ob woke oder nicht woke – das erscheint aber als zentrale Frage. Angesichts der Auseinandersetzungen über dieses Thema verwundert auch die zunehmende Zahl von Schriften in den letzten Monaten nicht. Stellvertretend ist auf die Autoren Esther Bockwyt, Susanne Schröter, Zana Ramadani und Peter Köpf hinzuweisen. Bereits als klassisch gilt die Abhandlung von David Goodhart (The Road to Somewhere, 2017), der paradigmatisch »Ortsmenschen« von »Überallmenschen« unterscheidet.
Vor einem solchen publizistischen Hintergrund mag man das bekannte Bonmot bemühen: Alles ist schon gesagt, nur nicht von jedem. Auf die erhellende Darstellung von Alexander Wendt paßt dieses Aperçu jedoch nicht. Der umtriebige Journalist, besonders als Mitarbeiter von Tichys Einblick bekannt, begnügt sich nicht mit Recherchen in der Sekundärliteratur oder mit Angaben aus dem Internet. Er möchte den omnipräsenten Debatten über Identitätspolitik, Cancel Culture, »Kritische Rassentheorie« auf den Grund gehen.
Dies geschieht am besten dadurch, daß man mit einigen bekannten Protagonisten spricht. Auf diese Weise läßt sich deren Sicht der Dinge ungefiltert präsentieren. Selbst der amtierende Bundeskanzler kommt zu Wort, den Wendt noch als Finanzminister auf einer Reise persönlich kennenlernen durfte, weiter der Klima-Aktivist Tadzio Müller.
Als Kritiker der Moralelite kann er auf eine lange Reihe von Vorläufern zurückblicken: von Friedrich Nietzsche bis zu Helmut Schelsky, Arnold Gehlen und Hermann Lübbe, die allesamt die »Gerichtshöfe der Moral« und ihre Hintergründe genauer unter die Lupe genommen haben. In deren Nachfolge analysiert Wendt die woken Ankläger akribisch. Selbst spart er indessen auch nicht mit Anklagen, etwa gegen linke Israelfeinde.
Der rote Faden seiner Darstellung liegt auf der Hand: den Gegensatz zwischen dem Versuch, die Gesellschaft in identitäre Raster einzuteilen, etwa nach Rasse, Geschlecht und Hautfarbe, und den universalistisch-liberalen Vorgaben einer am zentralen Gesichtspunkt der Gleichheit vor dem Recht ausgerichteten Bürgergesellschaft herausarbeiten. Besonders grotesk mutet es an, daß sich die vermeintlich Erwachten als Teil einer neuen Moralelite aufspielen. Ihre zumeist bodenständigen Gegner, die (wenigstens idealtypisch) Heimat, Familie und Religion schätzen, werden gern von oben herab verachtet.
Von den Gesprächen, die Wendt geführt hat und die in seine Erörterungen eingeflossen sind, ist besonders auf das mit dem Dramaturgen Bernd Stegemann zu verweisen. Dieser wurde einer breiteren Öffentlichkeit durch seine Aktivitäten in der (zusammen mit Sahra Wagenknecht ins Leben gerufenen) Bewegung »Aufstehen« bekannt. Noch heftigere moralistische Anfeindungen erfuhren die Biologin Marie-Luise Vollbrecht wegen ihrer Ablehnung der üblicherweise genannten bunten Geschlechtervielfalt und der Münchner Kommunikationswissenschaftler Michael Meyen. Diesen verdonnerte sein Dienstherr wegen seiner kurzen Mitarbeit an einer sogenannten Querdenker-Zeitung im Rahmen eines Disziplinarverfahrens zu einer Gehaltskürzung. Als weiteres Opfer des Moralfurors gilt der Historiker Egon Flaig.
Den neuen Stammesidentitäten stellt Wendt das Ideal der Bürgerlichkeit entgegen, das er vielleicht ein wenig zu sehr verklärt. Sein Credo über Civis, Citoyen und Bürger formuliert er in zwölf Leitsätzen. Der Staat habe dem Bürger zu dienen, nicht umgekehrt. Am Ende der Schrift werden Möglichkeiten für einen provisorischen Frieden zwischen beiden Lagern ausgelotet. Verachtung nach unten belegt abermals: Wendt zählt zu den wichtigsten Zeitkritikern im nichtlinken Lager.
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Alexander Wendt: Verachtung nach unten. Wie eine Moralelite die Bürgergesellschaft bedroht – und wie wir sie verteidigen können, Reinbek: Lau Verlag 2024. 372 S., 26 €
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