Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewußte

von Jörg Seidel --

Marxismus und Psychoanalyse haben nicht nur bemerkenswerte Ehen geschlossen und schmerzhafte Scheidungen vollzogen, sie haben auch eines gemeinsam:

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Die bei­den Groß­theo­rien des 20. Jahr­hun­derts sind »zur mate­ri­el­len Gewalt« gewor­den, haben die Welt wie kaum ein ande­res Den­ken grund­le­gend ver­än­dert. Die selt­sam ver­wor­re­ne und mensch­lich oft sehr ergrei­fen­de Geschich­te der Liai­son zwi­schen Bol­sche­wis­mus und dem »Freu­dis­mus« wird in Peter­sens popu­lär gehal­te­nem Buch in gro­ben Zügen nachgezeichnet.

Um die­se Geschich­te dem his­to­ri­schen oder aka­de­mi­schen Duk­tus zu ent­rei­ßen, wählt er die alt­be­währ­te Metho­de der Indi­vi­dua­li­sie­rung, er zeich­net also die Schick­sa­le ein­zel­ner Prot­ago­nis­ten nach – so ist Ein­füh­lung garan­tiert, der Lese­fluß gesi­chert, die Span­nung gewährleistet.

Es wer­den vier his­to­ri­sche Fel­der in Haupt­ka­pi­teln abge­steckt. Da sind zuerst die Buda­pes­ter und die Wie­ner Schu­le. Exem­pla­risch und bewe­gend das Schick­sal der Lil­ly Haj­du, einer begab­ten Anhän­ge­rin des Freud­schü­lers Sán­dor Feren­c­zi, die samt Fami­lie in die poli­ti­schen Wir­ren und den Irra­tio­na­lis­mus des Sta­li­nis­mus gerät, sich anzu­pas­sen ver­sucht und den­noch alles verliert.

Die­ses Erzähl­kon­zept nutzt Peter­sen mit jeweils ande­ren Akteu­ren. Etwa den Psy­cho­ana­ly­ti­kern in der Sowjet­uni­on, wo die Metho­de anfangs – vor allem in Form der The­ra­pie Alfred Adlers – gro­ße Erfol­ge fei­er­te und von Trotz­ki pro­te­giert wur­de. Aber genau das gereich­te ihr dann zum Nach­teil, als Sta­lins Säu­be­run­gen began­nen und in der Wis­sen­schaft admi­nis­tra­tiv Paw­low, Lys­sen­ko und ande­re Pseu­do­theo­re­ti­ker ver­ord­net wur­den, um den Sowjet­men­schen zu züch­ten. Die Ergeb­nis­se waren fatal und schu­fen mil­lio­nen­fa­ches Leid.

Auch die Bun­des­re­pu­blik – ihr gilt der drit­te Abschnitt – stand unter dem Stern der Wie­ner Theo­rie. Vor allem Alex­an­der Mit­scher­lichs Vor­wurf der »Unfä­hig­keit zu trau­ern« (so sein Erfolgs­ti­tel von 1967) amal­ga­mier­te sich bes­tens mit Kurt Lewins Gestalt­psy­cho­lo­gie und Grup­pen­dy­na­mik, der Re-Edu­ca­ti­on, der Kri­ti­schen Theo­rie, New-Age-Spi­ri­tua­li­tät etc. zur »Self-Re-Edu­ca­ti­on« und wirk­te tief und lang­fris­tig ins gesell­schaft­li­che Kli­ma hin­ein; es gab einen »tie­fen Umbruch in der Men­ta­li­täts­ge­schich­te der west­li­chen Moderne«.

Wenn wir heu­te etwa von »Mit­ge­stal­tung«, »fla­chen Hier­ar­chien«, »eman­zi­pier­tem Indi­vi­du­um« und von »Min­der­hei­ten« spre­chen, dann sind wir noch immer – ohne es oft zu wis­sen – Schü­ler die­ser Schu­len. Ohne die durch­grei­fen­de Psy­cho­lo­gi­sie­rung und The­ra­peu­ti­sie­rung der Gesell­schaft ist die links-grü­ne Hege­mo­nie nicht zu verstehen.

Ganz anders ver­lief die Geschich­te im Osten. Peter­sen betont auch die inne­re Dif­fe­renz zwi­schen den ein­zel­nen Län­dern des Ost­blocks. In der DDR oder in Jugo­sla­wi­en spiel­te die Tie­fen­psy­cho­lo­gie eine ganz ande­re Rol­le als etwa in den ost­eu­ro­päi­schen Län­dern. In Ost­deutsch­land wur­de mit den Apo­rien des Sta­li­nis­mus gerun­gen. An den Bio­gra­phien eines cha­mä­leon­ar­ti­gen Diet­fried Mül­ler-Hege­mann oder des Öster­rei­chers Wal­ter Hol­lit­scher, der eine Zeit­lang mit der DDR lieb­äu­gel­te, läßt sich das exem­pla­risch vor­füh­ren. Aller Oppor­tu­nis­mus und das Über­lau­fen zum ver­ord­ne­ten Paw­lo­wis­mus nütz­ten die­sen Män­nern nichts.

Über die Wis­sens­ver­mitt­lung und das his­to­ri­sche Reka­pi­tu­lie­ren hin­aus bie­tet das Buch zwei wich­ti­ge abs­trak­te­re Erkennt­nis­se. Es zeigt zum einen Hybris, Absur­di­tät und Dilet­tan­tis­mus jeg­li­cher Plan­wirt­schaft, das wah­re Gesicht des real exis­tie­ren­den Kom­mu­nis­mus, das vie­le Facet­ten hat und sich einer ein­di­men­sio­na­len his­to­ri­schen Bewer­tung ent­zieht, auch wenn die nega­ti­ven Fol­gen domi­nant sind.

Es lenkt zum ande­ren vor allem die Auf­merk­sam­keit dar­auf, daß Men­schen immer unter Ein­flüs­sen von gera­de popu­lä­ren Theo­rien und Denk­wei­sen ste­hen: »Die jewei­li­ge Kul­tur war das Fun­da­ment für die Rezep­ti­on der Ideen zur See­le, zur Psy­che und des Unbe­wuß­ten«. Ein solch bana­ler Satz soll­te nicht nur im geschicht­li­chen Nach­hin­ein ver­stan­den wer­den, son­dern es ist mensch­li­che Auf­ga­be im Hier und Jetzt, immer wie­der den Drauf­blick anzu­stre­ben, die Lösung wahr­zu­neh­men, in der wir schwim­men. Den Prot­ago­nis­ten die­ses ­Buches ist dies meist miß­lun­gen, mit tra­gi­schen Folgen.

Auch wenn Peter­sen im Grun­de nur bekann­tes Mate­ri­al auf­greift und pro­fes­sio­nell popu­lär prä­sen­tiert, und auch wenn eine Rei­he klei­ne­rer Schlud­rig­kei­ten stö­ren oder wei­te Berei­che des Fel­des nicht beackert wer­den, so hat er doch ein hoch­gra­dig les­ba­res, erhel­len­des, lehr­rei­ches, fak­ten­sat­tes Buch geschrieben.

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Andre­as Peter­sen: Der Osten und das Unbe­wuß­te. Wie Freud im Kol­lek­tiv ver­schwand, Stutt­gart: Klett-Cot­ta 2024. 349 S., 25 €

 

Die­ses Buck kön­nen Sie auf antaios.de bestellen.

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