Die beiden Großtheorien des 20. Jahrhunderts sind »zur materiellen Gewalt« geworden, haben die Welt wie kaum ein anderes Denken grundlegend verändert. Die seltsam verworrene und menschlich oft sehr ergreifende Geschichte der Liaison zwischen Bolschewismus und dem »Freudismus« wird in Petersens populär gehaltenem Buch in groben Zügen nachgezeichnet.
Um diese Geschichte dem historischen oder akademischen Duktus zu entreißen, wählt er die altbewährte Methode der Individualisierung, er zeichnet also die Schicksale einzelner Protagonisten nach – so ist Einfühlung garantiert, der Lesefluß gesichert, die Spannung gewährleistet.
Es werden vier historische Felder in Hauptkapiteln abgesteckt. Da sind zuerst die Budapester und die Wiener Schule. Exemplarisch und bewegend das Schicksal der Lilly Hajdu, einer begabten Anhängerin des Freudschülers Sándor Ferenczi, die samt Familie in die politischen Wirren und den Irrationalismus des Stalinismus gerät, sich anzupassen versucht und dennoch alles verliert.
Dieses Erzählkonzept nutzt Petersen mit jeweils anderen Akteuren. Etwa den Psychoanalytikern in der Sowjetunion, wo die Methode anfangs – vor allem in Form der Therapie Alfred Adlers – große Erfolge feierte und von Trotzki protegiert wurde. Aber genau das gereichte ihr dann zum Nachteil, als Stalins Säuberungen begannen und in der Wissenschaft administrativ Pawlow, Lyssenko und andere Pseudotheoretiker verordnet wurden, um den Sowjetmenschen zu züchten. Die Ergebnisse waren fatal und schufen millionenfaches Leid.
Auch die Bundesrepublik – ihr gilt der dritte Abschnitt – stand unter dem Stern der Wiener Theorie. Vor allem Alexander Mitscherlichs Vorwurf der »Unfähigkeit zu trauern« (so sein Erfolgstitel von 1967) amalgamierte sich bestens mit Kurt Lewins Gestaltpsychologie und Gruppendynamik, der Re-Education, der Kritischen Theorie, New-Age-Spiritualität etc. zur »Self-Re-Education« und wirkte tief und langfristig ins gesellschaftliche Klima hinein; es gab einen »tiefen Umbruch in der Mentalitätsgeschichte der westlichen Moderne«.
Wenn wir heute etwa von »Mitgestaltung«, »flachen Hierarchien«, »emanzipiertem Individuum« und von »Minderheiten« sprechen, dann sind wir noch immer – ohne es oft zu wissen – Schüler dieser Schulen. Ohne die durchgreifende Psychologisierung und Therapeutisierung der Gesellschaft ist die links-grüne Hegemonie nicht zu verstehen.
Ganz anders verlief die Geschichte im Osten. Petersen betont auch die innere Differenz zwischen den einzelnen Ländern des Ostblocks. In der DDR oder in Jugoslawien spielte die Tiefenpsychologie eine ganz andere Rolle als etwa in den osteuropäischen Ländern. In Ostdeutschland wurde mit den Aporien des Stalinismus gerungen. An den Biographien eines chamäleonartigen Dietfried Müller-Hegemann oder des Österreichers Walter Hollitscher, der eine Zeitlang mit der DDR liebäugelte, läßt sich das exemplarisch vorführen. Aller Opportunismus und das Überlaufen zum verordneten Pawlowismus nützten diesen Männern nichts.
Über die Wissensvermittlung und das historische Rekapitulieren hinaus bietet das Buch zwei wichtige abstraktere Erkenntnisse. Es zeigt zum einen Hybris, Absurdität und Dilettantismus jeglicher Planwirtschaft, das wahre Gesicht des real existierenden Kommunismus, das viele Facetten hat und sich einer eindimensionalen historischen Bewertung entzieht, auch wenn die negativen Folgen dominant sind.
Es lenkt zum anderen vor allem die Aufmerksamkeit darauf, daß Menschen immer unter Einflüssen von gerade populären Theorien und Denkweisen stehen: »Die jeweilige Kultur war das Fundament für die Rezeption der Ideen zur Seele, zur Psyche und des Unbewußten«. Ein solch banaler Satz sollte nicht nur im geschichtlichen Nachhinein verstanden werden, sondern es ist menschliche Aufgabe im Hier und Jetzt, immer wieder den Draufblick anzustreben, die Lösung wahrzunehmen, in der wir schwimmen. Den Protagonisten dieses Buches ist dies meist mißlungen, mit tragischen Folgen.
Auch wenn Petersen im Grunde nur bekanntes Material aufgreift und professionell populär präsentiert, und auch wenn eine Reihe kleinerer Schludrigkeiten stören oder weite Bereiche des Feldes nicht beackert werden, so hat er doch ein hochgradig lesbares, erhellendes, lehrreiches, faktensattes Buch geschrieben.
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Andreas Petersen: Der Osten und das Unbewußte. Wie Freud im Kollektiv verschwand, Stuttgart: Klett-Cotta 2024. 349 S., 25 €
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