Stellen Sie sich vor, Sie gehen zu Ihrer Hausbank, anbei ein Koffer mit Bargeld im Wert von zwei Millionen Euro.
Den wuchten Sie auf den Tresen der nächsten freien Angestellten und sagen: »Das hier muß auf ein Konto in Mogadischu überwiesen werden, möglichst innerhalb der nächsten 15 Minuten«. Sie rauchen eine Zigarette, und dann händigt man Ihnen den Überweisungsnachweis aus. Das Ganze hat Sie vier Euro gekostet.
Diese Zahlen sind nicht aus der Luft gegriffen. In der ersten Aprilwoche 2024 waren vier Euro in der Regel ausreichend, um eine Bitcoin-Transaktion innerhalb von 15 Minuten auszuführen, unabhängig davon, wie groß die Menge war, die verschoben werden sollte. Für Ethereum, die zweitgrößte Kryptowährung, sehen die Zahlen ähnlich aus.
Verwende ich das Arbitrum-Netzwerk, eine auf Ethereum aufgesetzte »Layer 2 Blockchain«, verringert sich der Preis sogar auf den Bruchteil eines Cents. In beiden Fällen beträgt die Ausführungszeit nur ein paar Sekunden. Weniger benutzte Blockchains ermöglichen Transaktionen zu noch geringeren Gebühren und in noch schnellerer Ausführungszeit.
Worüber sprechen wir? Unter Blockchains versteht man die Technologie, auf der Kryptowährungen aufgebaut sind. Im Prinzip kann man sich eine Blockchain vorstellen wie ein öffentlich einsehbares, verteiltes Register, in das alle Transaktionen eingetragen werden. »Verteilt« oder auch »dezentral« bedeutet in diesem Fall, daß dasselbe Register von vielen Teilnehmern gleichzeitig geführt wird. Sie bündeln eingehende Transaktionen in Blöcken, die dann als Kette aufgereiht werden. Durch einen Konsensmechanismus wird gewährleistet, daß alle Teilnehmer exakt denselben Block als nächstes in die Kette eintragen. Kryptographische Sicherungsverfahren sorgen dafür, daß diese Blöcke nicht nachträglich verändert werden können. Dadurch wird ein hohes Maß an Fälschungssicherheit erreicht.
Die erste funktionierende Blockchain, Bitcoin, wurde 2009 von einem Kryptographen, der sich selbst Satoshi Nakamoto nannte, vorgestellt. Bis heute können wir nur spekulieren, wer sich hinter diesem Pseudonym verbirgt. 2015 gelang mit Ethereum der nächste Durchbruch. Ethereum ermöglichte es, beliebig programmierbare Geschäftslogiken, sogenannte Smart Contracts, auf der Blockchain zu hinterlegen. Sie bilden die Grundlage für die dezentrale Finanzwirtschaft (»DeFi«). Dadurch wurde es unter anderem möglich, Kryptowährungen zu erstellen, die etwa an den Preis des US-Dollar oder einer Unze Gold gekoppelt sind. Auf dezentralen Handelsplattformen, die ebenfalls auf Smart Contracts aufbauen, kann man problemlos eine Kryptowährung in eine andere umtauschen, ohne einen Identitätsnachweis erbringen zu müssen.
Dank der dezentralen Natur von Blockchains – da es keine einzelne Instanz gibt, welche das Netzwerk überwacht – ist es nicht möglich, Transaktionen zu zensieren. Dadurch bieten sich gerade für Dissidenten einige Vorteile. Da politisch unbequeme Personen leider auch in Europa immer häufiger von Bankdienstleistungen abgeschnitten werden, haben sie damit nicht nur die Möglichkeit, weiterhin digitale Zahlungen (beispielsweise Spenden) zu erhalten und zu versenden, sondern können auch in Finanzprodukte wie digitale Goldzertifikate investieren.
Als beispielsweise 2022 die kanadische Regierung als Reaktion auf die Anti-Impfpflicht-Proteste vielen Truckern ihre Bankkonten einfror, erwiesen sich Kryptozahlungen als ausgezeichnetes Mittel, mit dem durch Spenden der Freiheits-Konvoi unterstützt werden konnte. Spende oder Einkauf: Voraussetzung ist, daß beide Seiten mit Kryptowährungen arbeiten.
Da den auf Blockchains geführten Konten (»Wallets«) nur eine pseudonyme Adreßnummer zugeordnet wird, bieten Blockchain-Transaktionen auch ein gewisses Maß an Anonymität. Und wird die politische Situation so kritisch, daß man sich gezwungen sieht, aus dem Land zu fliehen, erweisen sich Kryptowährungen ebenfalls als nützlich. Beispielsweise läßt sich eine Hardware-Wallet – eine auf einem speziell gesicherten USB-Gerät gespeicherte Wallet – leichter transportieren und besser vor den Behörden verstecken als ein Goldbarren oder ein Bündel Bargeld oder eine Zahnbürste.
Im Gegensatz zu Bargeld existieren außerdem keine Obergrenzen für die Geldmenge, die man auf diese Weise mit sich führen kann. Zusätzlich erhält man beim Erstellen einer Wallet eine sogenannte mnemonische Phrase, bestehend aus meist zwölf englischen Wörtern, mit denen die Wallet von jedem Gerät aus wiederhergestellt werden kann. So etwas kann man auswendig lernen, und es ermöglicht einem im Zielland den Zugriff auf das hinterlegte Geld.
Ganz besonders zeigt sich die Vielseitigkeit der Blockchain-Technologie für Netz-Dissidenten darin, daß auch große Datenmengen wie Videodateien dezentral und damit zensurresistent gespeichert werden können. Beispielsweise suchte ich kürzlich nach einem bestimmten Video eines bekannten, gescheiterten Grunge-Musikers, das leider schon vor Jahren von YouTube gelöscht (sprich: zensiert) worden war. Ich fand es schließlich auf dem dezentralen sozialen Netzwerk Steemit.
Dort wurde es von einem unbekannten Dritten hochgeladen, und es ist extrem unwahrscheinlich, daß es jemals gelöscht oder verändert werden wird. Derzeit laufen mehrere Projekte, um das Lebenswerk des Aron P. auf YouTube und anderen Streaming-Plattformen wieder verfügbar zu machen, wobei vor allem auf dezentrale Speicherung gesetzt wird – entweder privat oder auf Blockchain-Basis.
Das Beispiel von Steemit zeigt auch, daß es praktisch unmöglich ist, Blockchains tatsächlich zu zensieren. Als 2020 der chinesische Unternehmer Justin Sun das Netzwerk feindlich übernahm, fürchtete die Steemit-Community genau dies. Eine Lösung war jedoch schnell gefunden: Da viele verschiedene Teilnehmer eine exakte Kopie der Blockchain mitsamt allen Beiträgen auf dem sozialen Netzwerk führten, konnte man einfach an einem vorher festgelegten Zeitpunkt die gesamte Blockchain teilen, einschließlich aller Kontostände, mit Ausnahme der Konten, die mit Justin Sun assoziiert waren. Die Community führt das Netzwerk bis heute dezentral verwaltet und ohne den Einfluß von Justin Sun unter dem Namen Hive weiter.
Solche »Forks«, also Abspaltungen von einer Ursprungs-Blockchain, zeigen, daß Blockchain-Technologie gelebter Dissens ist. Treffen die zuständigen Entscheidungsträger eines Blockchain-Projekts Entscheidungen, mit denen Teile der Nutzer nicht einverstanden sind, können sich diese jederzeit von dem Projekt abspalten und am selben Ausgangspunkt auf eigene Faust weitermachen. Man kann es sich in etwa so vorstellen wie ein fest einprogrammiertes Recht auf digitale Sezession.
Die Möglichkeiten dezentraler Technologien haben sich natürlich herumgesprochen. Es gibt zahlreiche Berichte von Dissidentengruppen aus aller Herren Länder, einschließlich sogar Nordkorea, für die Blockchain-Technologie heute unverzichtbar geworden ist. Mit Ausbruch des Krieges haben auch Rußland und die Ukraine, beide vormals eher Krypto-unfreundliche Länder, gemerkt, welches Potential gerade in Krisenzeiten in Blockchains und Kryptowährungen steckt.
Der Profi spricht aber, wenn er Bitcoin, Ethereum oder dergleichen meint, nicht von einer Währung, sondern von Tokens (»Wertmarken«). Ähnlich wie im Bierzelt, wo man Wertmarken erwirbt, um sie an der Theke gegen Speisen und Getränke einzutauschen, bekommt man für Blockchain-Tokens meist bestimmte Rechte eingeräumt. Um beispielsweise mit der Ethereum-Blockchain und den darauf befindlichen Smart Contracts Geschäfte zu tätigen, muß man einen kleinen Bruchteil eines Ethereum-Tokens (Tokens können auf bis zu 18 Nachkommastellen aufgeteilt werden) als Transaktionsgebühr abgeben. Der genaue Preis richtet sich dabei nach der Komplexität der Transaktion sowie der momentanen Auslastung der Blockchain.
Natürlich basiert der Handelspreis jedes Tokens, solange er nicht durch ein anderes Wertgut wie Gold oder den US-Dollar gedeckt ist, größtenteils auf Spekulation, wie eben alle Wertgüter in der Finanzbranche. Dennoch hat sich insbesondere Bitcoin, historisch betrachtet, als gute Wertanlage bewiesen. Derzeit (Stand: 18. April 2024) steht der Wechselkurs für Bitcoin nahe seinem Allzeithoch, welches nach seinem letztmaligen Höchststand im November 2021 erst im vergangenen März wieder geknackt wurde.
Anders ausgedrückt, hat beinahe jeder, der jemals Bitcoin gekauft und bis heute behalten hat, mittlerweile einen ordentlichen Investitionsgewinn zu verzeichnen. Ich möchte auch jede Wette halten, daß Bitcoin bis zur Auslieferung dieser Sezession-Ausgabe bereits wieder neue Höhen erreicht hat. Derzeit steht Bitcoin gerade ein neuer Konjunkturzyklus ins Haus, denn im April reduzierte sich die Emissionsrate von neugeschöpften Bitcoins um die Hälfte. Ähnlich wie das digitale Sezessionsrecht, welches im Fall von Bitcoin tatsächlich über einhundertmal beansprucht wurde (nur selten zu einem befriedigenden Ergebnis), ist auch dieses Ereignis in den Konsensmechanismus von Bitcoin fest einprogrammiert.
Das passiert etwa alle vier Jahre, derzeit zum vierten Mal, und bisher läutete es stets ein goldenes Jahr für Bitcoin ein, da die Nachfrage das Angebot überstieg. Danach folgte immer ein katastrophaler Sturz, gefolgt von einem Jahr leichten Anstiegs vor der nächsten Halbierung.
Schließlich sei noch angemerkt, daß es unzählige Fallstricke gibt, über die man leicht stolpert, wenn man sich als Greenhorn in den wilden Krypto-Westen wagt. Selbstverständlich zieht ein weitestgehend unregulierter und unregulierbarer Markt auch zwielichtige Gestalten an, und nicht wenige Anleger haben ihr Vermögen verloren, weil sie den Zugriff auf ihre Wallet verloren haben, gehackt wurden, auf einen Betrüger hereingefallen sind oder weil die Handelsplattform, auf der sie ihre Tokens geparkt haben, pleite gegangen ist.
Glücklicherweise sind diese Risiken überschaubar, wenn man sie kennt und sich darauf einstellt. Dazu sollte man sich allerdings frühzeitig mit der Materie beschäftigen und nicht erst dann, wenn einem Nancy Faeser das Bankkonto abgezwickt hat.