Abwerfen der sündigen Eigensucht und das Fahrenlassen des Eigenwillens zugunsten des göttlichen Willens«. Er sieht in der »Gelassenheit zu den Dingen« eine Möglichkeit, den Dingen ihren rechten Platz zuzuweisen. Die Dinge nicht zu überhöhen, sie aber auch nicht zu verteufeln. Heidegger schreibt, daß es sich bei der Gelassenheit »keineswegs um ein kraftloses Gleiten- und Treibenlassen der Dinge handelt«. (11)
Wenn es um Gelassenheit als Tugend geht, taucht immer wieder ein bestimmtes Zitat auf. So auch im Buch Wesen und Wandel der Tugenden von Otto Friedrich Bollnow, der daran den Unterschied zwischen der kontemplativen und der agonalen Gelassenheit deutlich machen will. Es lautet: »Si fractus illabatur orbis / Impavidum ferient ruinae.« Bollnow übersetzt das mit: »Wenn auch die Welt in Scherben bricht, so wird er unerschüttert auf den Trümmern stehen.« Eine alte Übersetzung lautet: »Zerschellte hoch des Äthers Wölbung / Schreckenlos steht er, umkracht von Trümmern.« Dieses Zitat ist für unseren Zusammenhang von Bedeutung, nicht nur wegen der Aussage selbst, sondern auch weil seine Rezeption in der Geistesgeschichte der letzten Jahrhunderte nahelegt, daß damit eben jene Gelassenheit gemeint ist, die Weber die »Festigkeit des Herzens« nennt.
Wir finden es als Wahlspruch Fichtes in Schulpforta, in Hauffs Roman Lichtenstein, bei Moses Mendelssohn und schließlich auch bei Arthur Schopenhauer, dem das Zitat Beleg für die Wichtigkeit des Mutes ist: »Solange der Ausgang einer gefährlichen Sache nur noch zweifelhaft ist, solange nur noch die Möglichkeit, daß er ein glücklicher werde, vorhanden ist, darf an kein Zagen gedacht werden, sondern bloß an den Widerstand […].« (12) Es findet sich 1946 bei Gottfried Benn, der den zweiten Teil mit »den Furchtlosen werden noch die Ruinen tragen« übersetzt. (13) Und auch der alte Ernst Jünger erwähnt es 1993 in seinem Tagebuch mit der Bemerkung: »Das zur Umwelt. Und als beständiger Trost: Vom Zeitlosen trennt uns nur ein Atemzug. ›Impavidus‹ ist nicht der Held, wie es gern übersetzt wird, sondern der oder die Furchtlose« (14)
Dieses häufige Vorkommen des Zitats ist insofern nicht verwunderlich, weil es zum altsprachlichen Kanon des humanistischen Gymnasiums gehörte. Die Worte stammen aus den Oden des Horaz, genauer aus dem dritten Loblied auf Augustus. Geschrieben wurde es, kurz nachdem dieser als Octavian nach Rom zurückgekehrt, die Neuordnung des Staates durchgeführt und den Titel Augustus angenommen hatte. (15) Konkret beschreiben die beiden Zeilen den Moment des Entschlusses des Octavian, seine Feinde Marcus Antonius und Kleopatra zu stellen und damit alles auf eine Karte zu setzen.
Aus dem Sein leitet Horaz ein Sollen ab, was die Aufforderung enthält, sich eben so zu verhalten. Wie aber wird man so? Lernt man es vor allem? Und: Ist es schon angelegt? Wenn ja, muß man durch »Übung und Vorsatz dem davon Vorhandenen nachhelfen«, wie Schopenhauer sagt. Denken wir mit Theodor Mommsen an zwei der größten Herrscher, die die Weltgeschichte kennt: Kaiser Augustus und Friedrich den Großen. Der erste mußte sich als Octavian im Bürgerkrieg durchsetzen und dadurch von der Macht zur Herrschaft finden. Friedrich brauchte den Tod Kattes und den Sieg bei Mollwitz, der seine persönliche Niederlage war, um diese »Festigkeit des Herzens« zu erlernen.
Diese Gelassenheit, das klingt in den Lebensgeschichten der beiden Herrscher an, hat auch einiges mit der Reifwerdung zu tun. Sie besteht nicht nur in der Wandlung von Macht in Herrschaft, sondern auch in der Distanz zu sich selbst, der Fähigkeit, die Welt mit anderen Augen zu sehen und damit einen anderen Zugang zu den Menschen zu finden. Dieser skeptische Blick führt zur realistischen Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und dem Abgleich mit den Erwartungen der anderen; kurz: in die Verantwortung.
Kaum jemand redet so viel von Verantwortung wie Politiker, aber kaum einer Berufsgruppe wird so oft Verantwortungslosigkeit vorgeworfen. Das Reden über Verantwortung hat daher nichts damit zu tun, ob man jemanden eher als Gesinnungs- oder als Verantwortungsethiker bezeichnen würde. Das Reden allein sagt noch gar nichts über tatsächliche Verantwortung aus, insbesondere da sich alltagspraktisch an den Begriff der Verantwortung bestimmte Erwartungen knüpfen. Wie schon bei Weber ausgeführt, geht es vor allem darum, die Konsequenzen aus einem bestimmten Handeln zu tragen.
Wer die Verantwortung trägt, wird, wenn es schiefgeht, bestraft oder zieht die Konsequenzen und tritt zurück. Warum das so ist, zeigt die Definition des Begriffs der Verantwortung (16): Jemand (Subjekt, Person) ist für etwas (Gegenstand der Handlung) vor oder gegenüber jemandem (Instanz) aufgrund bestimmter normativer Standards (Gesetze, Normenhintergrund) perspektivisch verantwortlich – oder verantwortet sich retrospektiv. Umgangssprachlich bedeutet Verantwortung auch, dafür zu sorgen, daß alles klappt (Du bist mir verantwortlich dafür, daß …), und im Schadensfall zur Rechenschaft gezogen zu werden (bei Weber: für die Folgen aufzukommen).
Von welchem Subjekt sprechen wir? Vom Politiker oder politisch handelnden Menschen. Je sichtbarer jemand ist, desto größere Verantwortung trägt er für sein Handeln. Deshalb irritiert uns öffentliche Dekadenz, weil populäre Vorbilder für andere Menschen allein schon wegen ihres Vorbildcharakters verantwortlich sind. Das gilt aber auch im kleineren Rahmen. Karl Jaspers hat über seinen Vater berichtet, daß dieser der Kirche lange entfremdet gewesen sei, aber erst austrat, als er kein Amt mehr innehatte. Das kann natürlich an den unmittelbaren Konsequenzen, die er befürchtete, gelegen haben. Sein Sohn begründet das jedoch mit dem Beispiel, das er damit für andere gegeben habe, solange er ein öffentlich wahrnehmbares Amt bekleidete. Als Privatmann konnte er anders handeln. (17)
Damit sind wir beim Gegenstand der Verantwortung. Ein Bundeskanzler ist für Deutschland und seine Bürger verantwortlich, ein Familienvater für seine Familie. Der Gegenstand leitet sich damit aus der Position ab, die jemand einnimmt. Interessant ist nun vor allem, vor wem man sich zu verantworten hat. Die Präambel des Grundgesetzes nennt die »Verantwortung vor Gott und den Menschen«, in deren Bewußtsein das Grundgesetz beschlossen worden sei. Das beinhaltet eine Fülle an Implikationen: Die Verantwortung vor Gott appelliert an eine Instanz, die religiöser Natur ist, und damit an etwas, das womöglich nicht für jeden gilt.
Gehlen wies seinerzeit darauf hin, daß die Soziologie eine »innere Verantwortung« nicht kenne: »Wer sagt, er vertrete in vollem Bewußtsein der Verantwortung vor Gott und Menschheit die Meinung X, und wer einfach sagt, er habe diese, gilt dem Soziologen gleich, beide sind Meinungsträger X, denn er kann keinem Menschen ins Herz sehen.« (18) Deshalb kann von Verantwortung nur dort sinnvoll die Rede sein, wo die Öffentlichkeit Quittungen auszustellen vermag.
Der Appell des Grundgesetzes ist, auch in areligiösen Zeiten, vor dem Hintergrund des berühmten Böckenförde-Theorems zu verstehen: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« Die Freiheit muß sich von innen her, aus der »moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft« regulieren. (19) Das ist eine Forderung, die natürlich auch für die Politiker gilt, auf deren moralische Substanz man nur hoffen kann und muß, weil die Alternative der totale Überwachungsstaat wäre. Was bedeutet aber die Homogenität der Gesellschaft? Das sind offensichtlich die Menschen, denen man unterstellt, keine unüberbrückbaren Interessenskonflikte, keinen Bürgerkrieg auszutragen, was im Grunde nur halbwegs homogene Gesellschaften gewährleisten können.
Die Auslegung der Instanzen, vor denen wir uns verantworten müssen, folgt offensichtlich einem bestimmten Normenhintergrund. Je nachdem, was ich mit Gott und den Menschen verbinde, wird die Verantwortung einen anderen Charakter bekommen. Meine ich in erster Linie unsere Menschen oder alle? Meine ich den Gott der Bergpredigt oder den des Alten Testaments? Für Politiker gelten diese Fragen verschärft, nicht nur, weil sie größeren Instanzen gegenüber verantwortlich sind, sondern auch, weil sie um die Macht kämpfen und Entscheidungen ohne vollständige Informationen, also mit Risiko, treffen müssen. Aber grundsätzlich gilt mit Gehlen: Wo es keine sichtbare Instanz gibt, bleibt Verantwortung vor allem eine Forderung an sich selbst.
Mit der Macht ist eine große und erst durch sie ermöglichte Verantwortung verbunden. Der Wille des Politikers geht zur Macht und damit zur Verantwortung. Er könnte auch anders handeln, sich heraushalten. Das will er nicht, daher muß er zum Besten derjenigen wirken, über die er Macht hat: »Daß das ›über‹ zum ›für‹ wird, macht das Wesen der Verantwortung aus.« (20) Er will also, im besten Fall, Macht für jemanden haben. Und er handelt im Ungewissen – ein Freiraum, ohne den keine echte Verantwortung entstehen kann. Der Politiker darf deshalb gar nicht erst dazu gebracht werden, sich nach allen Seiten abzusichern: »Sonst wird der Politiker zur Marionette, zum sicherungssüchtigen Opportunisten, sonst geht er am Ende wirkliche Verantwortung nicht mehr ein.« (21)
All das Gesagte gilt natürlich auch für uns. Aber wir sind in einer besonderen Lage. In Deutschland gelten wir als Extremisten, worunter man mit Blick auf uns mittlerweile Gedankenverbrecher versteht. (22) Der Gedankenverbrecher steht auf einer Stufe mit dem Kriminellen, meistens rangiert er sogar darunter, weil seine Resozialisierung als aussichtslos gilt. Das Darstellen des legalen Widerstands als verbrecherisch ist ein Mittel, das nicht nur den Widerständigen ächten, sondern auch dessen moralischen Kompaß korrumpieren soll. Es soll das Gefühl erzeugt werden: Warum sollen wir uns, wenn wir Aussätzige sind, an Regeln halten? Wenn wir als Verbrecher gelten, können wir uns auch so benehmen.
Diese Art der Verantwortungslosigkeit hat es zu allen Zeiten in den Widerstandsmilieus gegeben: »Demgegenüber ist es wichtig, daß der Waldgänger sich in seiner Sittlichkeit, in seiner Kampfführung, in seiner Gesellschaft nicht nur deutlich vom Verbrecher unterscheidet, sondern daß dieser Unterschied auch stark in seinem Inneren lebendig ist. Er kann das Rechte nur in sich finden […].« (23) Das Maß der Stigmatisierung erhöht das Maß der Verantwortung. Damit in der Politik des Widerstands niemand an dieser Forderung zerbricht, ist nicht nur die Überzeugung von der eigenen Idee entscheidend, sondern ebenso die Gelassenheit den Dingen gegenüber, die noch auf uns zukommen werden.
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(1) – Zum Hintergrund der Rede Webers vgl. Kari Palonen: Eine Lobrede für Politiker. Ein Kommentar zu Max Webers »Politik als Beruf«, Opladen 2002.
(2) – Max Weber: »Politik als Beruf«, in: ders.: Gesammelte Politische Schriften, hrsg. von Johannes Winckelmann, Tübingen ³1971, S. 505 – 560, hier S. 551.
(3) – Vgl. Carl Christian Bry: Verkappte Religionen, Gotha 1924.
(4) – Vgl. Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M. 1969, S. 10: Es gibt »mehrere voneinander funktionell wie genetisch unabhängige und letzte sozialregulative Instanzen im Menschen«.
(5) – Weber: Beruf, S. 557.
(6) – Ebd., S. 559.
(7) – Ebd.
(8) – Ebd., S. 560.
(9) – Ich beziehe mich hier auf die zusammenfassende Darstellung zur Besonnenheit in: Otto Friedrich Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden, Frankfurt a. M. 1958, S. 89 – 98.
(10) – Bollnow: Wesen, S. 117.
(11) – Vgl. Martin Heidegger: Gelassenheit, Pfullingen 1959, S. 9 – 26 und S. 34; Martin Heidegger: Feldweg-Gespräche, Frankfurt a. M. ²2007 (HGA; 77), S. 108.
(12) – Arthur Schopenhauer: »Aphorismen zur Lebensweisheit«, in: ders.: Sämtliche Werke hrsg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Bd. IV, Darmstadt 1968, S. 373 – 592, hier S. 567.
(13) – Gottfried Benn, Friedrich Wilhelm Oelze: Briefwechsel 1932 – 1956, Bd. 2: 1942–1948, hrsg. von Harald Steinhagen und Stephan Kraft, Göttingen 2016, S. 138.
(14) – Ernst Jünger: Siebzig verweht V, Stuttgart 1997, S. 101 f.
(15) – Vgl. Theodor Mommsen: »Rede zur Feier der Geburtstage Königs Friedrich II. und Kaiser Wilhelms II.«, in: ders.: Reden und Aufsätze, Hildesheim 1976, S. 168 – 184.
(16) – Vgl. Artikel »Verantwortung«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 11, Basel 2001, Sp. 566 – 575.
(17) – Vgl. Karl Jaspers: »Lebensbeschreibung« (1946), in: Karl Jaspers, K. H. Bauer: Briefwechsel 1945 – 1968, hrsg. und erläutert von Renato de Rosa, Berlin 1983, S. 1 – 7.
(18) – Gehlen: Moral, S. 151.
(19) – Ernst-Wolfgang Böckenförde: »Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation« (1964), in: ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 92 – 113.
(20) – Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1979, S. 181.
(21) – Hans Maier: »Das Gemeinwohl und der heiße ›Brei des Herzens‹«, in: Die Zeit 49/1986.
(22) – Vgl. Erik Lehnert: »Temperaturerhöhung. Bemerkungen zu einem problematischen Leiden«, in: Michael Kirchberg, ders.: Eine Spur hinterlassen. Götz Kubitschek zum 50. Geburtstag, Leipzig 2020, S. 43 – 51.
(23) – Ernst Jünger: Der Waldgang, Frankfurt a. M. 1951, S. 85.