Thesen zum Rechtsstaat

von Thor v. Waldstein --

PDF der Druckfassung aus Sezession 119/ April 2024

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Der Begriff des Rechts­staats ist in aller Mun­de, heut­zu­ta­ge noch mehr als zur Zeit sei­nes Auf­kom­mens in der ers­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts. Und doch ver­mag nie­mand genau zu sagen, was er eigent­lich bedeu­ten soll.

Tat­säch­lich ver­bin­det jeder mit »die­sem in rei­chem Far­ben­spiel schim­mern­den Begriff« (1) etwas ande­res. Die adjek­ti­vi­sche Schling­pflan­ze »rechts­staat­lich« über­wu­chert so man­ches Sub­stan­tiv, wie zum Bei­spiel Ord­nung, Ver­fas­sung oder Grund­sät­ze, aber nur sel­ten wird dadurch etwas an sprach­li­cher Genau­ig­keit gewonnen.

Die Defi­ni­ti­ons­ver­su­che, die Wiki­pedia, Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung und ande­re sozi­al­wis­sen­schaft­li­che Mär­chen­er­zäh­ler den »Rechts­staat« betref­fend dar­bie­ten, kön­nen ange­sichts ihrer Wirk­lich­keits­blind­heit allen­falls zur Erhei­te­rung beitragen.

Das Wort »Rechts­staat« ist zwar in der Regel posi­tiv kon­no­tiert, inhalt­li­che Kon­tu­ren wach­sen ihm aber vor allem ex nega­tivo zu. Der Rechts­staat ist also erst ein­mal dage­gen, er will selbst nicht sein und wen­det sich zugleich gegen: den Macht­staat, den Poli­zei­staat, den Will­kür­staat und so wei­ter. Die­ser Defen­siv­cha­rak­ter ver­an­laß­te Otto Kirch­hei­mer zu der sar­kas­ti­schen Fest­stel­lung, die Beru­fung auf den Rechts­staat habe »etwas von einer Schlan­gen­be­schwö­rung«, also dem Bemü­hen, dro­hen­des Unheil abzu­wen­den oder eine poten­ti­el­le Gefah­ren­quel­le zumin­dest unter Kon­trol­le zu halten.

Ob die Ver­knüp­fung von »Recht« und »Staat« zum Dop­pel­wort »Rechts­staat« – »eine dem deut­schen Sprach­raum eige­ne, in ande­ren Rechts­spra­chen so nicht auf­find­ba­re Wort­ver­bin­dung« (2) – eine beson­ders glück­li­che Schöp­fung war, das darf ange­sichts die­ser Viel­deu­tig­keit bezwei­felt wer­den; man­ches spricht dafür, daß der Rechts­staats­be­griff schwam­mig ist oder sogar »einen Wider­spruch in sich« ver­kör­pert. (3) Denn das Recht mag ein wich­ti­ges Ele­ment des Staats sein, sein ein­zi­ges Kenn­zei­chen ist es nicht.

Nie­mand spricht bei­spiels­wei­se von »Pflicht­staat«, obwohl doch die bür­ger­li­chen Pflich­ten genau­so zum (Rechts-)Staat gehö­ren wie die bür­ger­li­chen Rech­te zum (Pflicht-)Staat. Und frag­los zäh­len Über­zeu­gun­gen von dem Staat als »der Wirk­lich­keit der sitt­li­chen Idee« (4) oder als dem Garan­ten sozia­ler Für­sor­ge auch dann zum Staat, wenn er sich nicht expli­zit als Sitt­lich­keits- oder Wohl­fahrts­staat bezeichnet.

Wie dem auch sei, mit der »poli­tisch-kämp­fe­ri­schen Nen­nung und Anru­fung« des Rechts­staats ver­knüp­fen sich »in sinn­va­ri­ie­ren­der und gene­ral­klau­sel­ar­ti­ger Wei­se […] Gedan­ken einer Gerech­tig­keit des Rechts, der Hegung und Ratio­na­li­sie­rung poli­ti­scher Herr­schaft und ihrer Aus­übung nach Recht und Gerech­tig­keit, des Stils umfas­sen­der Form­bin­dung und (auch) dadurch bewirk­ter Begrenzt­heit allen staat­li­chen Han­delns.« (5)

Wesent­lich ist, »daß dem Rechts­staats­be­griff ein über­schie­ßen­des Moment empha­ti­scher Qua­li­tät inne­wohnt, das sich durch defi­ni­to­ri­sche Eng­füh­run­gen nicht end­gül­tig ban­nen läßt.« (6) Die unge­bro­che­ne Kon­junk­tur des Rechts­staats­be­griffs bei dem Volk, das, als ande­re Ame­ri­ka ent­deck­ten, erst ein­mal ein Reichs­kam­mer­ge­richt begrün­de­te (1495), mag eini­ges zu tun haben mit jenem »edle[n] Zug im deut­schen Cha­rak­ter, daß das Recht über­haupt, sein Grund und sei­ne Fol­gen mögen auch geschaf­fen seyn wie sie wol­len, ihm so etwas hei­li­ges ist«. (7)

Die­se Über­schät­zung des »rei­nen Rechts« gehört zum ger­ma­ni­schen Erbe der Deut­schen; ihr ent­springt ihr »rührende[s] Lega­li­täts­be­dürf­nis« (8), ihr bis­wei­len gro­tes­kes Ver­lan­gen, buch­stäb­lich alles in die For­men des Rechts gie­ßen zu wol­len. Mit die­ser Lei­den­schaft für das Recht hängt der selt­sa­me Umstand zusam­men, daß der Staat in nuce, also ohne ­schmü­cken­de Attri­bu­te und Eigen­schafts­be­schrei­bun­gen, in den ­übli­chen Dis­kurs­for­ma­ten die­ses Lan­des kaum mehr vor­kommt: »Der Staat ist nicht schon als Staat […], son­dern erst als Rechts- und Sozi­al­staat ver­tei­di­gens­wert […]. Man muß mit der Wahr­schein­lich­keit rech­nen, daß die Bewoh­ner der BRD nicht blo­ße Staat­lich­keit, son­dern erst Rechts- und ­Sozi­al­staat­lich­keit als die­je­ni­gen Wer­te des Gemein­we­sens betrach­ten, die es ihnen teu­er machen.« (9)

Dem ent­spricht eine poli­ti­sche Hal­tung, die sich der Illu­si­on hin­gibt, mit inni­gen Rechts­staats­für­bit­ten den Her­aus­for­de­run­gen begeg­nen zu kön­nen, denen der moder­ne Staat im Lau­fe des 21. Jahr­hun­derts aus­ge­setzt sein wird und die als »total span­nend« zu bezeich­nen ver­ant­wor­tungs­frei­en Zeit­ge­nos­sen vor­be­hal­ten bleibt. Zu die­ser Blau­äu­gig­keit des Bür­gers paßt auf wis­sen­schaft­li­cher Ebe­ne eine auf intro­ver­tier­te Rechts­staat­lich­keit redu­zier­te Staats­rechts­leh­re, die ver­ges­sen hat, daß die Selbst­be­haup­tung eines Staats mit wirk­lich­keits­ent­rück­ten Schön­wet­ter­vo­ka­beln nicht bewerk­stel­ligt wer­den kann.

Mit­tels einer juris­ti­schen Pas­se­par­t­out­for­mel läßt sich jeden­falls ein poli­ti­sches Ziel wie die Schaf­fung und die Erhal­tung eines hand­lungs­fä­hi­gen, eines im Inne­ren gerech­ten und nach außen bestands­kräf­ti­gen Staats nicht errei­chen. Im Lich­te die­ser Pro­ble­ma­tik unter­neh­men die nach­fol­gen­den The­sen den Ver­such, den lan­gen Weg des Rechts­staats vom heh­ren Ver­fas­sungs­ide­al des Vor­märz bis zu den Nie­de­run­gen begriff­li­cher Pro­mis­kui­tät in der spä­ten Bun­des­re­pu­blik nachzuzeichnen.

 

The­se 1: »Rechts­staat« ist ein kon­kre­ter, in einer bestimm­ten ­geschicht­li­chen Epo­che des 19. Jahr­hun­derts ent­stan­de­ner und an die­se Epo­che gebun­de­ner poli­ti­scher Kampf­be­griff des deut­schen Bürgertums. 

 

Der Rechts­be­wahr­staat des deut­schen Mit­tel­al­ters, in des­sen »Den­ken [nichts] selbst­ver­ständ­li­cher [war], als daß alles Recht in Gott gegrün­det sei« (10), in dem ein gott­be­gna­de­ter Mon­arch als Hüter der Frie­dens- und Rechts­ord­nung gegol­ten hat­te und der von stän­di­schen Rech­ten bestimmt war, erfuhr in der Renais­sance unheil­ba­re Ris­se. Deren »aus dem dies­sei­ti­gen und ver­nünf­tig erkenn­ba­ren Sein von Natur und Gesell­schaft« abge­lei­te­ter »entpersönlichende[r] Geset­zes­glau­be« wur­zel­te in der ethi­schen Maxi­me: »Frei ist der Mensch, wenn er nicht mehr Men­schen, son­dern nur noch Geset­zen gehor­chen muß«. (12) Die­se Ent­wick­lung mün­de­te in der Fol­ge der Ideen von 1789 in einer libe­ral-demo­kra­ti­schen Verfassungs­bewegung, die Staat und (Zivil-)Gesellschaft aus­ein­an­der dach­te und im wei­te­ren Ver­lauf den bür­ger­li­chen Rechts­staat her­vor­brin­gen sollte.

Der Begriff des Rechts­staats, der schon 1809 bei Adam Mül­ler (»wah­rer orga­ni­scher Rechts­staat«) und 1813 bei C. Th. Welcker (Rechts­staat als »Staat der Ver­nunft«) auf­ge­taucht war, wur­de dann 1828 von Robert von Mohl in die all­ge­mei­ne staats­recht­li­che und poli­ti­sche Dis­kus­si­on ein­ge­führt. Bei von Mohl erscheint der Rechts­staat »als der ratio­nel­le, ver­stan­des­mä­ßi­ge Staat«, der sei­ne Tätig­keit auf das Not­wen­digs­te beschränkt. Von Mohl präg­te somit – getreu den maß­geb­lich von Adam Smith beein­fluß­ten wirt­schafts­po­li­ti­schen Anschau­un­gen sei­ner Zeit – den Begriff ­eines for­mel­len Rechts­staats, eines Staats, der Rechts- und Frie­dens­ord­nung ­garan­tiert, der aber alles wei­te­re dem frei­en Spiel der gesell­schaft­li­chen Kräf­te überläßt.

Die For­ma­li­sie­rung des Rechts­staats­ge­dan­kens auf die Spit­ze trei­bend, schrieb Fried­rich Juli­us Stahl dann 1847: »Mit dem Cha­rak­ter des Rechts­staats ist über­haupt nur die Unver­brüch­lich­keit der gesetz­li­chen Ord­nung gege­ben, nicht aber ihr Inhalt« (13), um dann in den 1850er Jah­ren die heu­te noch meist zitier­te Magna Char­ta des Rechts­staats wie folgt zu fas­sen: »Der Staat soll Rechts­staat sein […]. Er soll die Bah­nen und Gren­zen sei­ner Wirk­sam­keit wie die freie Sphä­re sei­ner Bür­ger in der Wei­se des Rechts direkt genau bestim­men und unver­brüch­lich sichern und soll die sitt­li­chen Ideen von Staats wegen, also direkt, nicht wei­ter ver­fol­gen, als es der Rechts­sphä­re ange­hört, d. i. bis zur not­wen­digs­ten Umzäu­nung […] er bedeu­tet über­haupt nicht Ziel und Inhalt des Staats, son­dern nur Art und Cha­rak­ter, die­sel­ben zu ver­wirk­li­chen.« (14)

Hier­durch wur­de ein Sys­tem von Garan­tien für die Frei­heit des Indi­vi­du­ums geschaf­fen, des­sen wesent­li­che Eigen­schaft die umfas­sen­de Zäh­mung der poli­ti­schen Gewalt eines Staats ist, in dem »der Geset­zes­be­griff kar­di­na­le Bedeu­tung [erhält und] zur Ach­se der rechts­staat­li­chen Ver­fas­sung« wird. (15) Im Buch des Rechts­staats sind danach Spiel­re­geln fest­ge­legt, wie die Indi­vi­du­en unter­ein­an­der und wie das Indi­vi­du­um mit dem Staat (et vice ver­sa) zu ver­keh­ren hat.

Daß der Mensch jen­seits einer sol­chen blo­ßen Ver­kehrs­ord­nung posi­tiv nach über­in­di­vi­du­el­len Idea­len strebt, die er nicht als ein­zel­ner, son­dern nur in Gemein­schaft mit ande­ren ver­wirk­li­chen kann, wird von einer sol­chen ganz im Nega­ti­ven ver­har­ren­den Staats­leh­re ver­kannt. Eben­so­we­nig wird die Fra­ge beant­wor­tet, wer für den Bestands­er­halt eines sol­chen Rechts­staats nach außen gera­de­ste­hen soll, eines Rechts­staats, der nicht von Luft, Lie­be und rei­nem Recht lebt, son­dern der dar­auf ange­wie­sen ist, daß sich im Ernst­fall Per­sön­lich­kei­ten und – im Kriegs­fall – jun­ge Män­ner für ihn ganz jen­seits eige­ner (öko­no­mi­scher) Inter­es­sen einsetzen.

Trotz die­ser blin­den Fle­cken ent­wi­ckel­te sich der Rechts­staats­be­griff auf­grund sei­ner rhe­to­ri­schen Allzweck­eigenschaften zu »eine[r] der Haupt­waf­fen aus dem poli­ti­schen Arse­nal des bür­ger­li­chen Libe­ra­lis­mus des 19. Jahr­hun­derts« (16), mit der die gewach­se­nen Ord­nungs­mo­del­le bis­he­ri­ger Staat­lich­keit in Fra­ge gestellt wer­den sollten.

 

The­se 2: Die Ent­ste­hung des Grund­ge­set­zes 1948/49 und der in ihm begrün­de­ten rechts­staat­li­chen Ord­nung stand unter kei­nem guten Stern: Nicht die Besieg­ten von 1945, das (west)deutsche Volk als Sou­ve­rän, son­dern die west­al­li­ier­ten Besat­zungs­mäch­te präg­ten den in der »Ver­fas­sung« fest­ge­schrie­be­nen Rah­men des zukünf­ti­gen Rechtsstaats. 

 

Bereits die Bezeich­nung »Grund­ge­setz« (statt »Ver­fas­sung«) sowie der objektan­zei­gen­de, Betreu­ungs­cha­rak­ter atmen­de Annex »für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land« zei­gen noch heu­te an, daß Ende der 1940er Jah­re in Tri­zo­ne­si­en nicht ein nor­ma­les Staats­we­sen begrün­det wur­de, son­dern ein »Staat ohne Ver­ant­wor­tung«. (17) In der »Ungna­de des Null­punk­tes« (18) ent­stand ein »gut­ge­mein­tes Ver­fas­sungs­expe­ri­ment, das sich von den Fehl­schlä­gen der Wei­ma­rer Repu­blik abset­zen, die Erin­ne­rung an das natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Regime ver­ban­nen und an die libe­ral-demo­kra­ti­sche Tra­di­ti­on des 19. Jahr­hun­derts wie­der anknüp­fen woll­te«. (19)

Der Haupt­ge­burts­feh­ler die­ses Expe­ri­ments war frei­lich, daß ihm von Anfang an die demo­kra­ti­sche Legi­ti­ma­ti­on abging. In einer heu­te undenk­ba­ren, von Hoch­ach­tung gegen­über dem gefes­sel­ten Sou­ve­rän gekenn­zeich­ne­ten Ehr­lich­keit hat­te Car­lo Schmid (SPD) den Pro­vi­so­ri­ums­cha­rak­ter des Grund­ge­set­zes im – demo­kra­tisch eben­falls nicht legi­ti­mier­ten  (20)– Par­la­men­ta­ri­schen Rat wie folgt fest­ge­hal­ten: »Es gibt kein west­deut­sches Staats­volk und wird kei­nes geben! […] Wir haben unter Bestä­ti­gung der alli­ier­ten Vor­be­hal­te das Grund­ge­setz zur Orga­ni­sa­ti­on der heu­te frei­ge­ge­be­nen Hoheits­be­fug­nis­se des deut­schen Vol­kes in einem Tei­le Deutsch­lands zu bera­ten. Wir haben nicht die Ver­fas­sung Deutsch­lands oder West­deutsch­lands zu machen. Wir haben kei­nen Staat zu errich­ten. […] was wir machen kön­nen, ist aus­schließ­lich das Grund­ge­setz für ein Staats­frag­ment. Die eigent­li­che Ver­fas­sung, die wir haben, ist auch heu­te noch das geschrie­be­ne oder unge­schrie­be­ne Besat­zungs­sta­tut.« (22)

Unter den Bedin­gun­gen einer sol­chen fremd­be­stimm­ten »Okku­pa­ti­ons-Dik­ta­tur« (22) ent­stand mit der BRD eine Art »staats­ähn­li­ches Wesen« (Car­lo Schmid) und mit dem Grund­ge­setz »ein Pro­vi­so­ri­um von pein­li­cher Niveau­lo­sig­keit« (23), des­sen fili­gra­ne juris­ti­sche Auf­fä­che­rung in 146 Arti­kel nichts an dem fac­tum bru­tum ändern konn­te, daß ihm das Wesent­li­che fehlt: »Was aber das Gebil­de von ech­ter, demo­kra­tisch legi­ti­mier­ter Staat­lich­keit unter­schei­det, ist, daß es im Grun­de nichts ande­res ist als die Orga­ni­sa­ti­on einer Moda­li­tät der Fremd­herr­schaft; denn die trotz man­geln­der vol­ler Frei­heit erfol­gen­de Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on setzt die Aner­ken­nung der frem­den Gewalt als über­ge­ord­ne­ter und legi­ti­mier­ter Gewalt vor­aus.« (24)

Der Inhalt des Grund­ge­set­zes wur­de in sei­nen wesent­li­chen Zügen durch die West­al­li­ier­ten vor­ge­ge­ben, bevor der Par­la­men­ta­ri­sche Rat zu sei­ner Sit­zung zusam­men­trat: »We will be wri­ting – and not the ger­mans – their con­sti­tu­ti­on.« (25) Der Rechts­staat der Bun­des­re­pu­blik ist somit demo­kra­tisch nicht legi­ti­miert. Eben­so­we­nig gibt es irgend­ei­ne Grund­la­ge für den in der BRD – nicht nur unter Juris­ten – gepfleg­ten semi­re­li­giö­sen Ver­fas­sungs­kult, bei des­sen lit­ur­gi­scher Zele­brie­rung das Grund­ge­setz als eine Art säku­la­ri­sier­te Bibel behan­delt wird.

 

The­se 3: Hüter des Rechts­staats ist das 1951 in Karls­ru­he errich­te­te Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt. Unter sei­ner Ägi­de voll­zog sich ein schlei­chen­der Wan­del von einem for­mel­len zu einem mate­ri­al-wer­t­e­thi­schen Rechts­staat, in dem die Garan­tie der Frei­heits­rech­te des ­Indi­vi­du­ums in ein Wer­te­sys­tem trans­for­miert wur­de, das die pri­va­te und öffent­li­che Exis­tenz des Bür­gers nahe­zu lücken­los überformt.
Im Zuge die­ser Ent­wick­lung ver­flüs­sig­te sich die im Grund­ge­setz nie­der­ge­leg­te Ver­fas­sungs- und Rechts­staats­struk­tur in einen heu­te alle Lebens­be­rei­che beherr­schen­den tota­len Wertestaat. 

 

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt begrün­de­te – natur­recht­li­ches Mode­recht der Nach­kriegs­jah­re fort­füh­rend – schon in den 1950er Jah­ren eine Judi­ka­tur, die sich von den tra­di­tio­nel­len For­men juris­ti­schen Den­kens ver­ab­schie­de­te, um mit­tels einer wert­hier­ar­chi­schen Metho­de den Geset­zes­voll­zug in einen Wer­te­voll­zug zu ver­wan­deln. Im Lüth-Urteil von 1958 wur­de das wie folgt auf den Punkt gebracht: »Die Grund­rech­te sind in ers­ter Linie Abwehr­rech­te des Bür­gers gegen den Staat; in den Grund­rechts­be­stim­mun­gen des Grund­ge­set­zes ver­kör­pert sich aber auch eine objek­ti­ve Wert­ord­nung, die als ver­fas­sungs­recht­li­che Grund­ent­schei­dung für alle Berei­che des Rechts gilt.« (26)

Frei­heit gewähr­leis­tet die Ver­fas­sung der Bun­des­re­pu­blik danach »nicht mehr unbe­dingt im Wege recht­lich-for­ma­ler Aus­gren­zung, son­dern nur inner­halb der Wert­grund­la­ge der Ver­fas­sung; stellt sich jemand außer­halb die­ser Wert­grund­la­ge, liegt es in der Kon­se­quenz, daß er den Rechts­an­spruch auf poli­ti­sche Frei­heit ver­liert (Par­tei­ver­bo­te; Zugang zum öffent­li­chen Dienst)«. (27)

Die­se Kri­tik ist alles ande­re als ange­staubt: Auch und gera­de in der Wer­te­re­pu­blik der 2020er Jah­re, die uni­ver­sa­lis­tisch tickt und die nichts mehr haßt als freie Völ­ker und selbst­den­ken­de Indi­vi­du­en, ging und geht es mit­nich­ten um die Über­win­dung von Gegen­sät­zen. Es geht um einen poli­ti­schen Kampf neo­so­zi­al­dar­wi­nis­ti­schen Cha­rak­ters, bei dem der unter­lie­gen­de Teil, der ja Unwer­te zu ver­tre­ten sich ange­maßt hat, nicht auf Gna­de zäh­len kann.

Dem Sie­ger in die­sem rück­sichts­lo­sen bel­lum omni­um con­tra omnes winkt eine ganz beson­de­re Tro­phäe: Da es ande­re Wer­te nicht (mehr) gibt, insze­niert er sei­ne Wer­te als »Wer­te­ge­mein­schaft […], die frei­lich man­cher Ver­klei­dun­gen bedarf, um ihre Sinn­lo­sig­keit fei­er­lich schmü­ckend zu einem fest­li­chen Erleb­nis zu machen«. (28) Tat­säch­lich hat die Wer­te­dok­trin des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts eine »Theo­lo­gi­sie­rung des Grund­ge­set­zes« (29) bewirkt, in der die juris­ti­sche Sub­sum­ti­ons­tech­nik mehr und mehr von reli­gi­ös auf­ge­la­de­nen Sinn­bil­dern ver­drängt wurde.

Die Macht die­ser Wer­te­ver­ge­mein­schaf­tung hat sich seit­her ins Unend­li­che gestei­gert. In einem sol­chen mate­ri­al-ethi­schen, von gesin­nungs­exhi­bi­tio­nis­ti­schen Affek­ten zeh­ren­den Staat ist nach einer grif­fi­gen For­mel von Dimi­tri­os Kis­ou­dis »sou­ve­rän, wer die Stu­fen­lei­ter der Wer­te mit Inhal­ten füllt, wer sein Wert­füh­len so gel­tend machen kann, daß sich kaum jemand traut, etwas Unwer­tes dage­gen zu füh­len«. (30) Unter der Last die­ser Wer­te ist das Rechts­staats­ge­bäu­de zusam­men­ge­bro­chen und hat das Recht und die von ihm einst ver­bürg­te Ord­nung unter sich begraben.

 

The­se 4: Seit den 1960er Jah­ren wur­de die Idee des Rechts­staats all­mäh­lich über­la­gert durch das Dog­ma eines pater­na­lis­ti­schen ­Sozi­al­staats, des­sen Lebens­eli­xier dar­in besteht, den einen zu neh­men, um den ande­ren zu geben. In der Wild­nis die­ses Trans­fer-Dschun­gels mutier­ten die Frei­heits­grund­rech­te mehr und mehr zu anspruchs­getriebenen Teil­ha­be­rech­ten. Die Herr­schaft eines sol­chen Umver­tei­lungs­staats grün­det dar­auf, einer in die Mil­lio­nen gehen­den Zahl von Ali­men­te­emp­fän­gern die Eigen­ver­ant­wor­tung für ihr Leben abzu­neh­men. Schwin­det die­se Ver­tei­ler­macht auf­grund öko­no­mi­scher oder außen­po­li­ti­scher Kri­sen, wer­den der Sozi­al­staat und die in ihm noch ver­blie­be­nen Spu­ren­ele­men­te des Rechts­staats tief­grei­fend erschüt­tert werden. 

 

Um die Bedeu­tung des in den Artt. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG fixier­ten Sozi­al­staats­sat­zes wur­de schon in der frü­hen Bun­des­re­pu­blik hef­tig gerun­gen. Es gehört zur Iro­nie der deut­schen Staats­rechts­ent­wick­lung im 20. Jahr­hun­dert, daß aus­ge­rech­net Ernst Forst­hoff, der mit sei­ner Schrift Die Ver­wal­tung als Leis­tungs­trä­ger (1938) den Grund­stein für den Rund­um­ver­sor­gungs­staat gelegt hat­te und der sich 33 Jah­re spä­ter der Illu­si­on hin­ge­ben soll­te, durch per­ma­nen­te Stei­ge­rung des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts wer­de der moder­ne Indus­trie­staat sei­ner Ver­ant­wor­tung für die Daseins­für­sor­ge gerecht wer­den kön­nen (31), in den 1950er Jah­ren die grund­le­gends­te Kri­tik an der Idee des Sozi­al­staats for­mu­lie­ren sollte.

In sei­ner berühmt gewor­de­nen Kon­tro­ver­se mit Wolf­gang Abend­roth erin­ner­te Forst­hoff zunächst dar­an, daß »das Grund­ge­setz […] kei­nen spe­zi­fi­schen sozia­len Gehalt« hat. Unbe­scha­det der Berech­ti­gung ein­fach­ge­setz­li­cher Rege­lun­gen im Sozi­al­ver­si­che­rungs­recht, Arbeits­recht, Wohn­raum­miet­recht usw., stel­le sich die grund­sätz­li­che Fra­ge, »ob der Sozi­al­staat […] ein Bestand­teil unse­res Ver­fas­sungs­rechts ist, d. h. ob die Sozi­al­staat­lich­keit in der rechts­staat­li­chen Struk­tur der Ver­fas­sung auf­ge­gan­gen oder doch mit ihr zu einer Ein­heit ver­bun­den ist«. (32)

Forst­hoff warn­te früh­zei­tig vor der Trans­for­ma­ti­on von einem Frei­heits­rech­te nur gewähr­leis­ten­den Rechts­staat in einen Leis­tung gewäh­ren­den Sozi­al­staat. Es gebe einen gefähr­li­chen Zusam­men­hang zwi­schen der Geber­lau­ne von »Vater Staat« und des­sen Macht­a­van­cen gegen­über einer Schar von Kin­dern, von denen er sich wünscht, daß sie nie erwach­sen wer­den: »Die Ver­su­chung, wo man hilft, för­dert, unter­stützt, auch zu herr­schen, ist zu groß, als daß man ihr immer wider­ste­hen könn­te.« Der Sozi­al­staat flüch­te in die Ver­tei­ler­macht und erqui­cke sich dort an der »natür­li­chen Über­le­gen­heit, die der Geben­de über den Neh­men­den hat«.

Die­se War­nun­gen waren frei­lich in den Wind gespro­chen. Spä­tes­tens nach der Brandt-Wahl 1969 wur­den in der Bun­des­re­pu­blik hem­mungs­los alle Schleu­sen geöff­net, um den Betreu­ten – qua Umver­tei­lung, Geld­schöp­fung und einer mons­trös wach­sen­den Ver­schul­dung – das sozi­al­staat­li­che Man­na zu ver­ab­rei­chen und gleich­zei­tig »die ver­bor­ge­ne Herr­schafts­gier der Betreu­er« (33) zu befrie­di­gen. Die­se im Gewand der Rechts­staat­lich­keit daher­kom­men­de Bereg­nung mit Wohl­ta­ten hat den sozio­lo­gi­schen ­Typus eines fremd­be­stimm­ten Ein­zel­men­schen her­vor­ge­bracht, der nicht nur unmün­dig ist, son­dern sei­ne lear­ned hel­p­less­ness gera­de­zu monstranz­artig vor sich herträgt.

Nicht sel­ten tra­di­tio­nel­ler fami­liä­rer Bin­dun­gen ent­frem­det, über­ant­wor­tet sich ein sol­cher­art ato­mi­sier­tes Indi­vi­du­um dann der sozia­len Fell­pfle­ge durch einen Staat, des­sen Macht hier­durch ins Uner­meß­li­che zu wach­sen scheint. Nor­bert Bolz spricht zu Recht von einer »Reli­gi­on der sozia­len Gerech­tig­keit« (34), unter deren tota­ler Herr­schaft der Sinn für die essen­ti­el­len, den Bür­ger­sta­tus über­haupt erst kon­sti­tu­ie­ren­den Frei­heits­grund­rech­te weit­ge­hend abhan­den gekom­men ist. Denn nichts ist ­effi­zi­en­ter als die sub­til aus­ge­üb­te Macht der Geschen­ke, mit deren Ver­tei­lung der moder­ne Staat viel rigo­ro­ser herrscht als das Anci­en régime.

Dabei sind die Mata­do­re des bun­des­deut­schen Social engi­nee­ring spä­tes­tens seit der Schrö­der-Wahl 1998 dazu über­ge­gan­gen, das Objekt ihrer sozi­al­staat­li­chen Für­sor­ge suk­zes­siv aus­zu­tau­schen. Und so begibt es sich, daß bio­deut­sche Obdach­lo­se zu Aber­tau­sen­den bei Minus­gra­den schutz­los ­unter den Brü­cken eines mul­ti­kul­tu­rel­len Mus­ter­länd­les näch­ti­gen, das zur sel­ben Zeit soge­nann­te Asyl­be­wer­ber, kaum daß die­se einen Schritt über die vor­sätz­lich unge­si­cher­ten Gren­zen die­ser Repu­blik getan haben, mit dem gan­zen Füll­horn des Sozi­al­staats überschüttet.

Hier offen­bart sich in grel­lem Licht ein Staats­we­sen, das die Ver­bin­dung zu dem eins­ti­gen Sou­ve­rän, dem deut­schen Volk, voll­stän­dig gekappt hat, um als »tota­ler Migra­ti­ons­staat« (Dimi­tri­os Kis­ou­dis) (35) die Lebens­grund­la­gen der hier schon län­ger, aber bald nicht mehr hier Leben­den end­gül­tig zu zer­stö­ren. Man muß kein Pro­phet sein, um zu erken­nen, daß bei die­sem Pro­zeß der Rechts­staat eben­so unter­ge­hen wird wie der Sozialstaat.

 

The­se 5: Das Rechts­staats­prin­zip und die zu sei­ner Gewähr­leis­tung im Grund­ge­setz nie­der­ge­leg­ten Garan­tien wer­den seit lan­gem über­formt von den neo­feu­da­len Herr­schafts­an­sprü­chen der poli­ti­schen Par­tei­en. Anstatt sich ver­fas­sungs­ge­mäß dar­auf zu beschrän­ken, »bei der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung des Vol­kes [mit­zu­wir­ken]« (Art. 21 Abs. 1 GG), haben sie – unter Mit­hil­fe der von ihnen kon­trol­lier­ten meta­po­li­ti­schen Instan­zen (Medi­en, Uni­ver­si­tä­ten, Amts­kir­chen, Gewerk­schaf­ten, Kul­tur­be­trieb etc.) – den Klang­raum des Poli­ti­schen in der Bun­des­re­pu­blik nahe­zu lücken­los für sich oli­go­po­li­siert und ande­re Stim­men zum Schwei­gen gebracht. 

 

Die Kri­tik an der Ein­rich­tung der poli­ti­schen Par­tei und der ihr inne­woh­nen­den Catch-all-Gefrä­ßig­keit ist in Deutsch­land über 100 Jah­re alt. Schon Max Weber hat­te von den »Appro­pria­ti­ons-Par­tei­en« gespro­chen (36), also einer Orga­ni­sa­ti­ons­form, in deren Beu­te­sche­ma die gan­ze staat­li­che Sub­stanz lie­ge. Hein­rich Trie­pel ord­ne­te in sei­ner berühm­ten Rek­to­rats­re­de von 1927 die poli­ti­sche Par­tei ein als »eine extra­kon­sti­tu­tio­nel­le Erschei­nung«, die sich kra­ken­ar­tig über den Staat aus­brei­tet: »Die Par­tei­or­ga­ni­sa­ti­on greift den Par­la­men­ta­ris­mus von außen und innen an.

Sie bemäch­tigt sich des Wäh­lers und treibt ihn mehr und mehr in ihre Net­ze. Sie bemäch­tigt sich des Par­la­ments­ver­fah­rens in allen sei­nen Sta­di­en und Rich­tun­gen. […] Der Par­la­ments­be­schluß ist, wenn das Par­la­ment eine homo­ge­ne Mehr­heit besitzt, ein Par­tei­be­schluß, bei Par­tei­zer­split­te­rung ein Par­tei­en­kom­pro­miß. Der Abge­ord­ne­te ist nicht mehr ein Ver­tre­ter des Volks, son­dern ein Ver­tre­ter sei­ner Par­tei. Er fühlt sich als sol­cher und han­delt als sol­cher.« (37)

Nach­dem die Wei­ma­rer Repu­blik die­sen Machen­schaf­ten am Ende erle­gen war, soll­ten die nach­fol­gen­den zwölf Jah­re unter Beweis stel­len, daß auch der Ein­par­tei­en­staat nicht gegen die Defek­te des Mehrparteien­staats gefeit ist, ins­be­son­de­re in punc­to sozio­lo­gi­sche Nega­tiv­aus­le­se bei der Beset­zung lei­ten­der Posi­tio­nen (38)  und in bezug auf die fata­len Fol­gen einer Aus­ge­stal­tung als Welt­an­schau­ungs­par­tei. (39) Die Ver­su­che, die national­sozialistische Par­tei »ein­zu­rah­men« und jen­seits des Brau­nen Hau­ses dem Drit­ten Reich staat­li­che Kor­sett­stan­gen ein­zu­zie­hen, schei­ter­ten jeden­falls voll­stän­dig. Allein der Aus­bruch und der Fort­gang des Krie­ges, in des­sen Ver­lauf die Herr­schafts­an­sprü­che der Par­tei mehr und mehr über­la­gert wur­den von den im wesent­li­chen intak­ten Füh­rungs­struk­tu­ren der Wehr­macht, führ­ten dazu, daß in vie­len Fäl­len die ideo­lo­gisch befeu­er­ten All­machts­phan­ta­sien staats­fer­ner »Gold­fa­sa­ne« ein­ge­dämmt wer­den konnten.

Trotz die­ser vor­be­schrie­be­nen, in Wei­mar und im Drit­ten Reich durch zahl­lo­se Bei­spie­le erwie­se­nen Unge­eig­ne­t­heit der poli­ti­schen Par­tei für die nach­hal­ti­ge Siche­rung der Zukunft eines Vol­kes reüs­sier­te nach 1945, als sei nichts gesche­hen, die Par­tei­en­staats­dok­trin auf gan­zer Linie. Auf der Basis des »rüh­rend weltfremd[en]« (40) Art. 21 Abs. 1 Satz 1 des Bon­ner Grund­ge­set­zes (»Die Par­tei­en wir­ken bei der poli­ti­schen Wil­lens­bil­dung des Vol­kes mit.«) begann 1949 der lan­ge Weg der Bun­des­re­pu­blik in den heu­te wahr­haft tota­len Parteienstaat.

Anstatt das »Mit­wir­kungs­feld« gemäß Art. 21 GG mög­lichst eng, also vor allem beschränkt auf den Bezugs­rah­men von Par­la­ment und Regie­rung, abzu­ste­cken, erhob der Zwei­te Senat des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts die von den alli­ier­ten Besat­zungs­mäch­ten lizen­zier­ten poli­ti­schen Par­tei­en in Qua­si-Ver­fas­sungs­or­ga­ne. Ex nihi­lo wur­de in Karls­ru­he auf die­se Wei­se ein »Par­tei­en­staat des Grund­ge­set­zes« aus der Tau­fe geho­ben, der sich in der Fol­ge meta­sta­sen­haft in der poli­ti­schen Ord­nung der Bun­des­re­pu­blik aus­brei­ten sollte.

Die Par­tei­en haben sich auf die­se Wei­se von der auto­no­men Wil­lens­bil­dung des Vol­kes abge­kop­pelt, ja schlim­mer noch: sie bil­den »eine schall­schlu­cken­de Sty­ro­por­schicht, in der die Rufe der Wäh­ler ver­hal­len. Sie sind nicht Instru­men­te der Demo­kra­tie, son­dern Hin­der­nis bei der Umset­zung von Bür­ger­mei­nun­gen in poli­ti­sche Ent­schei­dun­gen«. (41) Die­se Exzes­se eines selbst­ex­tre­mis­ti­schen par­tei­po­li­ti­schen Cäsa­ris­mus haben sich zwi­schen­zeit­lich ins Uner­meß­li­che gesteigert.

 

The­se 6: Nach dem Zer­fall der bür­ger­li­chen Welt, die den Rechts­staat einst geschaf­fen hat­te, stellt sich die BRD heu­te dar als ein staats­ähn­lich orga­ni­sier­tes Machtag­glo­me­rat sui gene­ris. Des­sen vor­be­schrie­be­ne Aus­wüch­se haben eine »Ver­fas­sung hin­ter der Ver­fas­sung« geschaf­fen, in der essen­ti­el­le Bestand­tei­le des Rechts­staats bis zur Unkennt­lich­keit ver­stüm­melt wurden. 

 

Dazu nach­fol­gend – ohne jeden Anspruch auf Voll­stän­dig­keit – eini­ge ­signi­fi­kan­te Beispiele:

 

Das de jure gel­ten­de, unab­än­der­li­che (Art. 79 Abs. 3 GG) Gewal­ten­tei­lungs­prin­zip (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) ist auf­grund der Par­tei­en­all­macht de fac­to auf­ge­ho­ben. Da es aus­schließ­lich die poli­ti­schen Par­tei­en sind, die über die Beset­zung des Per­so­nals in Exe­ku­ti­ve, Legis­la­ti­ve und Judi­ka­ti­ve ent­schei­den, kann von dem viel­be­sun­ge­nen Checks-and-balan­ces-Sys­tem tat­säch­lich kei­ne Rede mehr sein.

Von dem maß­geb­lich von Locke und Mon­tes­quieu im 17. und 18. Jahr­hun­dert geschaf­fe­nen Gewal­ten­tei­lungs­sys­tem, des­sen Powers und Puis­sances noch kei­ne poli­ti­schen Par­tei­en im moder­nen Sin­ne kann­ten, ist heu­te nur noch eine blo­ße Hül­le zurück­ge­blie­ben. Rea­li­tät ist statt des­sen ein Gewal­ten­mo­nis­mus, eine von den Par­tei­en sorg­sam kaschier­te »Gewal­ten­ver­ei­ni­gung im Hin­ter­grund« (42), die jeg­li­che Kon­trol­le staat­li­cher Macht ins Lee­re lau­fen läßt.

Das Leis­tungs­prin­zip, nach dem »jeder Deut­sche […] nach sei­ner Eig­nung, Befä­hi­gung und fach­li­chen Leis­tung glei­chen Zugang zu jedem öffent­li­chen Amte [hat]« (Art. 33 Abs. 2 GG) gilt, jeden­falls bezo­gen auf die wich­ti­ge­ren Ämter in der BRD, schon lan­ge nicht mehr. Es gibt kaum sicht­ba­re, jedem in die Arca­na par­tei­en­staat­li­cher Eli­ten­bil­dung Ein­ge­weih­ten jedoch satt­sam bekann­te Lauf­bahn­hür­den, die man allein mit fach­li­chem Kön­nen nicht überwindet.

Ohne das rich­ti­ge, main­stream­kom­pa­ti­ble Par­tei­buch kann man in der Jus­tiz maxi­mal Vor­sit­zen­der Rich­ter am Ober­lan­des­ge­richt, bei der Bun­des­wehr maxi­mal Oberst­leut­nant, in Kran­ken­häu­sern öffent­li­cher Trä­ger­schaft maxi­mal Ober­arzt, in der Schu­le maxi­mal Ober­stu­di­en­rat und so wei­ter und so fort wer­den. Wer sich zu Höhe­rem beru­fen fühlt, ist gut bera­ten, die unge­schrie­be­nen Regeln der demo­kra­ti­schen Ämter­pa­tro­na­ge mög­lichst früh­zei­tig zu beachten.

Das Prin­zip der frei­en Wahl (Artt. 28 Abs. 1, 38 Abs. 1 GG) ist durch zahl­rei­che »Ein­fluß­nah­men« par­tei­en­staat­li­cher Ele­men­te noch nicht gänz­lich zer­stört, aber auf meh­re­ren Fel­dern nega­tiv beein­träch­tigt: De-fac­to-Besei­ti­gung des frei­en Abge­ord­ne­ten­man­dats durch impe­ra­ti­ves Man­dat und Fraktions-»Disziplin«, Benach­tei­li­gung oppo­si­tio­nel­ler Par­tei­en bei der staat­li­chen Finan­zie­rung (Par­tei­en­stif­tung), bei der Beset­zung par­la­men­ta­ri­scher Füh­rungs­äm­ter (Vize­prä­si­dent Bun­des­tag), bei der Ver­ga­be öffent­li­cher Hal­len zur Abhal­tung gesetz­lich vor­ge­schrie­be­ner Par­tei­ta­ge, Stig­ma­ti­sie­rung ihres Füh­rungs­per­so­nals durch die von Kon­kur­renz­par­tei­en domi­nier­ten Medi­en, Anwen­dung einer fili­gra­nen Vor­ver­bots­tech­nik durch den vom poli­ti­schen Wett­be­wer­ber beherrsch­ten soge­nann­ten Ver­fas­sungs­schutz (43), Bedro­hung ihrer demo­kra­tisch auf­ge­stell­ten Kan­di­da­ten (Pran­ger­wir­kung der vom poli­ti­schen Geg­ner beherrsch­ten Internet­foren, Nach­tei­le am Arbeits­platz, bei der Woh­nungs­su­che und so wei­ter und sofort).

Das Responsa­bi­li­täts­prin­zip nach Art. 65 Satz 1 GG, wonach »der Bun­des­kanz­ler […] die Richt­li­ni­en der Poli­tik [bestimmt] und […] dafür die Ver­ant­wor­tung [trägt]«, ist einem von par­tei­staat­li­chen Par­ti­ku­lar­in­ter­es­sen befeu­er­ten Prin­zip der orga­ni­sier­ten Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit gewi­chen: Erfolg rech­net sich jeder zu, für Mißer­fol­ge sind dage­gen immer die ande­ren oder bes­ser noch: ist nie­mand ver­ant­wort­lich: »Ist mir egal, ob ich schuld am Zustrom der Flücht­lin­ge bin. Nun sind sie halt da.« (Bun­des­kanz­le­rin Mer­kel am 22. Sep­tem­ber 2015)

 

Aus­blick

 

Ein Rechts­staat war und ist die BRD nur auf dem Reiß­brett, nur in bezug auf einen Grund­ge­setz­text, dem schon lan­ge die Anwen­dungs­wirk­lich­keit abhan­den gekom­men ist. Es herrscht ein – mas­sen­me­di­al von mor­gens bis abends gesin­nungs­ethisch ein­ge­peitsch­tes – Papier­for­mat der Frei­heit, das mit ech­ter Frei­heit­lich­keit nichts zu tun hat. In der »post­rechts­staat­li­chen Gesell­schaft« (44), in der wir leben und in der »Lega­li­tät nur noch als Gangs­ter­pa­ro­le ver­stan­den« (45) wird, bestim­men tat­säch­lich die Macht­phan­ta­sien davo­kra­ti­scher Mil­li­ar­därs­so­zia­lis­ten, die Geschäfts­me­tho­den nord­ka­li­for­ni­scher Inter­net­gi­gan­ten oder das in den Groß­städ­ten immer dreis­ter wer­den­de Auf­tre­ten aus­län­di­scher Clan­ban­den den Lebens­all­tag eines Durch­schnitts­deut­schen viel mehr als abge­ho­be­ne Ver­fas­sungs­idea­le und bun­des­deut­sche Gerich­te, die vor die­sen (und vie­len ande­ren) Herr­schafts­an­sprü­chen rechts(staats)feindlicher Ele­men­te schon längst ein­ge­knickt sind.

Soll­ten die Deut­schen noch beab­sich­ti­gen, das ihnen dro­hen­de Unter­gangs­schick­sal abzu­wen­den, wer­den sie nicht umhin­kom­men, die Rui­nen eines »unech­ten, künst­li­chen Rechtsstaat[s]« (46) abzu­räu­men und auch auf juris­ti­schem Feld noch ein­mal ganz von vor­ne anzu­fan­gen. Die rechts­ethi­schen Vor­aus­set­zun­gen hier­für sind unver­än­dert gege­ben; denn bei kei­nem Volk der Erde ist »die wich­tigs­te Quel­le poli­ti­scher Vita­li­tät, der Glau­be an das Recht und die Empö­rung über das Unrecht« (47), so ursprüng­lich erhal­ten wie bei den Deutschen.

– – –

(1) – Ernst Rudolf Huber: Reichs­ge­walt und Staats­gerichtshof, Olden­burg i.O. 1932, S. 65.

(2) – Ernst-Wolf­gang Böcken­förde: Arti­kel »Rechts­staat«, in: Joa­chim Rit­ter, Karl­fried Grün­der (Hrsg.): His­to­ri­sches Wör­ter­buch der Phi­lo­so­phie (HWPh), Bd. 8, Darm­stadt 2009, Sp. 332.

(3) – Wal­ter Leis­ner: »Rechts­staat – ein Wider­spruch in sich?«, in: Juris­ten­zei­tung (JZ) 1977, S. 537.

(4) – G. W. F. Hegel: Grund­li­ni­en der Phi­lo­so­phie des Rechts (1821), Ham­burg 2017, S. 237 (§ 257).

(5) – Horst Drei­er: Arti­kel »Rechts­staat«, in: Hans Jörg Sand­küh­ler (Hrsg.): Enzy­klo­pä­die ­Phi­lo­so­phie, Bd. 3, Ham­burg 2021, S. 2265.

(6) – Ebd.

(7) – G. W. F. Hegel: Über die Reichs­ver­fas­sung (1801), Ham­burg 2004, S. 69.

(8) – Rudolf Smend: Das Reichs­kam­mer­ge­richt. ­Ers­ter Teil, Wei­mar 1911, S. 161.

(9) – Her­bert Krü­ger: »Rechts­staat – Sozi­al­staat – Staat oder: Rechts­staat + Sozi­al­staat erge­ben noch kei­nen Staat«, in: ders. (Hrsg.): Ham­bur­ger Öffent­lich-recht­li­che Neben­stun­den, Bd. 29, Ham­burg 1975, S. 10.

(10) – Otto Brun­ner: Land und Herr­schaft – Grund­fragen der ter­ri­to­ria­len Ver­fas­sungs­ge­schich­te in Süd­ost­deutsch­land im ­Mit­tel­al­ter, Brünn et al. 1942, S. 148.

(11) – Her­mann Hel­ler: »Rechts­staat oder Dik­ta­tur« (1929), in: ders.: Gesam­mel­te Schrif­ten, Bd. 2, Lei­den 1971, S. 447.

(12) – Ebd., S. 448.

(13) – Zit. nach Her­bert ­Krü­ger: All­ge­mei­ne Staats­leh­re, Stutt­gart et al. 1966, S. 870 f.

(14) – Zit. nach Böcken­för­de: Rechts­staat,  Spal­te 333.

(15) – Ebd.

(16) – Wolf­gang J. Momm­sen: Max Weber und die deut­sche Poli­tik 1890 – 1920 (1959), Tübin­gen 21974, S. 420.

(17) – Win­fried Mar­ti­ni: ­Frei­heit auf Abruf – Die ­Lebens­er­war­tung der Bun­des­re­pu­blik, Köln / Ber­lin 1960, S. 155.

(18) – Ebd.

(19) – Wer­ner Weber: Span­nun­gen und Kräf­te im west­deut­schen Verfassungs­system (1951), Ber­lin 31970, S. 348.

(20) – Vgl. Jochen Lober: ­Beschränkt sou­ve­rän. Die Grün­dung der Bun­des­re­pu­blik als »West­staat« – alli­ier­ter Auf­trag und deut­sche Aus­füh­rung, Lüdinghausen/Berlin 2020, S. 56 ff.

(21) – Car­lo Schmid: »Was heißt eigent­lich Grund­ge­setz?«, Rede im Par­la­men­ta­ri­schen Rat am 8. Sep­tem­ber 1948; zit. nach Diet­rich Murs­wiek: »Grund­ge­setz für die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land. Kom­men­tar zur Über­schrift«, in: Kom­men­tar zum Bon­ner Grund­ge­setz (= Bon­ner Kom­men­tar), Ham­burg 1986, S. 6 f.

(22) – Ernst Rudolf Huber an Carl Schmitt im August 1949, in: Ewald ­Gro­the (Hrsg.): Carl Schmitt – Ernst Rudolf Huber, Brief­wech­sel 1926 – 1981, Ber­lin 2014, S. 351.

(23) – Forst­hoff an Carl Schmitt am 4. Novem­ber 1948, in: Doro­thee Muß­gnug, Rein­hard Muß­gnug, Ange­la Rein­th­al (Hrsg.): Brief­wech­sel Ernst Forst­hoff – Carl Schmitt 1926 – 1974, Ber­lin 2007, S. 48 f.

(24) – Car­lo Schmid: Was heißt.

(25) – Mili­tär­gou­ver­neur ­Luci­us D. Clay in einem Brief vom 9. April 1948, zit. nach Lober: Beschränkt sou­ve­rän, S. 32.

(26) – Urteil vom 15. Janu­ar 1958, Az.: 1 BvR 400/51 = BVerfGE 7, 198 ff., 205.

(27) – Böcken­för­de: Rechts­staat, Sp. 339.

(28) – Eber­hard Straub: Zur Tyran­nei der Wer­te, Stutt­gart 2010, S. 17.

(29) – Josef Schüßlb­ur­ner: »Altes Reich und poli­ti­sche Men­ta­li­tät der Deut­schen«, in: Cri­ticón 148 (1995), S. 203, 208.

(30) – Dimi­tri­os Kis­ou­dis: Was nun? Vom Sozi­al­staat zum Ord­nungs­staat, Wal­trop /Berlin 2017, S. 60.

(31) – Vgl. Ernst Forst­hoff: Der Staat der Industrie­gesellschaft, Mün­chen 1971.

(32) – Ebd., S. 66 f.

(33) – Hel­mut Schelsky: Der selb­stän­di­ge und der betreu­te Mensch, Stutt­gart 1976, S. 21.

(34) – Nor­bert Bolz: Das ­Wis­sen der Reli­gi­on. ­Betrach­tun­gen eines reli­gi­ös Unmu­si­ka­li­schen, Mün­chen 2008, S. 56.

(35) – Kis­ou­dis: Was nun?, S. 101.

(36) – Max Weber: Wirt­schaft und Gesell­schaft (1922), Tübin­gen 51976, S. 168.

(37) – Hein­rich Trie­pel: Die Staats­ver­fas­sung und die ­poli­ti­schen Par­tei­en, Ber­lin 1927, S. 13 f.

(38) – Dazu immer noch erschüt­ternd aktu­ell: Robert Michels: Zur Sozio­lo­gie des Par­tei­we­sens in der moder­nen Demo­kra­tie (1911), Stutt­gart 41989, ins­be­son­de­re S. 42 ff., 88 ff., 222 ff.

(39) – Vgl. dazu Wil­helm ­Hen­nis: Auf dem Weg in den Par­tei­en­staat, Stutt­gart 1998, S. 15 ff.

(40) – Hans Her­bert von ­Arnim: Die Hebel der Macht – Par­tei­en­herr­schaft statt Volks­sou­ve­rä­ni­tät, Mün­chen 2017, S. 246.

(41) – Ralf Dah­ren­dorf in Die Zeit vom 19. August 1988.

(42) – Wer­ner Weber: Span­nun­gen und Kräf­te,  S. 40.

(43) – Vgl. dazu Josef Schüßlb­ur­ner: Demo­kra­tie-Son­der­weg Bun­des­re­pu­blik. Ana­ly­se der Herr­schafts­ord­nung in Deutsch­land, Kün­zell 2004; ders.: »Ver­fas­sungs­schutz«. Der Extre­mis­mus der poli­ti­schen Mit­te, Steigra 2016; ders.: Schei­tert die AfD?, Steigra 2020.

(44) – Rolf Peter Sie­fer­le: Das Migra­ti­ons­pro­blem, Wal­trop / Ber­lin 2017, S. 114.

(45) – Carl Schmitt: Poli­ti­sche Theo­lo­gie II (1970), Ber­lin 21984, S. 113.

(46) – Flo­ri­an Mei­nel: Der ­Jurist in der indus­tri­el­len Gesell­schaft – Ernst Forst­hoff und sei­ne Zeit, Ber­lin 22012, S. 359.

(47) – Carl Schmitt: Poli­ti­sche Roman­tik (1919), Ber­lin 41982, S. 177.

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