Die Herrschaften hätten wissen können, was da auf sie zukommt. Als Thomas Müntzer am 13. Juli 1524 auf Schloß Allstedt vor Herzog Johann von Sachsen, dessen Sohn und einem kleinen Gefolge über die »Auslegung des andern Unterschieds Danielis, des Propheten« predigte, waren die scharf konturierten Positionen des Reformators längst bekannt.
Schon vor seinen nachmalig als Fürstenpredigt bezeichneten Ausführungen, die deutlich die Grenze vom rein theologisch Reflexiven zum praktisch Handlungsleitenden überschritten, hatte Müntzer an höchster Stelle entsprechend plädiert.
So hatte er bereits am 4. Oktober 1523 in einem Schreiben an Kurfürst Friedrich den Weisen, den Bruder Herzog Johanns, erklärt: »Wenn man es gelten läßt, daß das Evangelium mit menschlichen Geboten aufgehalten wird […] und man dabei die Worte des Mandats nicht förmlich exsequieren wird, so wird man das Volk irremachen, das die Fürsten mehr lieben als fürchten soll […]. Die Fürsten sind den Frommen nicht erschrecklich. Und wenn sich das ändert, so wird ihnen das Schwert genommen und dem inbrünstigen Volk zum Untergang der Gottlosen gegeben werden«.
Der Gedanke der Volkssouveränität klingt hier an, vor allem aber: Erfüllt die Obrigkeit ihre – für Müntzer biblisch-heilsgeschichtlich begründeten – Aufgaben nicht, so hat sie ihre Herrschaftslegitimation verloren. Er formulierte schließlich nicht nur ein Widerstandsrecht, sondern darüber hinaus eine Widerstandspflicht. Umfassend führte er seine Gedanken in der Fürstenpredigt aus. Der Reformator war zum Revolutionär geworden – und verlangte kompromißlos, ihm in dieser Haltung zu folgen.
Zwar war über die Rechtmäßigkeit des Tyrannenmordes bereits in der Antike diskutiert worden, doch bedeuteten Müntzers theologisch-theoretische Darlegungen einen Markstein im Rahmen der sich um 1500 vollziehenden Zeitenwende. Und er stand mit der Tat für seine Forderungen ein. Folgt man dem Historiker Eike Wolgast, so »sprengte« Müntzers Obrigkeits- und Widerstandslehre »alle üblichen Vorstellungen, weil sie nicht mehr von vorfindlichen Rechtszuständen ausging.« Darin sei ihr »singulärer Platz im umfangreichen Geflecht politisch-religiöser Widerstandslehren in der frühen Neuzeit begründet«.
Über die ersten dreißig Jahre von Müntzers Lebens liegen nur spärlich Informationen vor, oft kaum mehr als die örtlichen, häufig wechselnden Stationen. Geboren wurde er um 1490 in Stolberg im Harz, er studierte in Leipzig und Frankfurt (Oder). In Halle soll er, nach einer späteren Aussage unter der Folter kurz vor seinem Tod, ein »Verbündnis« gegen den Magdeburger Erzbischof initiiert haben, eine Angelegenheit, die ungeklärt geblieben ist. Nach der Priesterweihe bekam er 1514 eine Altarpfründe in Braunschweig. In Wittenberg hielt er sich zeitweise auf. Möglicherweise war er auch 1519 bei der Leipziger Disputation zwischen Martin Luther und Karlstadt einerseits sowie Joannes Eck andererseits zugegen.
Wie eng sein Verhältnis zu Luther war, muß offenbleiben, doch sprach er ihn noch 1523 mit »aufrichtiger Vater« an. Der Wechsel zu einer beiderseitigen tiefen Feindschaft muß recht abrupt erfolgt sein. Zunächst empfahl Luther Müntzer für Predigerstellen, etwa für eine Vertretung in Jüterbog. Hier liegen erstmals gesicherte Zeugnisse über die Art von Müntzers Wirken vor. Er predigte gegen die geistliche Gewalt des Papstes und griff das Gebaren des Klerus an. Seine Ausführungen gingen in ihren Folgerungen bereits weiter als Luther und dessen Wittenberger Umfeld.
Müntzer, der, was für seine Zeit eher selten war, neben Latein auch Altgriechisch und Hebräisch beherrschte, beschäftigte sich intensiv mit antiken Autoren, den Kirchenvätern und den Schriften der Mystiker. 1520 erhielt er eine Predigerstelle in Zwickau, womit er nun in einer bedeutenden Stadtgemeinde wirksam werden konnte. Nach Verwerfungen ging er nach Böhmen, schließlich nach Prag. Müntzer bezeichnete sich jetzt zunehmend selbst als »Knecht der Auserwählten Gottes«, das Apokalyptische sah er in seiner Gegenwart. In seinem Prager Manifest von 1521 beklagte er, »daß die unbefleckte, jungfräuliche Kirche bald nach dem Tode der Apostelschüler von den verführerischen Pfaffen zu einer Hure gemacht worden ist.«
Dagegen wollte er angehen: »Ich habe meine Sichel scharf gemacht, denn meine Gedanken sind heftig auf die Wahrheit«. Gerichtet an die Böhmen, erklärte er, wider die »Feinde des Glaubens zu fechten« und sie »zu Schanden« machen zu wollen, »denn in eurem Lande wird die neue apostolische Kirche angehen, danach überall«. Damit war der reformatorische Anspruch universell. Nachdem der »rechte persönliche Antichrist« regiert habe, werde Christus »in Kürze das Reich dieser Welt seinen Auserwählten« für immer übergeben.
Ende 1521 verließ Müntzer Prag, eine Phase der Wanderschaft schloß sich an. Die Selbstbezeichnung »williger Botenläufer Gottes« führte er spätestens seit dieser Zeit. Ostern 1523 übernahm er eine Predigerstelle an der Johanniskirche im kursächsischen Allstedt. Hier wirkte Müntzer bis zu seiner Flucht im August 1524. Es dürfte sich um die ertragreichste Periode seines Schaffens gehandelt haben. Gleich zu Beginn erfolgte eine Liturgiereform, das Evangelium vermittelte er in deutscher Sprache. Müntzers reformatorische Bestrebungen zeigten sich nicht nur in seinen Predigten, sondern etwa auch in der Gründung des Bundes zum Schutz des Evangeliums.
Weitere Vereinigungen, orientiert am alttestamentarischen Bundesgedanken, sollten entstehen. Sein Wirken stieß auf Widerstand. Müntzer fühlte sich bemüßigt, seine Lehre zu rechtfertigen, er verfaßte die Schriften Von dem gedichteten Glauben sowie Protestation oder Entbietung. Hohe Wellen schlug die Erstürmung und Zerstörung der Mallerbacher Wallfahrtskapelle am Gründonnerstag 1524. Anlaß war das hier praktizierte, nach Müntzer falsche Glaubensverständnis, er selbst war jedoch nicht beteiligt. Luther warnte nun vor seinem einstigen Anhänger, an die Fürsten von Sachsen verfaßte er einen Brief über den »aufrührerischen Geist«.
Wie es dazu kam, daß Müntzer am 13. Juli 1524 vor dem Bruder des Kurfürsten und dessen Gefolge auf Schloß Allstedt predigte – übrigens wohl nicht in der Kapelle, sondern der Hofstube –, muß wie so vieles im Leben Müntzers der Spekulation überlassen bleiben. Eine allgemeine, nicht aus aktuellem Anlaß konzipierte, systematische Ausarbeitung seiner Theologie und der sich daraus ableitenden Handlungsmaximen hat er nicht verfaßt. Stellvertretend bietet die Fürstenpredigt ein umfassendes Tableau seines Denkens, seiner Bestrebungen und die Begründung des von ihm postulierten Widerstandsrechts.
Akribisch durchsetzt sind die Darlegungen mit Bibelzitaten oder Hinweisen auf die entsprechenden Passagen, die ihm als Fundament seiner Argumentation dienten. Die Fürstenpredigt zielte noch klar darauf ab, die von ihm adressierte Obrigkeit für seine reformatorischen Bestrebungen zu gewinnen, wobei das Werben eher eine nachdrückliche Ermahnung an ihre Pflicht darstellte.
Zunächst erfolgt ein Blick auf die Lage. Das Ende der gegenwärtigen Welt, so Müntzer, stehe unmittelbar bevor. Der »armen elenden, zerfallenden Christenheit« sei »weder zu raten noch zu helfen« – ihre Erneuerung war sein zentrales Anliegen. Zwar habe Christus mit den Aposteln, und hier griff er den Gedanken aus dem Prager Manifest auf, »wohl eine rechte reine Christenheit angefangen«, aber »die faulen nachlässigen Diener derselben Kirche haben dies […] nicht vollenden und erhalten wollen. Deshalb haben sie den Schaden der Gottlosen – das ist das Unkraut – kräftig einreißen lassen.« Die Gottlosen stehen bei Müntzer den Auserwählten gegenüber, die er angesichts seiner apokalyptischen Erwartungen zu sammeln gedachte. Die »Gottlosen haben kein Recht zu leben, nur was ihnen die Auserwählten gönnen wollen«.
Das zweite Kapitel des alttestamentlichen Buches Daniel legte Müntzer seiner Predigt zugrunde. Der israelische Seher Daniel deutet hier den Traum des babylonischen Königs Nebukadnezar. Dieser hatte eine große Statue gesehen, auf die ein Stein »ohne Zutun von Menschenhänden« gefallen sei. Sie sei völlig zerstört worden, die Teile waren nicht mehr auffindbar. Der Stein sei zu einem großen Berg geworden, der »die ganze Welt füllte«.
Daniel erklärt, daß die Statue, den vier unterschiedlichen Materialien zufolge, aus denen sie bestand, das babylonische Reich und drei folgende Reiche symbolisiert habe. Nach dem Untergang des letzten Reiches werde »der Gott des Himmels ein Reich aufrichten, das nimmermehr zerstört wird«. Aus dem Daniel-Kapitel war die Vier-Reiche-Lehre entstanden, die Abfolge der Weltreiche der Babylonier, der Perser, der Griechen und der Römer.
Diese biblische Erzählung ist Müntzers Bild seiner Gegenwart, die er an einem Punkt unmittelbar vor der Zerstörung des letzten und dem Anbruch des Reiches Gottes sieht. Zur Bekräftigung unterscheidet er, entgegen der üblichen Lesart, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als fünftes vom Römischen Reich, wobei er sich auf Aussagen des Buches Daniel stützt, daß die Füße der Statue im Unterschied zu den anderen Teilen aus zwei Materialien bestanden, Eisen und Ton. Der Stein, der die Statue, also die Reiche zerschlägt und zum Berg wird, symbolisiert für Müntzer Christus, der in die Seele der Auserwählten dringt .
Mystische Frömmigkeit, Träume, Gesichte und Offenbarungen waren für Müntzer maßgeblich. »Es ist wahr […], daß der Geist Gottes jetzt vielen auserwählten und frommen Menschen offenbart, daß eine treffliche, unüberwindliche zukünftige Reformation dringend vonnöten ist«. Der göttliche Geist stehe über der Schrift, das Heil erwachse aus dem Geist, und dieser sei letztlich auch Urheber der Schrift und daher entscheidend. Müntzer setzte auf eine direkte Kommunikation zwischen Gott und Mensch. Paulus rede, so Müntzer in der Predigt, »vom innerlichen Wortezuhören in dem Abgrund der Seele durch die Offenbarung Gottes. Und welcher Mensch dessen nicht gewahr oder empfänglich geworden ist […] der weiß von Gott nichts gründlich zu sagen, auch wenn er gleich hunderttausend Bibeln gefressen hätte«.
Nach Müntzers Verständnis gilt es zunächst, die sündhafte Welt im Inneren zu überwinden. Da die bestehende äußere Welt vom – bisherigen – sündhaften Inneren geformt sei, werde sie vernichtet, und das Reich Gottes entstehe. Der neuen Konstellation im Inneren folge der politische und soziale Umbruch. Müntzer betont: »Die Furcht Gottes muß rein sein, ohne alle Menschen- oder Kreaturenfurcht«. Damit regelt sich auch das Verhältnis zu den Institutionen neu. In den Worten des Müntzer-Biographen Hans-Jürgen Goertz: »Die äußeren Ordnungen sind nicht objektiv gegebene Wesenheiten, sie haben keinen ontologisch begründeten Status, sondern sind das Ergebnis von Beziehungen, die Menschen zu ihnen eingehen – eben Verhältnisse.«
Daß sich die Heraufkunft des Reiches Gottes in der von ihm angenommenen Weise vollzieht, stand für Müntzer außer Zweifel. Das Mitwirken der Obrigkeit hielt er für unabdingbar, »[…] wie Christus es befohlen hat. Treibt seine Feinde von den Auserwählten, denn ihr seid die zuständigen Mittler […] gebt uns keine schale Fratze vor, daß die Kraft Gottes es ohne euer Zutun mit dem Schwert tun soll, es könnte euch sonst in der Scheide verrosten.« Um »die Gottlosen zu vertilgen«, sei »das Schwert nötig«. Sollten die Fürsten dem nicht nachkommen, »wird ihnen das Schwert genommen werden«. Diejenigen, die »Gottes Offenbarung entgegen« sind, solle man »ohne alle Gnade erwürgen«. Die Obrigkeit bezieht nach Müntzer ihre Legitimation aus der Erfüllung ihrer heilsgeschichtlichen Aufgabe. Wird sie der Aufgabe nicht gerecht, sind ihre Herrschaftsansprüche verwirkt.
Müntzer stellte sich mit dem von ihm ausgemachten Widerstandsrecht gegen Martin Luther, den er nun als »Bruder Mastschwein und Bruder Sanftleben« apostrophierte. Auch anderweitig waren deutliche Differenzen zutage getreten. So setzte Luther allein auf die Heilige Schrift und nicht auf Müntzers Verständnis von einem dem Ganzen übergeordneten, erfahrbaren Geist Gottes. Zudem vertrat der Wittenberger Reformator strikt die Zwei-Regimenter-Lehre der Unterscheidung von weltlichem Reich und Reich Gottes.
Müntzer hingegen war von der Idee der Einheit der Christenheit überzeugt. In der Frage des Widerstandes nun setzte Luther auf die geläufige Passage im Römerbrief des Paulus, die ersten beiden Absätze des 13. Kapitels: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit […]. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott […]. Wer sich nun der Obrigkeit widersetzt, der widerstrebt der Anordnung Gottes.«
Müntzer hatte weitergelesen und bewertete die beiden folgenden Absätze in seinem Sinne und entsprechend höher: »Denn vor denen, die Gewalt haben, muß man sich nicht fürchten wegen guter, sondern wegen böser Werke.« Die Obrigkeit »ist Gottes Dienerin, dir zugut. […] und vollzieht das Strafgericht an dem, der Böses tut.« Damit ist zugleich ihre Aufgabe definiert, an deren Erfüllung sie gemessen wird. Zudem bezog sich Müntzer auf einen Passus im 7. Kapitel des Daniel-Buches, wonach die Herrschaft »dem Volk der Heiligen des Höchsten« gegeben werde.
Müntzer, der sich selbst als Prophet betrachtete und sich den Fürsten durch seine Predigt als neuer Daniel, als Deuter empfehlen wollte, wurde enttäuscht. Allstedt mußte er drei Wochen später in Richtung Mühlhausen verlassen, wo er Mitbegründer des »Ewigen Bundes Gottes« war. Da sich die Fürsten seinem Werben versagt hatten, betrachtete er Bauern und Bürger der Städte nun als Träger seiner reformatorischen Intentionen.
In Nürnberg wurden seine letzten beiden Schriften, Ausgedrückte Entblößung des falschen Glaubens und die gegen Luther gerichtete Hochverursachte Schutzrede, gedruckt. Er wandte sich nach Süddeutschland, wo im Frühsommer 1524 der Bauernkrieg, die Revolution des Gemeinen Mannes, begonnen hatte. Im Februar 1525 wurde er an der Marienkirche in Mühlhausen angestellt. An der thüringischen Aufstandsbewegung war er führend beteiligt. Unter der Regenbogenfahne – als Zeichen des Bundes mit Gott – marschierte man am 15. Mai 1525 in Frankenhausen auf und wurde von den Truppen Philipp von Hessens grausam-kläglich geschlagen. Müntzer, der die Niederlage nicht mit der Rolle, die er im göttlichen Heilsplan einzunehmen glaubte, in Einklang zu bringen vermochte, wurde am 27. Mai 1525 geköpft.
Die religiöse Dimension, Müntzers vorrangiges Streben nach dem Reich Gottes verkennend, nahmen spätere linke und links-revolutionäre Bewegungen, dann insbesondere auch die DDR sein »Erbe« für sich in Anspruch, was zu einer bis heute spürbaren Marginalisierung des radikalen Reformators geführt hat. Auch wenn er im Kontext seiner Lebenswelt und seiner Epoche zu verstehen ist: Seiner grundsätzlichen – in seinem Fall biblisch unterlegten – Argumentation, daß eine Obrigkeit durch die Weigerung, ihrer Aufgabe nachzukommen, ihre Legitimation verliere, verbunden mit einem Widerstandsrecht, dürfte Zeitlosigkeit zukommen.